Text, Video und Audio von Br. David Steindl-Rast OSB
«O dieses Tier, das es nicht giebt.
Sie wusstens nicht und habens jeden Falls
‒ sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals,
bis in des stillen Blickes Licht ‒ geliebt.Zwar w a r es nicht, Doch weil sie’s liebten, ward
ein reines Tier. Sie ließen immer Raum.
Und in dem Raume, klar und ausgespart,
erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaumzu sein. Sie nährten es mit keinem Korn,
nur immer mit der Möglichkeit, es sei.
Und die gab solche Stärke an das Tier,dass es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.
Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei ‒
und war im Silber-Spiegel und in ihr.»Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, IV
Mit diesem Sonett kommen gleich zwei grundlegende Themen ins Blickfeld, deren Beachtung unser Verständnis von Rilkes Werk erleichtern kann.
Das erste ist Dichtung. Das zweite ist Religiosität, also die Ergriffenheit vom Großen Geheimnis des Seins, im Unterschied zu den Religionen.
Diese beiden Themen ziehen sich eng miteinander verwoben durch die Sonette an Orpheus. Wir wollen die beiden gleich hier am Anfang unserer Betrachtung kurz ins Auge fassen.
Zunächst Dichtung. Worum geht es denn beim Dichten überhaupt?
Schon der erste Satz dieses Sonetts weist darauf hin, denn er hat nur im Raum der Dichtung Sinn:
«Dieses ist das Tier, das es nicht giebt.»
Ist das nicht reiner Widerspruch, purer Unsinn? Was es nicht gibt, ist eben nicht wirklich. Ja, es ist unwirklich für alle, denen nur das Handgreifliche als wirklich gilt. Und leider sind das zu viele unter uns. Denen aber stellt der Dichter gleich all jene gegenüber, deren Verständnis der Wirklichkeit noch nicht so eingeengt war, wie das unsrige es geworden ist.
«Sie», das sind die Schöpfer der berühmten Einhorn-Wandteppiche, die Rilke zu diesem Sonett angeregt haben. Aber «sie» sind auch alle Kinder, bevor man ihnen das Dichten austreibt.
«Sie wußtens nicht» ‒
wussten nicht, dass es (angeblich) nicht gibt, was es in einer halbblinden Welt wie der unsrigen nicht geben darf. Jedoch das Kind in allen von uns weiß um die Wirklichkeit von vielem,
«das es nicht giebt» ‒
das es für den verengten Blick nicht gibt.
«Ist die Kindheit, die tiefe, versprechliche, in den Wurzeln ‒ später ‒ still?»
(Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XXVII),
fragt der Dichter. Nein. Das Kind in uns schläft nur «bei den Wurzeln» (Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XIV).
Dichtung will dieses Kind in uns wieder aufwecken. Es will ja aufwachen, weil unsere Kindheit zu kurz war, um das Kind zu werden, das wir eigentlich sind. Auch das Kind in dir dichtet und liebt das Einhorn.
«Zwar w a r es nicht. Doch weil sie’s liebten, ward
ein reines Tier.»
Nicht, dass sie es eigenwillig erfanden, sagt der Dichter hier, sondern es «ward».
«Sie ließen immer Raum.
Und in dem Raume, klar und ausgespart,
erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum
zu sein.»
Dieses Raumlassen ist das Wichtigste am Dichten. Denken wir nur an den «Zwischenraum» von Christian Morgensterns «Lattenzaun»[1], oder an den Vers von Joachim Ringelnatz: «Die Löcher sind das Wichtigste am Sieb.»[2]
Rilke nennt «Spiegel» die «wie mit lauter Löchern von Sieben erfüllten Zwischenräume der Zeit» (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, III).
Das Raumlassen bei Dichtung äußert sich als ein Hinhorchen auf Möglichkeit. Möglichkeit ist hier das entscheidende Wort. Für tiefes Hinhorchen kann alles Mögliche und Un-mögliche Wirklichkeit werden. Dann beginnt es zu wirken und zeigt, dass die Möglichkeit ungeheure Wirkkraft hat.
Die pure «Möglichkeit, es sei»,
«gab solche Stärke an das Tier,
daß es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.»
Damit steht «das Tier, das es nicht giebt» in aller Wirklichkeit vor uns – in gedichteter Wirklichkeit.
Die beiden letzten Zeilen des Sonettes spielen nun auf das mythische Einhorn an und verweisen auf unser zweites Thema: Religiosität.
Sie ist sozusagen die unterirdische Wasserader, aus der die verschiedenen Religionen in ihren verschiedenen Brunnen Wasser schöpfen. So unterschiedlich auch die Brunnen sein mögen, aus allen fließt das eine Wasser.
Diese uns Menschen angeborene Religiosität
ist unsere Fähigkeit,
vom Großen Geheimnis des Seins berührt zu werden.
Wenn uns dies in Gipfelerlebnissen und anderen Augenblicken höchster Lebendigkeit vom Leben geschenkt wird, dann spüren wir den Drang, es anderen mitzuteilen, obwohl es jenseits von allem Begreifen liegt.
Wir können es zwar verstehen, wenn es uns ergreift, können es aber nicht durch Worte und Begriffe in den Griff bekommen. In dieser Ergriffenheit setzt die mythische Aussage ein. Sie ist ein Dichten, das den tiefsten Einsichten des menschlichen Herzens erlaubt, durch Worte zu wirken, bei denen freilich immer mitschwingt, dass sie nur Bilder sind aus der Erfahrung mystischer Wirklichkeit.
Das Einhorn war im Mittelalter ein solches mythisches Bild des Christus. Jesus und sein Lebenslauf sind geschichtliche Wirklichkeit. Die Sinnfülle aber, die mit Christus gemeint ist, gehört dem Bereich des Mythos an.
Rilke verwehrt sich in diesem Zusammenhang allerdings ausdrücklich dagegen, den Einhorn-Mythos hier im christlichen Sinn zu verstehen.[3] Er schöpft aus der allgemein menschlichen Religiosität. Aus der hat selbstverständlich auch die christliche Religion ursprünglich geschöpft, aber ihre Ausdrucksweise ist heute für viele von uns nicht mehr wirksam. Rilke leistet uns also hier einen unschätzbar wichtigen Dienst: Er verleiht der Religiosität eine für unsre Zeit gemäße Sprache. So macht er auch die tiefe Wirklichkeit, die hinter dem Einhorn-Mythos steht, auf neue Weise wirksam.
Auf der Bewusstseinsstufe mittelalterlicher Menschen war diese Bildersprache unmissverständlich: Das Einhorn – nämlich Christus – kommt vom Himmel her zur jungfräulichen Mutter Maria, wird «in ihr» empfangen und aus ihr geboren. Nur eine «reine Jungfrau» kann «ein reines Tier» wie Einhorn zähmen – ähnlich wie der kleine Prinz[4] den Fuchs «zähmt» –, indem sie ihm sein Bild «im Silberspiegel» zeigt.
Dieses Spiegeln drückt der Dichter E. E. Cummings mit den Worten aus:
«Ich bin durch dich so ich.»[5]
Den uns heute zugänglichen Mythos, den Rilke nahelegt, könnte man sich so vorstellen:
Das jungfräulich empfängliche Herz
öffnet sich in Liebe und spart so den Raum aus,
in dem das Geheimnis des Seins Wirklichkeit werden kann.
Und dies ereignet sich Augenblick für Augenblick als immer neues unerschöpfliches Geschenk des Lebens.
Alexandra Kreuzeder: Du schreibst von mystischen Erlebnissen und mythischen Bildern. Worin siehst du den Unterschied zwischen mystisch und mythisch?
Bruder David: Also, kurz gesagt:
Das Mystische gehört zur Religiosität
und drückt sich in der Religion mythisch aus.
Die typischen Erlebnisse von Mystikern, also mystische Erlebnisse,
sind Augenblicke tiefer Ergriffenheit,
in denen wir etwas vom innersten Geheimnis des Lebens erahnen.
Was uns da bewusst wird, ist unaussprechlich, weil wir es nicht «be-greifen» können. Es macht uns sprachlos. Wir können es jedoch «einsehen».
Auf diese mystischen Einsichten des menschlichen Herzens
kann nur eine Sprache hindeuten,
die dichterisch ist.
Wenn sie das ist, dann entsteht ein Mythos.
Die Mythen der Menschheit und mythische Elemente im Werk großer Dichter haben dies gemein: Sie weisen durch Bilder auf Unsichtbares hin, durch Worte auf Unaussprechliches.
Rilke verwendet in den Sonetten, die wir hier betrachten, aufs Neue den uralten Mythos von Orpheus.
Alexandra: In diesem Sonett geht es aber nicht um den Orpheus Mythos, sondern um ein anscheinend mythisches Bild, um das Einhorn.
Bruder David: Über den Einhorn-Mythos schreibt Rilke in den «Anmerkungen des Dichters zu den Sonetten an Orpheus»[6], die er ja selber dem Gedichtzyklus am Ende anfügt:
«Das Einhorn hat alte, im Mittelalter immerfort gefeierte Bedeutungen der Jungfräulichkeit: daher ist behauptet, es, das Nicht-Seiende für den Profanen, sei, sobald es erschiene, in dem ‹Silber-Spiegel›, den ihm die Jungfrau vorhält und ‹in ihr›, als in einem zweiten ebenso reinen, ebenso heimlichen Spiegel.»
Und er fügt noch in Klammer an: «(siehe: Tapisserien des XV. Jahrhunderts)».
Rilke war tief beeindruckt von dieser Serie von sechs Wandteppichen «Die Dame mit dem Einhorn» im Musée de Cluny in Paris.
Schon fast zwei Jahrzehnte vor den «Sonetten an Orpheus» schrieb er sein Gedicht «Das Einhorn»[7]. Es gibt das Gesehene wieder, etwa in diesen Versen:
«Der Beine elfenbeinernes Gestell
bewegte sich in leichten Gleichgewichten,
ein weißer Glanz glitt selig durch das Fell,
und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten,
stand, wie ein Turm im Mond, das Horn so hell,
und jeder Schritt geschah, es aufzurichten.»
Alexandra: Das ist so elegant beschrieben, und unser Sonett geht über das Gesehene noch weit hinaus.
Bruder David: In dem frühen Einhorn-Gedicht spricht Rilke von innerlich Erlebtem, als ob es Wirklichkeit wäre. Von der Wirklichkeit sagt er bescheiden:
«Die Wirklichkeit ist immer mehr als unsere Vorstellung von ihr ...
Sie ist immer Welt und uns immer voraus!»[8]
Alexandra: Dann nennst du also auch das Einhorn «Wirklichkeit»?
Bruder David: Ja, hier wird es dichterische Wirklichkeit.
Alexandra: Wir sehen es auch in unserem Sonett ganz wirklich vor uns,
«sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals,
bis in des stillen Blickes Licht.»
Bruder David: Und «weil sie’s liebten», ward es so wirklich.
Alexandra: Wie einfach dieser kurze Satz auf die Kraft der Liebe hinweist.
Bruder David: Ja, die Liebe gibt sowohl der Dichtung wie der Religiosität ihre Kraft.
Alexandra: Was der Dichter hier wohl meint, wenn er das Einhorn «ein reines Tier» nennt?
Bruder David: Wir werden sicher noch öfter auf das Wort «rein» stoßen. Es spielt bei Rilke eine wichtige Rolle. Wenn er es so, geradezu feierlich, verwendet, weist es immer auf die Ganzheit des Seins hin. Das Einhorn ist hier sozusagen die Zusammenfassung des Tier-Seins überhaupt.
Alexandra: Und wie verstehst du den «Silber-Spiegel»?
Bruder David: Dass der Spiegel aus Silber ist, stellt hier nichts Geheimnisvolles dar. Im Mittelalter gab es noch keine Glasspiegel. Rilke hätte auch einfach Spiegel sagen können. Aber horch dir nur die Zeile an, in der er den «Silber-Spiegel» erwähnt: «und war im Silber-Spiegel und in ihr».
Alexandra: Durch ihre vielen i-Laute wird sie ungeheuer ein-dringlich.
Bruder David: Ja, eindringlich im Vollsinn des Wortes: Sie dringt in uns ein. Als Ende und Höhepunkt macht sie dieses Sonett besonders eindringlich.
[Quelle: David Steindl-Rast und Alexandra Kreuzeder: HerzWerk: Freude finden mit Rainer Maria Rilkes ‹Sonette an Orpheus› (2025): ‹O dieses ist das Tier, das es nicht giebt› (II,4): ‹Dichtung und Religiosität›, 15-22; siehe auch Leseprobe]
[Ergänzend:
1. Video und Audio
1.1. Das Video in Buchpräsentation HerzWerk (2025):
(36:25) Die Dichtung breitet sich wie ein Feierkleid über die sinnenden Dinge (Mir zur Feier: ‹Vor lauter Lauschen und Staunen sei still›) / (54:11) Das Video endet mit dem ersten Sonett im Buch ‹O dieses ist das Tier, das es nicht giebt› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, IV)
1.2. TAO der Hoffnung (1994)
Audio: ‹Den Frieden hinterfragen›:
Vortrag:
(34:32) Das Kind in uns pflegen – Die Vorstellungskraft in uns wecken – Wir können uns den Frieden vorstellen / (36:48) ‹O dieses ist das Tier, das es nicht giebt› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, IV)
2. Texte
2.1. Der spirituelle Rilke (2025): Josef Bruckmoser über das Buch HerzWerk:
«Rilke sehnte sich danach, das gemeinsame religiöse Grundwasser in allen Religionen zu entdecken. Er wollte in seinem Herzen diejenige Stelle finden und beleben, ‹die mich in Stand setzen würde, in allen Tempeln der Erde mit der gleichen Berechtigung das jeweils dort Größeste anzubeten.›»
2.2. Jeder Mensch ist darauf angelegt, Mystiker zu sein (2020): Interview mit Bruder David von Evelin Gander:
«Das Grundwasser, das die Brunnen der Religionen speist, ist die uns Menschen angeborene mystische Begabung. Aus dieser Begabung entspringt unsere tiefe Sehnsucht, das große Geheimnis persönlich zu erfahren. Wir können diese Lebensaufgabe vergessen, vernachlässigen oder unterdrücken, aber unsere volle menschliche Entfaltung hängt davon ab, dass wir unsere mystische Veranlagung pflegen und alles, was wir tun, mit Ehrfurcht tun, weil alles, was wir erleben, letztlich eine Begegnung mit dem großen Geheimnis ist, das wir auch ‹Gott› nennen dürfen – aber mit Vorsicht, weil dieses Wort so oft mit falschen Gottesvorstellungen belastet ist, wie die von Ihnen angeführten.»
2.3. Bruder David in seinem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): ‹Geboren aus Maria der Jungfrau›, 94; siehe auch Jetzt und ewiges Leben: Anm. 1f.:
«Die dichterische Vorstellungskraft der frühen Christen sah im Jungfrauenschoß, aus dem der neue Adam geboren wird, ein Spiegelbild der jungfräulichen Erde, aus welcher der alte Adam im Paradies geformt wurde. In beiden Bildern bedeutet Jungfräulichkeit einen taufrischen Neubeginn. So wie ein Skifahrer durch ‹jungfräulichen› Pulverschnee die erste Spur zieht, so bahnt Jesus einen ganz neuen Weg zu Gott. Das ist die entscheidende Aussage dieses Glaubenssatzes.» (94)
«Und du? Nimmst du dir manchmal Zeit, zu unterbrechen, was immer du tust, und tief zu atmen? Die Welt braucht unser bewusstes Bemühen, immer wieder aus der Zeit ins Jetzt zurück zu kommen und uns in jungfräulicher Empfänglichkeit dem Heiligen Geist zu öffnen.» (101)
2.4. Sinne und Sinnlichkeit im Buch Das spirituelle Lesebuch, hrsg. von Margrit und Rüdiger Dahlke (1996), 269-271; Quelle: Die Achtsamkeit des Herzens: ‹Der Dreischritt des horchenden Herzens› (2021), 36-39; siehe auch in Sehen ‒ schöpferisches Schauen
«Die Augen der Liebe sehen, was es noch gar nicht gibt, weil das Schauen des Herzens ein schöpferisches Schauen ist. Wir meinen, die Liebe sei blind. Aber sie drückt nur ein Auge zu, dem Kind zuliebe, wie eine Mutter. Mütter übersehen gern vieles, um des Einen willen, das noch seine Möglichkeit ist.
Und wer so angeschaut wird, der wächst in diese Möglichkeit hinein. Das Herz hat die Augen einer Mutter.
Gerade deshalb aber hat das Herz auch jungfräuliche Augen.
Es ist noch offen für unbegrenzte Möglichkeiten.
Nur die Augen der Jungfrau können das Einhorn sehen, ‹das Tier, das es nicht giebt›, wie die Gobelinstickerinnen in Rilkes Sonett.
So schöpferisches Schauen ist Vollendung, nicht Anfängerübung. Wir dürfen nicht erwarten, das Einhorn zu sehen, wenn wir uns nicht einmal einen Laufkäfer gründlich anschauen, der uns über den Weg läuft. Das Schillern seines Panzers hatte ich schon lange bewundert. Aber erst eine Bemerkung von C. S. Lewis hat mir die Augen geöffnet für das irgendwie Altmodisch-Komische dieses langbeinigen Geschöpfes, das alle beweglichen Bestandteile außen hat, wie eine Eisenbahnlokomotive aus dem vorigen Jahrhundert.
Aber, um so etwas zu bemerken, müssen wir uns Zeit lassen.
Es genügt nicht, dem kaum Beachteten schnell eine Bezeichnung zu geben, es sozusagen mit einer Inventarnummer abzufertigen.
Wir müssen anschauen, was uns unterkommt.
Die Sinnschau des Herzens beginnt mit dem genauen Hinschauen der Augen.»
2.5. Bruder David in seinem Buch Musik der Stille (2023), 8 und 11; siehe auch in Engel:
«Was auch immer zum tiefsten Herzen eines Menschen spricht, ist Engelsbotschaft. In der gütigen Hand, die ihnen übers Haar streicht, können Kinder die Berührung eines Engels spüren. Aug' in Auge mit einem Tier, können wir dem Blick eines Engels begegnen. Ja, manchmal springen Engel sogar aus dem Gebüsch hervor als Kinder, die uns lachend erschrecken wollen, und uns dann umso fester umarmen. Das Einzige, was wir von Engeln mit Sicherheit aussagen können, ist, dass sie völlig unberechenbar sind ‒ wie alles wirklich Lebendige ...
All diese Begegnungen mit Engeln finden nicht in weltfremder Abgeschlossenheit statt, sondern im ganz normalen Alltag. Das ist das Beste daran. Wir müssen keineswegs herauswaten aus dem Fluss unseres täglichen Lebens. Seine Stromschnellen und Wirbel können uns nicht niederreißen, solange wir mit festem Blick auf den Grund schauen. Das will geübt sein, aber es lässt sich erlernen.»]
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[1] Christian Morgenstern (1871-1914): ‹Der Lattenzaun›. In: ‹Galgenlieder›. Erstdruck: B. Cassirer, Berlin, März 1905.
[2] Joachim Ringelnatz (1883-1934): ‹Ich hab dich so lieb!› Erstdruck: Ernst Rowohlt Verlag, Berlin, 1928.
[3] Aus dem Brief Rilkes an Leopold Schlözer vom 30. Mai 1923:
«So ist auch im Einhorn keine Christus-Parallele mitgemeint: sondern nur alle Liebe zum Nicht-Erwiesenen, Nicht-Greifbaren, aller Glaube an den Wert und die Wirklichkeit dessen, was unser Gemüt durch die Jahrhunderte aus sich erschaffen und erhoben hat, mag darin gerühmt sein ... In der Tat, je mehr uns die Tradition äußerlich abgeschränkt und abgeschnürt wird, desto entscheidender wird es für uns, ob wir fähig bleiben, zu den weitesten und geheimsten Überlieferungen der Menschheit offen und leitend zu bleiben.»
[4] Antoine de Saint-Exupéry: ‹Der kleine Prinz›. Erstdruck: Reynal & Hitchcock, New York, 1943.
[5] E. E. Cummings: ‹i am through you so i›, die letzte Zeile im Gedicht ‹i am so glad and very merely› (‹49›), aus: ‹50 Poems›. Erstdruck: Duell, Sloan and Pearce, New York,1940; siehe Credo (2010): Transkription des Vortrags von Bruder David in Wien: Anm. 5
[6] Rainer Maria Rilke: ‹Anmerkungen› zu den Sonetten an Orpheus. Zum Ersten Teil: zu den Sonetten X, XVI, XXI, XXV; Zum Zweiten Teil: zu den Sonetten IV VI, VIII, XI, XXIII, XXV XXVIII, XXIX.
[7] Rainer Maria Rilke: ‹Das Einhorn›. Entstehung: Winter 1905/06, Meudon. Aus: ‹Neue Gedichte› (1907).
[8] Aus dem Brief Rilkes an Anita Forrer vom 19. April l921:
«Es gibt eine Möglichkeit, so weit zu lieben, dass einem die Unzulänglichkeiten des Liebes-Gegenstands rührend, ja wunderbar werden und zu einem Anlass, noch um vieles liebender zu sein! ‒ Und es gibt andere Möglichkeiten daneben, schwere, aber doch beglückende ‒ die Wirklichkeit ist immer mehr als unsere Vorstellung von ihr, selbst wo sie uns zu Subtraktionen zwingt: Sie ist immer Welt und uns immer voraus!»