Lukas Leuzinger schreibt in der NZZ Neue Zürcher Zeitung und zitiert David Steindl-Rast (2019).
Ein Autor nimmt sich vor, allen Leuten zu danken, die einen Beitrag zu seinem Morgenkaffee leisten. Er scheitert grandios – und lernt dadurch einiges über die moderne Gesellschaft und sich selbst.

«Warum syt dir so truurig?», fragte Mani Matter einst die Pendler auf dem Nachhauseweg. Die Frage ist berechtigt. Neunzig Prozent der Passagiere in einem durchschnittlichen Tram wirken eher wie Teilnehmer eines Grumpy-Cat-Imitationswettbewerbs denn wie die Bewohner des Landes mit der weltweit höchsten Lebensqualität auf dem Weg in den Feierabend.

Als Mitglieder der westlichen Wohlstandsgesellschaft verbringen wir irritierend viel Zeit damit, uns an Luxusproblemen abzuarbeiten: dem Zug, der uns gerade vor der Nase abgefahren ist; dem Smartphone, das beim Hochladen eines Fotos auf Instagram abstürzt; dem Fremden, der uns im Supermarkt mit vollem Einkaufswagen kurz vor der Kasse den Weg abschneidet.

Dabei könnte man die genannten Situationen auch aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. In allen drei gibt es Hunderte Dinge, die Ausdruck eines hohen, historisch gesehen wahnwitzig hohen Lebensstandards sind. Was wir heute als normal betrachten – fliessendes Wasser im Haus, beim Gebären eines Kindes nicht zu sterben –, war noch vor nicht allzu langer Zeit selbst für die Reichsten keineswegs selbstverständlich. Doch statt die Hunderten von Dingen wertzuschätzen, die wir haben, nutzen wir unsere Zeit lieber dazu, uns über die drei oder vier Sachen zu ärgern, die uns gerade fehlen.
Dieses Verhalten ergibt aus evolutionsbiologischer Sicht durchaus Sinn: Unsere Vorfahren in der Wildnis taten gut daran, sich ständig um Risiken, Gefahren und Mängel zu kümmern. Es nicht zu tun, war lebensgefährlich. Wilde Tiere, drohendes Verhungern oder die Unterschiede zwischen giftigen und essbaren Pilzen waren die Aufmerksamkeit wert. In der heutigen Zeit dürfte der Fokus aufs Negative unsere Lebenszeit hingegen kaum verlängern; die qualitätsgewichtete Lebensdauer verringert er mit Garantie.

Die Perspektive wechseln

Um dem Geist die Negativität auszutreiben, bucht der moderne Mensch Yoga- und Meditationskurse oder lädt Apps für mehr Achtsamkeit herunter. Dabei würde es vielleicht schon reichen, einmal die Perspektive zu wechseln, mit der man auf das Leben schaut. Und warum nicht mit dem Frühstückskaffee beginnen? Das hat sich der amerikanische Autor A. J. Jacobs gesagt und ein Experiment gewagt. Um sich selbst zur Wertschätzung seines morgendlichen Genusses zu zwingen, hat er sich vorgenommen, jeder Person Danke zu sagen, die dazu einen Beitrag geleistet hat.
Jacobs beginnt beim Barista, der ihm seinen Kaffee serviert, bedankt sich bei den Mitarbeitern der Kaffeekette, welche die Bohnen rösten, und beim Designer des Logos, das auf dem Becher prangt. Bald dämmert dem Autor allerdings das Ausmass seiner Mission. Wenn er den Betreibern der kleinen Firma dankt, die den Becherhalter aus Karton für seinen Kaffee herstellt, müsste er dann nicht auch jene würdigen, welche den Karton dafür produziert haben? Und den Lastwagenfahrern, die diesen transportieren? Und den Bauarbeitern, die die Strasse gebaut haben? Und wenn man allen dankt, die in irgendeiner Form mit der Herstellung der gemahlenen Kaffeebohnen zu tun haben, bei wem soll man sich für die übrigen 99 Prozent des Becherinhalts – das Wasser – bedanken?
Die vermeintlich simple Aufgabe wird so zu einem Lehrstück über die Arbeitsteilung im modernen Kapitalismus. Adam Smith bemerkte einst, es sei nicht der Grossherzigkeit des Bäckers zu verdanken, dass wir morgens ein frisches und nahrhaftes Brot geniessen könnten – sondern seiner Eigenliebe. Dabei erzählte er nur die halbe Wahrheit. Denn selbst hinter einem auf den ersten Blick simplen Produkt wie einem Laib Brot oder einer Tasse Kaffee steht nicht eine einzelne Person, sondern eine ganze Armada von Leuten, die ihre Zeit und Arbeitskraft für unser Leibeswohl einsetzen. Natürlich tun sie das in erster Linie deshalb, weil die Schar der Brot- und Kaffeekonsumenten im Gegenzug Geld unter den Millionen ihnen unbekannten Leistungserbringern verteilen. Eine Tasse Kaffee ist ein Sinnbild des wundersamen Funktionierens der Marktwirtschaft.

Das Gute ist unsichtbar

Angesichts der offensichtlichen Unmöglichkeit der Aufgabe beschränkt sich Jacobs schliesslich darauf, tausend Personen zu danken. Seine Reise führt ihn bis ins Hochland Kolumbiens, wo er einigen Kaffeebauern stellvertretend für Hunderte seinen Dank ausspricht. Die selbst gestellte Aufgabe führt zu aussergewöhnlichen Begegnungen. Etwa mit dem Einkäufer, der für die Auswahl der Kaffeesorten verantwortlich ist. Er ist derart besessen von Kaffee, dass er seine Flitterwochen mit einer Kaffee-Degustations-Tour verbrachte. Ähnlich einem Weinkenner filtert er aus dem Kaffeegeschmack Noten wie Mandarine, Ahorn oder Ananaskuchen heraus. Die meisten von uns haben keine so feinen und trainierten Geschmacksnerven. Und doch ist es jenen Leuten, die sich derart leidenschaftlich mit einem Produkt beschäftigen, zu verdanken, dass wir uns nicht um die Geschmacksnote unseres Kaffees zu kümmern brauchen, sondern ihn einfach geniessen können. Wenn etwas gut gemacht sei, sei der Prozess dahinter unsichtbar, stellt Jacobs fest. «Das ist ein Grund, warum Dankbarkeit so viel Anstrengung erfordert.»
Solche Einsichten ziehen sich durch das Buch, das als Mischung aus Erlebnisbericht, populärwissenschaftlicher Analyse und Ratgeber daherkommt. Das Werk ist gleichermassen unterhaltsam und lehrreich, auch wenn die unkritische Lobpreisung der hippen Kaffeekette zuweilen ermüdend wird.

Praktische Vorteile

Während manche der Geehrten eher gleichgültig reagieren (ganz im Sinne Smith’), freuen sich andere ehrlich über das seltene Ereignis persönlich geäusserter Wertschätzung. Der Danksagungs-Marathon verändert aber vor allem Jacobs’ eigenes Leben. Nachdem er gesehen hat, welche Arbeit hinter seinem morgendlichen Kaffee steckt, betrachtet er diesen nicht mehr als selbstverständlich. Er geniesst ihn bewusster. Und ändert seinen Blick auf das Leben. Etwa, wenn er sich an sein Privileg erinnert, zum Bestreiten seines Lebensunterhalts nicht auf einer Kaffeeplantage arbeiten zu müssen, sondern in der warmen Stube Bücher schreiben zu können. Oder wenn er an seinem Geburtstag die Kinder darauf aufmerksam macht, dass sie nicht ihm gratulieren sollten, sondern ihrer Grossmutter, die bei seiner Geburt doch den Hauptteil der Arbeit erledigt hatte.
Dabei verbessere nicht erst das Bewusstwerden der Dinge, für die man dankbar sei, die Lebensqualität, sondern schon die Dankbarkeit an sich, schliesst Jacobs. Oder wie es der Benediktinermönch David Steindl-Rast ausdrückt: «Glück macht uns nicht dankbar. Dankbarkeit macht uns glücklich.»
Wem das zu esoterisch ist, dem erklärt Jacobs die wissenschaftlich erhärteten praktischen Vorteile von Dankbarkeit. So haben Studien ergeben, dass Leute, die Dinge bewusster wertschätzen, seltener Depressionen haben und schneller aus ihnen herauskommen. Auch schlafen dankbare Personen besser und haben weniger Herzkrankheiten. Ausserdem sind sie anderen gegenüber grosszügiger und führen glücklichere Beziehungen. Vielleicht ist das ein Gedanke wert, wenn wir das nächste Mal an der Supermarktkasse anstehen.

 

Aus NZZ Neue Zürcher Zeitung vom 31.01.2019 von Lukas Leuzinger

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