Tod & Spiritualität (1990)
Transkription und Übersetzung des Video-Interviews ins Deutsche© von Klaudia Menzi-Steinberger (2025)
Was fehlt in unserer Wahrnehmung des Todes, um unsere Gefühle ihm gegenüber zu verändern?
TEIL I
00:00 Dr. Ken Kramer
Bruder David, meine erste Frage an Sie ist vielleicht die kreativste Frage, also beginnen wir damit. Was fehlt Ihrer Meinung nach den meisten Menschen im Hinblick auf Tod und Sterben? Was fehlt, das den Umgang mit Tod und Sterben verändern würde?
00:28 Bruder David
Nun, ich sage Ihnen, was mir spontan dazu einfällt. Was wirklich fehlt, ist, vollkommen lebendig zu sein, denn wenn wir jetzt voll lebendig wären, bräuchten wir uns keine Sorgen zu machen, vollkommen lebendig zu sein, wenn es um das Sterben geht, und dann wüssten wir, wie wir damit umgehen. Man muss sehr lebendig sein, um mit dem Sterben umzugehen, es ist etwas sehr Aktives, sogar das Wort sterben hat im Englischen und in vielen anderen Sprachen kein Passiv. Man kann nicht sagen, «Ich werde gestorben». Wenn man «gestorben/gefärbt» wird, kommt man grün oder blau heraus, aber nicht tot. Man kann getötet werden, und man wird früher oder später von etwas getötet werden, aber man muss sterben. Das ist etwas, das man aktiv tun muss. Wenn man wirklich weiß, wie man aktiv lebt, wird man in der Lage sein, aktiv zu sterben, wenn das Leben das von einem verlangt.
01:29 Dr. Ken Kramer
Sicher. Nun, lassen Sie uns die offensichtliche Frage fortsetzten, wie man vollkommen lebt, so dass man dann auf die richtige Weise vollkommen sterben kann.
01:42 Bruder David
Richtig. Nun, das dreht die Sache jetzt um, lassen Sie es mich so ausdrücken: Man kann nur vollkommen leben, und das bedeutet, vollkommen lebendig zu werden, wenn man bereit ist zu sterben. Denn, und das meine ich jetzt ganz konkret, Abraham Maslow, der große Psychiater, sagte, er habe in seiner Praxis festgestellt, dass die meisten Menschen Angst vor dem Tod und vor dem Sterben hätten. Aber es gab etwas, vor dem sich noch mehr Menschen fürchteten, und das war das Leben. Wir haben Angst vor dem Leben! Wenn man wirklich lebendig ist, bedeutet das, loszulassen und dem Unbekannten und der Überraschung zu begegnen, und das ist ein kleiner Tod. Mit anderen Worten, wenn man den gegenwärtigen Moment nicht sterben lässt, wird man im nächsten Moment nicht lebendig sein, und so muss man loslassen und loslassen. Das ist eines der wichtigsten Dinge, vielleicht sogar das Wichtigste, das wir lernen müssen, um vollkommen lebendig zu werden.
02:42 Dr. Ken Kramer
Ich verstehe. Was ich Sie jetzt sagen höre, ist, dass wir, um sterben zu können, in der Lage sein müssen, vollkommen zu leben. Um ein erfülltes Leben führen zu können, müssen wir bereit und in der Lage sein, zu sterben, noch bevor wir sterben.
02:57 Bruder David
Richtig.
02:58 Dr. Ken Kramer
Konzentrieren wir uns für einen Moment auf diese Frage. Sterben vor dem Sterben. Sie sitzen hier in einer Mönchskutte, und ich nehme an, dass Sie als Mönch in gewisser Weise aktiv das Sterben praktizieren. Könnten Sie ein wenig darüber sprechen, nicht unbedingt nur in Ihrer eigenen Tradition, sondern über diese ganze Praxis, die klösterliche Praxis, den Tod jeden Tag im Leben willkommen zu heißen.
03:26 Bruder David
Nun, es ist interessant, dass Sie diese Frage stellen. Zuerst einmal spielt in allen verschiedenen klösterlichen Traditionen der Tod eine sehr wichtige Rolle, dieses Bewusstsein des Todes und dass es wirklich schön ist zu sterben und all das. Aber in meiner persönlichen Berufung, als ich Student war, lieh mir ein Kommilitone die Regel des heiligen Benedikt, das kleine Buch, das vor etwa zwölfhundert Jahren geschrieben wurde und nach dem die Benediktiner leben und ihre Klöster einrichteten. Und als ich es zum ersten Mal las, gab es einen Satz, der mich von allen Dingen darin am meisten beeindruckte, und das war der kleine Satz: «Den Tod allzeit vor Augen zu haben.» Und als ich das las, dachte ich: «Oh je, wenn es ums Sterben geht, selbst wenn das in achtzig oder hundert Jahren ist – zu dieser Zeit war das noch eine Möglichkeit –, möchte ich den Tod jederzeit vor Augen gehabt haben. Denn das scheint mir dann so, als hätte ich so gelebt, wie ich gerne gelebt hätte.» Das hat mich also sehr beeindruckt. Und tatsächlich wird bei der Aufnahme eines Novizen in ein Kloster, zum Beispiel wenn man Mönch wird, das nicht mehr auf diese dramatische Art und Weise. Aber früher wurde es so gehandhabt, dass sogar einige Begräbnisriten vollzogen wurden. Zum Beispiel, dass man mit dem Leichentuch bedeckt wurde, mit dem der Sarg bedeckt wird, aber man dennoch ausgestreckt dalag, als wäre man tot, auf dem Boden. Und dann wird man zum Leben als Mönch erhoben. Man stirbt und wird dann zu neuem Leben erweckt. Und dasselbe gilt für die safranfarbenen Roben. Die meisten Menschen wissen nicht, warum buddhistische und hinduistische Mönche safranfarbene Roben tragen. Nun, das ist der Stoff, nachdem er durch die Einäscherung gegangen ist. Er ist versengt, das ist die Idee, verstehen Sie.
Also tragen sie sie, als wären sie durch den Tod gegangen, und dasselbe gilt, in der hinduistischen Tradition. Zum Beispiel werden den Mönchen, wenn sie Mönche werden, alles weggenommen. Sozusagen im Namen des Guru, der sagt: Gib uns jetzt das und gib uns dies und gib uns das und gib uns jetzt deinen Körper, sogar deinen Körper. Aber man braucht einen Körper, um anderen zu dienen, also gibt man ihnen ihren Körper zurück, aber irgendwie hat man in dieser Zeremonie schon verloren.
06:01 Dr. Ken Kramer
Ich verstehe.
06:02 Bruder David
Und dann, wenn man dieses klösterliche Leben führt, weil man buchstäblich durch diesen Tod und die Auferstehung gegangen ist, ist man eingeladen, jeden Moment als ein Sterben dieses gegenwärtigen Moments zu leben. Das bedeutet, nicht anhaften. An nichts festzuhalten. Lasse es los und werde im nächsten Moment dadurch noch lebendiger. Also würde ich denken, dass eine Person, die dazu in der Lage wäre, nicht dieselben Probleme mit dem Tod hätte, wie eine Person, die dazu nicht in der Lage wäre.
Denn wenn dann der tatsächliche Moment des Todes eintritt, ist es nur einer dieser weiteren Sterbefälle, ein weiterer davon.