Der Weg zu Fülle und Nichts (1991)
Vortrag von Bruder David,
Audio und Mitschrift bearbeitet von Hans Businger
«Wenn man zu einem Vortrag kommt, der den Weg zu Fülle und Nichts im Titel hat, dann ist es schon klar, dass es hier nicht um eine vorwiegend akademische Abhandlung gehen kann, sondern, dass der Titel selbst schon dichterisch ist. Und für uns ist es nicht so leicht, aus unserem alltäglichen Leben in das Dichterische einzutreten. Manchen fällt es weniger schwer, andern mehr, aber wir alle müssen eine gewisse Bemühung machen, dorthin zu kommen.
Ich würde vorschlagen, dass wir, was ich Ihnen zu sagen habe, mit einem Gedicht verbinden. Und zwar mit einem der Sonette an Orpheus von Rilke, das mir schon lange sehr lieb ist, und das uns wirklich in diese Welt einführt.[1] Und um uns auf das Dichterische einzustimmen, würde ich vorschlagen, dass wir die ersten paar Zeilen dieses Gedichtes anhören, aber noch ohne uns über den Inhalt Gedanken zu machen. Nur reine Musik. Es ist das 13. der Sonette an Orpheus aus dem zweiten Teil: die ersten vier Zeilen gehören zum Schönsten und Musikalischsten in der deutschen Sprache. So könnten wir uns vielleicht zunächst nur die Musik anhören; ich lese sie Ihnen mal vor, aber bitte nur zuhören und nicht … wenn Sie’s können, nicht zu sehr darüber nachdenken. Nur der Klang …
Ich habe das öfters schon Leuten vorgelesen, die gar nicht Deutsch können, und schon der Eingang ist bezaubernd, im wahren Sinn des Wortes bezaubernd, denn wir wollen uns eben bezaubern lassen und durch diesen Zauber hineinführen in eine Welt, in der allein wir eine Sprache sprechen können, die dem gewachsen ist, wovon wir hier sprechen wollen.
Die dichterische Sprache ist tragkräftiger für Wahrheit als irgend eine andere Ausdrucksweise.
Die abstrakte logische Sprache wird zu gebrechlich, lange bevor wir noch das gesagt haben, was wir eigentlich wirklich sagen wollen. Die dichterische Sprache ist tragfähig. Das wissen wir alle aus unserer eigenen Erfahrung: Wenn wir wirklich von Einsicht und Lebenserfahrung und Liebe überwältigt werden, werden wir plötzlich dichterisch in unserer Ausdrucksweise. Das zeigt uns schon, dass unser gesunder Instinkt uns in diese Richtung weist.
Diese ersten vier Zeilen des Sonettes lauten:
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.›[2]
Um noch tiefer einzudringen, schlage ich jetzt vor, wir machen es gemeinsam. Ich lese die erste Zeile, Sie sprechen sie nach. Ich lese die zweite Zeile und Sie sprechen sie nach …
(07:25) Ich habe das Gefühl, wir sind jetzt schon auf einer Ebene, wo wir vielleicht leichter darüber sprechen können. Wir fangen hier mit Abschiednehmen an. Rilke spricht öfters darüber, dass viele der großen Dinge mit Ende beginnen und mit Anfang enden.[3]
Kein schlechter Anfangspunkt für uns, wenn wir über Fülle und Nichts sprechen wollen, mit dem Abschied zu beginnen.
Und zwar wissen wir alle, auch wenn wir uns darüber oft nicht Rechenschaft geben, nicht darauf reflektieren: Wir wissen alle, dass wir immer wieder Abschied nehmen müssen.
Zum Beispiel: Wir sind hier zusammen jetzt in diesem Raum, in dieser Gruppe von Menschen: Schon von Anfang an bietet sich eine gewisse Gemeinsamkeit. Im Laufe unseres Gespräches ‒ und ich hoffe, dass es wirklich ein Gespräch wird, wir uns Zeit lassen zu einem wirklichen Gespräch ‒,[4]
im Laufe dieses Gespräches werden wir noch mehr zusammen Gemeinschaft erleben. Aber in dieser Zusammenstellung werden wir uns nie wieder in alle Ewigkeit treffen. Wir werden nie wieder alle in einem Raum zusammen sein hier.
Und selbst mit unsern engsten Freunden und Freundinnen wissen wir, dass einmal ein Abschied sein wird, und wir werden einander nicht wieder sehen.
Und wenn wir das einmal ernstlich ins Auge fassen, dann ist es nicht so makaber oder lebensverneinend, wie es auf den ersten Blick aussieht, sondern ungeheuer lebensbejahend.
Denn der Grund, warum wir so häufig so halblebendig sind, ist, dass wir immer glauben, dass noch Zeit ist für die nächste Hälfte, obwohl wir keinerlei Garantie dafür haben.
Wenn wir das ernst nehmen, dass das vielleicht ‒ und es ist sehr leicht möglich ‒, unsere letzte Begegnung ist ‒ ich spreche jetzt über irgendeine Begegnung zwischen zwei Menschen ‒, wenn wir es wirklich ernst nehmen: das könnte jetzt unsere letzte Begegnung sein, dann wird es zu unserer ersten: So waren wir noch nie zusammen, so offen, so bereit.
Und das gilt nicht nur für die Begegnung und das Abschiednehmen zwischen Menschen, sondern mit allem: Wenn wir unsere Suppe so essen, dass wir wirklich Abschied davon nehmen und nicht so überzeugt sind, dass es morgen wieder Suppe geben wird, sondern ‒ vielleicht leben wir morgen nicht mehr ‒, dann wird das plötzlich die letzte, aber auch die erste Suppe, die wir mit solcher Begeisterung essen.
So stelle ich mir das vor und Rilke scheinbar auch, denn er spricht ausdrücklich davon, dem Abschied voran zu sein. Wir denken immer, dass der Abschied später kommt.
(11:13) Darum leben wir nicht voll. Und Spiritualität heißt ja volles Leben. Spiritus ist Lebensatem, und spirituell leben heißt, völlig lebendig sein, völlig durchatmen, wirklich lebendig. Wenn wir dem Abschied voran sind, und nicht darauf warten, dann werden wir wirklich lebendig:
Sei dem Abschied voran ‹wie der Winter, der eben geht›,
und dieses eben ist wunderschön da hineingesetzt ‒, das kann zweierlei bedeuten: Hier, jetzt im Mai ‒ es war ein langer Winter und lange kalt, wir sind eigentlich gerade an dieser Stelle und schauen die Frühlingsblumen an ‒, und wir werden aufgefordert, dem Abschied voran zu sein wie der Winter, der ‹eben geht›, der soeben, zu dieser Zeit, geht.
Aber da ist noch eine andere Bedeutung zu dem Wort eben ‒ er geht eben ‒, ‹der Winter, der eben geht›, der nicht noch herumhängt und noch wartet.
So sollen wir auch wie die Jahreszeiten kommen und wieder gehen, und uns nicht anhängen, sondern dem Abschied voran sein: der Winter ist auch dem Abschied voran.
Und warum? Weil unter Wintern einer so endlos Winter ist, dass wenn unser Herz den Winter übersteht, es überhaupt übersteht.
Und zwar müssen wir da nicht unbedingt nur an den l e t z t e n Winter denken, also an unseren leiblichen Tod ‒, das legt sich nahe:
Jeder Abschied ist eine Art von Sterben, und unser letztes Sterben ist dann dieser ‹endlos Winter›.
Ich glaube eher, dass in dem Augenblick, wo wir wirklich aufwachen und wirklich lebendig werden, weil wir eben dem Winter ‒ dem Abschied ‒ voran sind, irgendein Abschied als dieser endlose Winter erlebt werden kann, wenn überstehen heißt, dass ‹das Herz überhaupt übersteht›.
Mit anderen Worten: Wir nehmen dann eine innere Haltung ein, die es uns ermöglicht, immer zu überstehen.
Und der Winter ist ja für die Pflanzen, für die Tiere und oft auch für die Menschen, die nicht so vom Schicksal begünstigt sind wie wir, eine sehr große Gefahr: Werde ich diesen Winter noch überstehen?
(14:14) Wenn wir aber dem Abschied voran sind, dann sind wir Überstehende ‒ überstehen: ein wunderschönes Wort ‒, dann stehen wir schon darüber, dann sind wir in einen Bereich eingetreten, der über dem Zeitlichen steht, über dem nur-Zeitlichen. Dann sind wir in das Jetzt eingetreten. Dort ist unser wahres Leben: in dem Jetzt, wo wir wirklich sind.
Wir können uns ja fragen: Wo sind wir denn wirklich?
Wir sehnen uns darnach, echt zu sein, wirklich zu sein:[5]
Wo können wir wirklich sein? ‒ Nur im Jetzt.
Denn in der Vergangenheit waren wir ‒ sind wir nicht ‒, in der Zukunft werden wir sein ‒ sind wir nicht ‒, wenn wir also wirklich sein wollen, so muss das in diesem Augenblick sein.
Wo ist dieser Augenblick? Wo ist dieses Jetzt?
Tja, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, Sie werden sagen, das ist diese kurze Zeitstrecke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft.
Ja, wenn es eine kurze Zeitstrecke ist, dann hindert uns ja nichts daran, diese kurze Zeitstrecke in die Hälfte zu schneiden, und eine Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist ‒ Haarspalterei ‒, aber solange es ein Haar ist, kann man es spalten, es hindert uns nichts dran.
Wo ist das Jetzt, wo das ‹Ist›, wo s i n d wir?
Wir beginnen plötzlich zu sehen, dass die Zeit, in der wir leben, nicht diese lange Eisenbahnlinie ist, wie wir es uns gewöhnlich vorstellen, sondern ein Prozess, in dem die Vergangenheit ununterbrochen die Zukunft auffrisst ‒ restlos ‒, kein Rest, kein Stückchen dazwischen.
Wo ist ‹Ist›, wo ist Jetzt? ‒ Jetzt ist nicht in der Zeit.
Darum existieren wir als Menschen. Ex-istieren heißt wörtlich heraus-stehen: Als Menschen erleben wir uns als die Geschöpfe, die aus der Zeit herausstehen. Wir ragen aus der Zeit heraus in das Jetzt.
Wir leben in der Zeit, aber wir gehören nicht ganz der Zeit an, wir kennen das Jetzt, und jedes Kind kennt das Jetzt, und das Jetzt ist in der Zeit nicht zu finden,
und das Jetzt ist Ewigkeit.
Denn die Ewigkeit ist keine lange, lange Zeit ‒ das sollten wir wissen ‒, das wäre ja nur Zeit, das wäre nicht eine andere Dimension.
Und da gibt’s so Geschichten von diesem winzigen Vogel, der zu diesem Berg geflogen kommt und einmal in tausend Jahren den Schnabel daran wetzt, und wenn der ganze Berg weggewetzt sein wird, dann wird eine Sekunde der Ewigkeit vergangen sein. Das ist eine herzige Geschichte, aber sie hat absolut nichts mit Ewigkeit zu tun. Es ist immer noch lange, lange, lange Zeit.
Ewigkeit ist das Gegenteil von Zeit, Ewigkeit ist das ‹Jetzt ‒, das nicht vergeht›, das Jetzt, einfach das Jetzt, außerhalb, überhalb der Zeit, in das wir hineinragen, das wir schon kennen. Wir kennen es alle, wir wissen alle, was Jetzt heißt, und wir finden es nicht in der Zeit.
Augustinus sagt das sehr schön, er definiert aeternitas ‒ Ewigkeit mit den im Lateinischen eleganten zwei Worten: ‹Nunc stans›: ‹das Jetzt, das steht›, oder: ‹das Jetzt, das Bestand hat›:[6]
In unsern besten, lebendigsten, Augenblicken kennen wir dieses Erlebnis, dass die Zeit stillsteht. Es ist eigentlich nur ein Bruchteil einer Sekunde, und wir haben so viel erlebt, das in Jahren keinen Platz findet. Oder es ist eine lange Zeit, wir sitzen da und schauen diesen Regenbogen an, oder sitzen dort am Meer oder sonst in irgendeiner Situation, wo wir plötzlich weg sind, und zwei Stunden sind vergangen, und es erscheint uns wie Sekunden, oder das ähnliche Phänomen: Stunden erscheinen uns wie Sekunden.
Die Zeit existiert nicht, wenn wir im Jetzt sind, und in unsern besten, lebendigsten, Augenblicken sind wir eben in diesem Jetzt.
(19:53) Und das führt uns jetzt genau zur nächsten halben Zeile der zweiten Strophe:
‹Sei immer tot in Eurydike.›
In den Sonetten an Orpheus sind immer wieder Anspielungen auf den Mythos von Orpheus und Eurydike, und Eurydike steht hier für die große Geliebte, die in der Blüte ihrer Jahre stirbt, gebissen von einer Schlange, und muss in den Hades hinunter. Und Orpheus geht ihr nach ‒ das ist auch so wunderschön ‒, er ist der große Sänger und singt vor Hades, dem Gott der Unterwelt und Persephone, seiner Braut, die Hades in die Unterwelt entführte, und beide sind so gerührt, dass Hades sogar weint ‒ eiserne Tränen ‒, der Gott der Unterwelt kann nur eiserne Tränen weinen. So gerührt sind sie, dass sie Orpheus sogar die Erlaubnis geben, Eurydike wieder heraufzubringen unter der Bedingung, dass er sich nicht umdreht und sie nicht anschaut, bevor sie beide im Licht der Sonne sind. Und das gelingt Ihnen nicht ‒ da sind verschiedene Versionen: entweder, weil er ungeduldig wird, oder, weil er schon im Licht der Sonne ist, aber sie noch nicht ‒, jedenfalls muss sie wieder zurück, aber das geht uns hier eigentlich nichts an, es gefällt mir so gut, dass ich die ganze Geschichte erzähle.[7]
‹Sei immer tot in Eurydike›: Orpheus ist ‹tot in Eurydike›, er geht ‹dem Abschied voran›, schon vor dem Ende seines Lebens geht er in die Unterwelt hinunter, um sie zurückzubringen: Das gelingt ihm nicht, er ist ‹tot in Eurydike›, er ist tot, aber nicht im Sinne von ‹nicht lebendig›:[8]
(22:34) Und jetzt kommen wir unserem Thema schon näher, denn Rilke fährt weiter:
‹Sei immer tot in Eurydike –, s i n g e n d e r steige,
p r e i s e n d e r steige zurück in den reinen Bezug.›
In den reinen Bezug. Alle unsere Beziehungen zu einander und zu der Welt und zu den Dingen und zu uns selbst und zum göttlichen Horizont aller Dinge, all diese Beziehungen werden nur reiner Bezug, wenn wir dem ‹Abschied voran› gehen. Und zwar
‹singender steige … zurück›:
Orpheus, der zurückkommt singt, er ist der große Sänger, es sind Klagelieder, aber Lieder sind immer Gesang, auch wenn sie Klagelieder sind, er singt so überwältigend, dass die Bäume sich entwurzeln und mit ihm tanzen, und die Felsen ihm zuhören, und die Löwen ihm zuhören, das gehört alles zu diesem mythischen Bild dazu:[9]
‹… singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug›,
umso preisender, weil du das Leben auf dem Hintergrund des Todes siehst ‒ und da kommen wir jetzt zu unserem Thema ‒, weil du das Sein auf dem Hintergrund des Nicht-Seins siehst.
Und nur, wenn wir das Sein auf dem Hintergrund des Nicht-Seins sehen, nur wenn wir ‒ praktisch gesprochen ‒ diese Begegnung jetzt auf dem Hintergrund des Umstandes sehen, dass wir unter Umständen uns nie wieder sehen werden, wird es wirklich lebendig und voll.
Darum:
‹… singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug›:
Wenn Orpheus aus der Unterwelt kommt, steigt er zurück, steigt in den ‹reinen Bezug›, in das Jetzt, zu dem auch wir aufsteigen.[10]
Hier ‒ und jetzt wird unsere Situation in dieser Welt wunderbar charakterisiert ‒, zuerst:
‹Hier unter Schwindenden›:
das ist unser Leben hier: Wir leben unter Schwindenden. Daher dieses ständige Abschiednehmen;
und dann ein zweites Bild: ‹Hier unter Schwindenden› ‒
‹im Reiche der Neige›:
‹Der Tag hat sich geneigt›,[11] alles neigt sich, wenn die Blumen welk werden, neigen sie sich, wir leben hier im Reich der Neige und unter Schwindenden.
Und jetzt die große Aufforderung:
‹Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.›
Das ist dieser Augenblick, das ist dieses Jetzt:
‹sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.›
Das ist der Abschied, der voraus weggenommen wird, das ist das Zerbrechen, aber es ist zugleich das Klingen:
Und auf was warten wir denn, als darauf,
dass wir endlich klingen und völlig Klang werden?
Das Glas wartet ja nur darauf, endlich wirklich Klang zu werden. Und wir schieben das immer hinaus und schieben das immer hinaus, jaja, aber noch nicht.
Augustinus hat das selber sehr gut gekannt in seinem berühmten Gebet: ‹Gott mache mich keusch, aber noch nicht›.[12]
(26:30) Also ich lese noch einmal den ersten Teil dieses Sonettes, die ersten acht Zeilen, die bei einem Sonett immer den ersten wichtigen Teil darstellen, der dann mit den nächsten sechs Zeilen ergänzt und abgerundet wird:
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.
Sei immer tot in Eurydike –, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.›
Und jetzt wird’s noch philosophischer und noch mehr auf unsere bestimmte Frage der Weg zu Fülle und Nichts wie ausdrücklich abgestimmt:
‹Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung›:
Mit anderen Worten: Wenn die alten Mönche auf ihre Sonnenuhren geschrieben haben: ‹Memento mori› ‒ ‹gedenke, dass du sterben musst›, so war das ja nicht irgend eine makabre Idee: halte den Tod vor Augen, sondern das war einfach wie die letzte Zeile eines berühmten spätlateinischen Gedichtes, das heißt ‹das tanzende Mädchen›, und die letzte Zeile heißt: ‹Lebe doch›, sagt der Tod, ‹ich komme›. ‹Der Tod zieht mich beim Ohr›, heißt‘s:
‹Der Tod zieht mich beim Ohr› und sagt: ‹Lebe doch ‒, ich komme›:
‹Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung›:
Du kannst nur sein, wenn du des Nicht-Seins Bedingung kennst. Und er nennt jetzt des Nicht-Seins Bedingung,
‹den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.›
‹Grund› hat ja auch eine wunderbare Doppelbedeutung: Einerseits ist es der Abgrund des Nichts, der unter der Fülle des Seins liegt, und anderseits ist es der Grund im Sinne der Begründung auch:
Nur des Nicht-Seins Bedingung, nur unser Wissen um die Möglichkeit des Nichtseins, nur unser Wissen um die Tatsache, dass wir rundum vom Nichtsein umgeben sind, dass wir uns wundern müssen, warum denn überhaupt irgendetwas ist ‒
‹Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen›,[13]
heißt es wieder in einem Gedicht:
Uns das bewusst machen, macht uns völlig lebendig: Dieses Nichts gibt uns erst die Fülle des Lebens.
‹Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.›
Dieses ‹einzige Mal› ‒ es gibt kein zweites Mal ‒, es ist nur ‹dieses einzige Mal›:[14]
Und wenn es wirklich sich noch einmal ereignen sollte, dass wir uns begegnen, oder dass wir diese Suppe essen ‒ es ist ja nicht dieselbe Suppe, aber dasselbe Rezept ‒, dann ist es wieder nicht dasselbe, niemals dasselbe, wie Heraklit es schon gewusst hat: ‹Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen›.
(30:47) ‹Den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung›:
Da gibt es ein wunderbares Gedicht, das ich Ihnen leider nur in einer selbstgemachten Übersetzung darbieten kann, und zwar ist es von John Cage ...[15]
Wir sprechen jetzt über ‹den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung›, und das Gedicht von John Cage lautet:
‹Wenn du es loslässt, dreht es sich selbst ‒
du bist überflüssig:
Jedes etwas feiert das Nichts, von dem es getragen wird.
Wenn wir die Welt abladen von unseren Schultern ‒
Siehe da: Sie trägt sich selbst:
Wo liegt unsere Verantwortung?›
‹If you let it, it supports itself.
You don’t have to.
Each something is a celebration of the nothing that supports it.
When we remove the world from our shoulders
we notice it doesn’t drop.
Where is the responsibility?›
Wo ist unsere Verantwortung, wenn alles sich selber trägt, wenn jedes Ding verstanden werden kann als die Feier des Nichts, das es trägt?
Wo ist dann unsere Verantwortung? Wir sind ja auch Ding, das getragen wird von dem Nichts:
Wo ist dann unsere Verantwortung? ‒
Darin, es zu feiern,
feiern, wie Rilke in einem andern berühmten Sonett sagt:[16]
‹Rühmen, das ist’s.›
Und das ist unsere Aufgabe im Leben: zu preisen.
‹… singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.
Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.›
(34.19) Wir sprechen jetzt über den Augenblick, das Jetzt, das weder der Vergangenheit noch der Zukunft angehört, mit einem neuen Bild in den letzten drei Zeilen des Sonetts:
‹Zu dem gebrauchten›,
das heißt: zu allem Vergangenen, dem Aufgebrauchten,
‹sowohl wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur›:
das ist das Kommende,
‹den unsäglichen Summen
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.›
Die Zahl ‒ Bruder David klopft auf das Pult ‒ ist die Zeit, die Zahl ist in diesem Sinn alles, was sich messen lässt, die Zeit im Sinne von Uhrzeit, die Zeit, die mit den Uhren gemessen wird, der Chronos, nicht der Kairos:
Die Griechen haben zwei Wörter für die Zeit: eines ist Chronos, das ist die Zeit, die die Uhren anzeigen, und Rilke sagt das wunderschön:
‹Mit kleinen Schritten gehen die Uhren neben unserem eigentlichen Tag.›[17]
Und was ist unser eigentlicher Tag? Kairos-Zeit, das heißt: Zeit zur Entscheidung. Letztlich ist es Zeit, sich zu entscheiden: ent-scheiden.
Kairos ist Zeit für Entschluss. So könnte man es vielleicht am besten sagen:
Kairos ist Zeit für Ent-schluss.
Solange wir im Chronos bleiben ‒ Chronos ist in der Mythologie der Gott der Zeit, der seine Kinder auffrisst ‒, solange wir in dieser Zeit der Uhren bleiben, sind wir noch nicht ent-schlossen, sondern sind gefangen.
Wenn wir in den Kairos eintreten, wenn wir die Zeit jetzt verstehen als
Gelegenheit, völlig zu sein ‹dieses einzige Mal›,
das ist Entschluss,
und wir entschließen uns zu dieser Ent-schlosseneheit zum Ganzen.
Und darauf kommt es an, und ‒ in diesem Augenblick ‒ dieser Entschluss ist, dichterisch gesprochen, ‹der Weg zu Fülle und Nichts›, zu einer wirklichen Anerkennung des ‹unendlichen Grundes unserer innigen Schwingung› ‒ ‹des Nicht-Seins Bedingung› völlig anerkannt, und zugleich ‒: daraus entsteht die volle Lebendigkeit,
‹ein klingendes Glas› sein, ‹das sich im Klang schon zerschlug›.
Dazu müssen wir uns entschließen können. Das ist die große Aufgabe, das ist nicht leicht. Es ist ungeheuer schwierig sogar.
(37:50) Ein anderer Aspekt jetzt: Der Abschied ist eigentlich das Verlassen:
‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlich Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.
Sei immer tot in Eurydike –, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.
Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.
Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.›
Wir sollten uns vielleicht daran erinnern, wenn wir das nächste Mal zu der bitteren Einsicht kommen:
‹Ich kann mich auf nichts verlassen.›
Ein wunderbarer Satz! Er kommt uns auf die Zunge gerade im rechten Augenblick:
‹Ich kann mich auf Nichts verlassen.›
Wirklich: Ich kann mich verlassen ‒ auf Nichts … ‹Wir können auf Wasser gehen›. Das Nichts ist auch etwas: die Fülle des Lebens entspringt daraus.»
(40:13) Alle singen als Übergang zum Gespräch gemeinsam den Kanon von Pretorius: «Viva la musica».
Bruder David im Gespräch nach dem Vortrag:[18]
«In ausdrücklich christlicher Terminologie gesprochen: Was ist das Nichts von dem wir getragen werden? Gott. Gott ist nichts. Gott ist nicht etwas, schon gar nicht etwas anderes,[19] aber nicht ein leeres Nichts,[20] sondern das Nichts, auf das wir uns verlassen können. Und wenn wir uns auf dieses Nichts verlassen, dann sehen wir, wie verlässlich es ist.[21] Davon kann man niemanden überzeugen, aber man braucht ja auch niemanden zu überzeugen. Man kann ja nur sagen: Versuch’s einmal. Und man merkt sofort, dass man sich auf dieses Nichts verlassen kann: Es trägt.
‹Die Antennen fühlen die Antennen und die leere Ferne trägt›,[22]
sagt Rilke.
Und so, wenn wir uns auf Nichts verlassen, trägt uns das Nichts, wenn wir uns auf Gott verlassen, dann trägt uns Gott, wir erleben das einfach.»
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[1] Die Beziehung von Bruder David zu Rilke und besonders zu ‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter/dir› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII) ist einzigartig und spürbar in allen seinen Büchern und Vorträgen; siehe den v Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (40:06).
Abschied, der Klang des Lebens enthält wegweisende Passagen zu diesem Sonett aus dem Credo (2015) und dem Vortrag Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017) (siehe Anm. 3 und 6). In Ergänzend: 2.-4. sind weitere Vorträge zusammengestellt, in denen Bruder David dieses Sonett vorträgt und deutet.
[2] In Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II: 140-148, 150f., den Vorträgen im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft vom 14.-18. September 2014, bildete dieses Sonett ‒ wie auch das vorhergehende (in Anm. 3) ‒ das Herzstück dieser vier intensiven Tage
[3] Rilke: ‹Wolle die Wandlung› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XII); siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 151-155, und Abschied, der Klang des Lebens: Ergänzend: 2.-3.:
«Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung;
und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne,
das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.»
[4] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 31
«Ein ernstes Gespräch ist kein Wortwechsel, das ist eher ein Austausch von Schweigen: Schweigen mittels Worte. Was ausgetaucht wird ist nicht ein Wortwechsel ‒ ein Schweigewechsel. Ein gemeinsames Schweigen in das man sich einlässt.»
[5] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106; ebenso in Erlösende Kraft, Anm. 4; Altern, Anm. 14, und Reifen, Anm. 7:
«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, erschienen 1922, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Teddybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»
[6] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 89-91; Jetzt und ewiges Leben: Anm. 8:
Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›.
Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 ‒ Nachmittag: Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch (Bruder David):
(13:57) Ganz im Jetzt sein: ‹The moment in and out of time› (T. S. Eliot) ‒ ‹Das Nirgends ohne Nicht› (Die achte Duineser Elegie) ‒ ‹Nunc stans›: Ewigkeit ‒ das Jetzt, das nicht vergeht / (18:15) Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch ‒ ‹All is always now› (T. S. Eliot) ‒ Immer wieder ins Jetzt kommen: das Kernanliegen aller spirituellen Wege
[7] Siehe auch Bruder David zum Mythos von Orpheus und Eurydike in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 52-56
[8] Sinngemäße Wiedergabe mit Blick auf Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 54; Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 141f.; das Video Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017) ab (06:16); den Text im Buch Credo (2015), 226, in Abschied, der Klang des Lebens
[9] Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XXVI: ‹Du aber, Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner›; siehe das Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 55f.
[10] Siehe in Rühmen, Er-innern, Aufheben: Anm. 2, den dreifachen Sinn des hegelschen Begriffs ‹aufheben›: negieren (tollere) ‒ emporheben (elevare) ‒ bewahren (conservare)
[11] ‹Herr bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget› (der Kanon mit Bezug auf die Begegnung der Emmausjünger mit dem Auferstandenen in Lk 24,29); siehe auch Abschied, der Klang des Lebens: Ergänzend: 2.3.: das Baumnamensuffix đr[a] verrät, dass Trauer Neige und Trost die Kraft ist, sich aufzurichten
[12] Augustinus: Confessiones VIII, 7, 17
[13] ‹Media in vita morte sumus›; siehe auch Rilke: ‹Der Tod ist groß› in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 116
[14] Im Buch Credo (2015), 225, zitiert Bruder David folgende Passage aus der Neunten Duineser Elegie von Rilke:
«Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar
alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das
seltsam uns angeht. Uns, die Schwindensten. E i n Mal
jedes, nur e i n Mal. E i n Mal und nichtmehr. Und wir auch
e i n Mal. Nie wieder. Aber dieses
e i n Mal gewesen zu sein, wenn auch nur e i n Mal:
i r d i s c h gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.»
[15] ‹Composer John Cage: Konzepte wider den Zwang› (Du, die Zeitschrift der Kultur, Heft Nr. 5, Mai 1991)
[16] Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII; siehe das Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 132f. und Rühmen, Er-innern, Aufheben
[17] Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XII; siehe Jetzt und ewiges Leben: Anm. 10: Credo (2015): ‹Das ewige Leben›, 223f.; R. M. Rilke: ‹Heil dem Geist, der uns verbinden mag›, das vollständige Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 96f.
[18] Audio ‹Wo ist die Verantwortung?(John Cage) in Festival «Die Kraft der Visionen» (1991): 2.2: ‹Der Weg zu Fülle und Nichts› ‒ Die Themen des Gesprächs
[19] Siehe Religionen und heiles Gottesbild: Ergänzend: 3. Audios / Text zu ‹Gott ist nicht jemand Anders› ‒ ‹God isn‘t somebody else› (Thomas Merton)
[20] Siehe Religionen und heiles Gottesbild: Ergänzend: 2.2. Vortrag An welchen Gott können wir noch glauben (2008):
«Dorothee Sölle, die große protestantische Theologin, spricht von Gott als MEHR, mehr und immer mehr, könnte man sagen, und nicht nur auf derselben Ebene, sondern in immer neuen Dimensionen. Und dieses Geheimnis, das uns umgibt, ist Nichts. Es ist nicht etwas, und in diesem Sinne nichts.
Es ist aber in keiner Weise ein leeres Nichts, sondern es ist das Nichts, das der Quellgrund und Mutterschoß von allem ist, was es gibt. Und es ist ein göttlicher Abgrund, aus dem die Fülle von allem kommt. Und die Fülle selbst ist wieder unausschöpflich. Und da ist unser eigenes Selbst eingeschlossen und daher sind wir uns selbst auch unauslotbar.»
[21] ‹Sich verlassen›: Immer wieder erinnert uns Bruder David an den Doppelsinn dieses Wortes; siehe Gott ‒ ‹mein Gott›: Ergänzend: 1.2.; Mich-Verlieren ‒ Finden; im Zusammenhang mit dem Wort ‹Amen› in Ich-Selbst werden: Ergänzend: 1.
[22] Wie in Anm. 17 in Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XII; siehe Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 96f.