Helmut von Loebell (1937-2020)
Mann der Tat im Spannungsfeld zur geistigen Welt:
Auszüge aus seinem Buch
Der Stehaufmann (2016),
ausgewählt von Hans Businger

 Kindheit

«Eines Tages stand meine Mutter wieder vor der Tür. Die Koffer wurden gepackt und los ging’s, zur nächsten Station! So wurde ich wie ein ungeliebtes Möbelstück von einer Familie zur anderen gereicht. Spätestens nach dem dritten Mal hinterließ das Spuren ‒ man empfand mich als renitent, frech und zappelig. Obwohl die Menschen dafür Geld bekamen (dass man für mich Geld bekam, machte mich stolz!), wollten sie mich so bald wie möglich wieder loswerden. Regelmäßig wurde meine Mutter gebeten, mich wieder abzuholen. Dann durfte ich zu Hause bleiben, bis sie wieder eine ‹Verwahranstalt› für mich gefunden hatte. An diese Zwischenzeiten kann ich mich nicht mehr erinnern, insgesamt brachte ich es in den ersten acht Lebensjahren aber auf sechs solcher Unterkünfte, an denen man mich selten länger als ein halbes Jahr ertrug.» (‹Heute hier, morgen dort …›, 26f.)

«In meinem Leben habe ich selten Geborgenheit erlebt, die ja mehr ist als nur die Sicherheit äußerer Rahmenbedingungen. Als Kind wurde ich, weil ich mich seelisch nicht geborgen fühlte, immer wieder krank oder überspielte diese Leere, auch noch als Jugendlicher durch Ungezogenheit.

Erst in den letzten Jahren kann ich gelten lassen, dass es in meinem Leben so etwas wie seelischen Schmerz gibt ‒ lange Zeit existierte nur körperlicher Schmerz, den seelischen habe ich verdrängt, und jetzt, im Alter, macht er sich deutlich bemerkbar.

Heute kenne ich aber das Gefühl der Geborgenheit, wenn ich mich im Kreise meiner Familie oder als Teil eines großen Organismus wie der Rudolf-Steiner-Schule oder des CES-Waldorf-Projektes erleben darf.» (‹Und jetzt?›, 195)

«Wenn ich auf meine drei Berufswünsche als Jugendlicher blicke, wollte ich zuerst einmal Dirigent werden. Ich liebe Musik ‒ nicht in erster Linie Mozart, sondern vor allem Wagner (Isoldes Liebestod!) und Richard Strauss (den ‹Rosenkavalier›!), habe sie oft und oft gehört und im Geiste ‹dirigiert›. Daneben wollte ich auch Anwalt oder Pfarrer werden, das Letztere habe ich realisiert, indem ich schon mit dreißig Jahren in Bogotá als Kirchenvorsteher gepredigt habe. Eigentlich habe ich aber wirklich jeden dieser drei Bereiche gelebt: Ich war eine Art Anwalt, der versucht, ausgleichend Gerechtigkeit zu schaffen, ein Dirigent, der viele Einsätze sozialer Art organisiert und koordiniert hat, und auch ein Pfarrer, der das verkündet, wovon er in seiner Seele zutiefst überzeugt ist, und der andere damit ebenfalls überzeugen will.» (‹Und jetzt?›, 191)

Beziehung zur geistigen Welt

Mit dem ‹höheren Ich› drückt Helmut von Loebell in anthroposophischer Sprache aus, was Bruder David das Selbst nennt.

«Waldorfpädagogik bedarf immer wieder der Vertiefung durch spirituelle Grundlagen, sonst droht die Gefahr, oberflächlich zu werden.» (‹Die Bedeutung einer spirituellen Pädagogik›, 133)

«Im Motto der Waldorfpädagogik ‹Werde, der du bist, oder werde, der du dir vorgeburtlich vornahmst, sein zu wollen› erkenne ich ein großes Potenzial für die Schule, zu einer wirklichen Lebensschule zu werden, sofern Lehrer, Eltern und Schüler bereit sind, immer neue Impulse aus dem Geistigen heraus aufzugreifen.» (‹Die Bedeutung einer spirituellen Pädagogik›, 133f.)

«Ich schätze die Spiritualität der Anthroposophie. Sie ist offen für eine nicht sinnliche Wirklichkeit zwischen Himmel und Erde, besonders für den Christusimpuls, der menschheitlich wirkend unsere Zukunft bedeutet. Er lebt in dem weltethischen Grundimpuls der Nächstenliebe, der mich anspricht. Dieser ist für mich die Basis der anthroposophischen Geisteswissenschaft.

Bei der Lektüre von Steiners Schriften begann ich zu staunen, wie anders man die Welt und den Menschen sehen konnte, als ich es gewohnt war. Bis dahin war ich philosophischen Inhalten gegenüber wenig aufgeschlossen gewesen. Was die Religion betraf, war ich zwar evangelisch getauft und seit 1963 Mitglied im evangelischen Johanniterorden, davon aber damals im Inneren nicht wesentlich geprägt. Die anthroposophischen Inhalte jedoch zogen mich sofort in ihren Bann: Darüber wollte ich mehr erfahren, das wollte ich mir aneignen. Bis heute ist es aber wahrscheinlich doch so, dass ich den wirklichen Zugang zur Anthroposophie über das Tun in der Welt gefunden habe und finde.» (‹Frischer Wind in den 80er Jahren ‒ Waldorfkindergarten und Waldorfschule Salzburg›, 123)

«Tatsächlich erfahre ich an jedem Tag, den ich bei CES Waldorf verbringe, eine weit über das normale Maß hinausgehende Motivation unserer Mitarbeiter. Sie beruht größtenteils auf der Tatsache, dass hier etwas Geistiges existiert, das über uns allen steht und woraus wir Kraft schöpfen können. Es ist wie eine Art Schutz, die es ermöglicht, dass das Projekt an diesem Ort weiterexistiert und noch nicht von kriminellen Kräften angegangen wurde. Denn wir leben ja mitten in einem von Gewalt, Tod und Verzweiflung geprägten Umfeld. Ohne die Mitwirkung dieser Geistigkeit könnte CES Waldorf nicht bestehen, davon bin ich absolut überzeugt. Dieser geistige Schutzmantel ist vielleicht nicht unbedingt sichtbar, aber er lässt sich erspüren. Jeder Besucher, der das ‹bunte Haus› betritt, spürt es sofort: Eine von Liebe und Aufmerksamkeit getragene menschliche Wärme strömt jedem entgegen, der dafür offen ist.

So möchte ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von CES Waldorf auch nicht vorrangig als Lehrer (sprich: ‹profes›) bezeichnen, sondern vielmehr als Menschen, die jeden Tag ihren persönlichen Beitrag dazu leisten, gemeinsam einen hohen sozialen Impuls zu entwickeln, ein soziales Gesamtkunstwerk zu erschaffen. Dies erfordert eine besondere Wachheit und Präsenz im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen, eine Bewusstseinskraft, die immer wieder neu geschult werden muss und dadurch wachsen kann. Sie hält ständig offen dafür, dass auch eine übersinnliche Wirklichkeit hereinleuchten kann. Durch dieses höhere Bewusstsein fühlen sich die Menschen begleitet und beschützt. Und das verleiht ihnen die Fähigkeit, die erlebte Würde des eigenen Menschseins an die Kinder und deren Eltern weiterzugeben.» (‹Ein Traumatisierter hilft Traumatisierten›, 175f.)

Unsere Botschaft

«Diesen Menschen, die für sich keinen Platz in der Welt sehen, versuchen wir Impulse zu geben, indem wir im liebevollen Umgang miteinander Aggressionen abbauen und den Willen schulen. Das bedeutet unendlich viel tägliche soziale Arbeit, bei der auch der Aspekt des Schenkens eine gewisse Rolle spielt.

Mir ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür anzuregen, wie wichtig es ist, sich gegenseitig zu beschenken. Soziale Arbeit kann nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn sie aus diesem Bewusstsein heraus praktiziert wird. Schenken hat ja nicht nur mit Geldmitteln zu tun, sondern viel mehr mit Anteilnahme, mit einem Hindenken, Hinfühlen auf einem auf den Nächsten ausgerichteten Handeln. Genau das ist es, was Rudolf Steiner in seiner allgemeinen Menschkunde vertritt. Eine Pädagogik, die im Menschen nicht nur den äußeren Körper sieht, sondern die ihn als geistig-seelisches Wesen begreift und die damit einhergehende Entwicklungsfähigkeit jedes einzelnen dieser uns anvertrauten jungen Menschen wahrnimmt und fördert.

Ganz konkret äußert sich das in unserem Bemühen, das Selbstgefühl dieser oftmals seelisch gebrochenen Kinder und Jugendlichen wiederherzustellen und ihnen die Einsicht zu vermitteln: ‹Ich bin jemand! Ich lerne etwas, das sinnvoll ist, und ich kann etwas erreichen: Darum bin ich da.›

Und meine Botschaft an diese jungen Menschen lautet stets: ‹Wenn ihr wollt, dann könnt ihr in euerem Leben etwas erreichen. Widerstände sind dazu da, um überwunden zu werden. Widrige Voraussetzungen ‒ na und?›» (‹Unsere Botschaft›, 178f.)

Motivation

«Die jungen Menschen haben einen biographischen Aspekt in mir angerührt und ich in ihnen ‒ eine Art schicksalshafte Verknüpfung in beide Richtungen. Man könnte es auf die Formel bringen: Das ehemals traumatisierte Kind hilft anderen traumatisierten Kindern.

Diese meine ureigenste Motivation ist mir erst vor ein paar Jahren bewusst geworden. Mir war und ist es ein Anliegen, dass das, was ich in Berlin während der Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt habe, diese Kinder und Jugendlichen heute nicht mehr erleben müssen. Das ging nur, indem ich die Ärmel hochkrempelte und zur Tat schritt.» (‹Ein Traumatisierter hilft Traumatisierten›, 174)

«Wir waren getrieben von der Erkenntnis, dass jedes Kind, jeder Jugendliche ebenso wie jeder Erwachsene ein individuelles Wesen ist und als solches ein Recht hat auf ein würdiges Leben. Darum bestand unser Ansatz von Anfang an darin, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass möglichst viele junge Menschen in unserem Stadtteil ihr Leben nach ihren eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten gestalten können. Dazu gehören so selbstverständliche Werte wie Verständnis für den anderen, Liebe, menschliche Wärme und Nähe. Es geht uns weniger um die Vermittlung von Wissen als vielmehr darum, eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung anzuregen, um sozusagen so weit wie möglich auch Gestalter der eigenen Biographie werden zu können.» (‹Ein Traumatisierter hilft Traumatisierten›, 175)

«Ich wollte eine Kultur der gegenseitigen Wertschätzung etablieren und die Menschen auf ihre Kräfte zur Gestaltung der Zukunft hinweisen. Meine drei Ds kamen in meinen Reden immer wieder vor: Disziplin, Dankbarkeit und Demut. Demut gegenüber dem Höheren, Dankbarkeit im Miteinander, Disziplin im Umgang mit sich selbst.

Demut ist eine Art Gehorsam gegenüber dem Geistigen im Sinne des ‹Dein Wille geschehe› des Vaterunsers ‒ Vertrauen, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit gegenüber einem höheren Willen. Als Organisator eines Projekts wie CES Waldorf, auf das ich später noch eingehen werde, fühlte ich mich nicht als zentrale Figur, sondern als demütiger Vermittler zwischen ‹Oben und Unten›.

Dankbarkeit ist im täglichen Miteinander eine zentrale Tugend, die man leider leicht vergisst: Den Menschen gegenüber, mit denen man arbeitet, aber auch gegenüber der Welt, die man als geistige oder Engelwelt bezeichnen kann ‒ ohne deren Hilfe ein Projekt wie CES Waldorf nicht möglich ist.

Um die dritte Tugend im Bunde, die Disziplin im Umgang mit sich selbst, musste ich mich eigentlich nie besonders bemühen ‒ die war mir durch meine preußischen Vorfahren wohl angeboren.» ‹Die Jahre als Obmann der Rudolf-Steiner-Schule Salzburg›, 130f.)

«Sehr eindrücklich wird diese Kombination von Armut und Gewalt vom neunjährigen Carlos beschrieben, dessen Geschichte hier exemplarisch für die vieler anderer Kinder steht:

‹… Aus der Schule komme ich raus … einfach kaputt, laufe nach Hause, als mich die Polizei und ein Rettungsauto mit Sirene überholen und mir einen kalten Schauder einjagen ‒ bei unserer Bretterbude angekommen, sehe ich meinen Onkel tot auf der Erde liegen, mit allerlei Box- und Schnittwunden, und sehe auch meinen Vater, wie er mit blutgetränkten Händen in der Luft rumfuchtelt … kurz danach führt ihn die Polizei in Handschellen einfach ab …›

Geschichten wie diese sind mir immer wieder ein Ansporn, mich weiter für diese Kinder und die Einrichtung CES Waldorf einzusetzen, die ihnen Halt und Kraft für ihr Leben gibt.» (‹Carlos, neun Jahre, beschreibt sein Leben›, 161f.)

Meine größte Herzensangelegenheit: CES Waldorf

«Meine größte Herzensangelegenheit bis heute ist CES Waldorf, Centro Educativo y Social Waldorf, in Bogotá, über das im Jahr 2014 das Buch ‹Zukunft für Zukunftslose› in Zusammenarbeit mit Peter Daniell Porsche erschienen ist. Seit der Gründung dieser Einrichtung konnten wir mehr als 1900 Kindern und deren Familien helfen. Täglich betreuen wir mehr als 200 Kinder und deren Angehörige.

Die Gründung dieser Einrichtung verlief aufregend. 1990 hatte eine Gruppe von rund 70 landflüchtigen, obdachlosen Familien ein Gelände entlang der Eisenbahnschienen besetzt, die durch Bogotá führen. Sie lebten in einfachsten, selbstgebauten Slumhütten unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Die Stadt Bogotá drohte nun im Jahr 1997 damit, die Siedlung gewaltsam zu räumen. Das Gebiet war schon von 300 Polizisten einer Antiterror-Einheit umzingelt, die Bulldozer standen bereit, da gelang es uns gerade noch rechtzeitig, eine Verschiebung der Räumung um eine paar Monate zu erwirken ‒ unter diesen Umständen ein kleines Wunder. Wir nutzten die uns verbliebene Frist, um eine gewaltlose Umsiedlung der Bewohner nach Sierra Morena, im Süden von Bogotá zu bewerkstelligen, und erwirkten für die Familien das Recht auf Wohnraum. Damit war uns die erste und bisher wohl einzige gewaltfreie Umsiedlung in diesem Land gelungen!» ‹Meine größte Herzensangelegenheit: CES Waldorf›, 156f.)

«Überall herrscht Angst. Besonders junge Frauen sind gefährdet ‒ sie versuchen nicht aufzufallen und verlassen ungern ihre Behausung. Es ist die Angst, entführt, bedroht und geschlagen zu werden, keine Arbeit zu finden, die Kinder nicht ernähren zu können; Angst, den Blick zu heben, und Angst, zu verlangen, was einem von Rechts wegen zusteht; Angst, vom eigenen Ehemann verprügelt zu werden oder den eigenen Namen zu sagen, denn er könnte von falscher Seite gehört werden; Angst, wegen fehlender Schulbildung nicht richtig sprechen zu können etc. Die Stimmung der Menschen in Sierra Morena pendelt ständig zwischen Furcht und Resignation. Kaum jemand glaubt, sein Schicksal selbst an die Hand zu nehmen.

Das Slumgebiert um CES Waldorf ist ein Auffangbecken für eines der größten Probleme Kolumbiens: die Landflucht im Zuge des Bürgerkrieges, der ständigen Kämpfe zwischen illegalen bewaffneten Gruppen und staatlichen Sicherheitskräften. Es ist nicht so sehr die Armut, die die Menschen quält, als die Kombination aus Armut und Gewalt, die das Leben aussichtslos erscheinen lässt.» (‹Meine größte Herzensangelegenheit: CES Waldorf›, 159f.)

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