Der Weg zu Fülle und Nichts (1991)
Vortrag  von Bruder David,
Audio und Mitschrift bearbeitet von Hans Businger

«Wenn man zu einem Vortrag kommt, der den Weg zu Fülle und Nichts im Titel hat, dann ist es schon klar, dass es hier nicht um eine vorwiegend akademische Abhandlung gehen kann, sondern, dass der Titel selbst schon dichterisch ist. Und für uns ist es nicht so leicht, aus unserem alltäglichen Leben in das Dichterische einzutreten. Manchen fällt es weniger schwer, andern mehr, aber wir alle müssen eine gewisse Bemühung machen, dorthin zu kommen.

Ich würde vorschlagen, dass wir, was ich Ihnen zu sagen habe, mit einem Gedicht verbinden. Und zwar mit einem der Sonette an Orpheus von Rilke, das mir schon lange sehr lieb ist, und das uns wirklich in diese Welt einführt.[1] Und um uns auf das Dichterische einzustimmen, würde ich vorschlagen, dass wir die ersten paar Zeilen dieses Gedichtes anhören, aber noch ohne uns über den Inhalt Gedanken zu machen. Nur reine Musik. Es ist das 13. der Sonette an Orpheus aus dem zweiten Teil: die ersten vier Zeilen gehören zum Schönsten und Musikalischsten in der deutschen Sprache. So könnten wir uns vielleicht zunächst nur die Musik anhören; ich lese sie Ihnen mal vor, aber bitte nur zuhören und nicht … wenn Sie’s können, nicht zu sehr darüber nachdenken. Nur der Klang …

Ich habe das öfters schon Leuten vorgelesen, die gar nicht Deutsch können, und schon der Eingang ist bezaubernd, im wahren Sinn des Wortes bezaubernd, denn wir wollen uns eben bezaubern lassen und durch diesen Zauber hineinführen in eine Welt, in der allein wir eine Sprache sprechen können, die dem gewachsen ist, wovon wir hier sprechen wollen.

Die dichterische Sprache ist tragkräftiger für Wahrheit als irgend eine andere Ausdrucksweise.

Die abstrakte logische Sprache wird zu gebrechlich, lange bevor wir noch das gesagt haben, was wir eigentlich wirklich sagen wollen. Die dichterische Sprache ist tragfähig. Das wissen wir alle aus unserer eigenen Erfahrung: Wenn wir wirklich von Einsicht und Lebenserfahrung und Liebe überwältigt werden, werden wir plötzlich dichterisch in unserer Ausdrucksweise. Das zeigt uns schon, dass unser gesunder Instinkt uns in diese Richtung weist.

Diese ersten vier Zeilen des Sonettes lauten:

‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.›
[2]

Um noch tiefer einzudringen, schlage ich jetzt vor, wir machen es gemeinsam. Ich lese die erste Zeile, Sie sprechen sie nach. Ich lese die zweite Zeile und Sie sprechen sie nach …

(07:25) Ich habe das Gefühl, wir sind jetzt schon auf einer Ebene, wo wir vielleicht leichter darüber sprechen können. Wir fangen hier mit Abschiednehmen an. Rilke spricht öfters darüber, dass viele der großen Dinge mit Ende beginnen und mit Anfang enden.[3]

Kein schlechter Anfangspunkt für uns, wenn wir über Fülle und Nichts sprechen wollen, mit dem Abschied zu beginnen.

Und zwar wissen wir alle, auch wenn wir uns darüber oft nicht Rechenschaft geben, nicht darauf reflektieren: Wir wissen alle, dass wir immer wieder Abschied nehmen müssen.

Zum Beispiel: Wir sind hier zusammen jetzt in diesem Raum, in dieser Gruppe von Menschen: Schon von Anfang an bietet sich eine gewisse Gemeinsamkeit. Im Laufe unseres Gespräches ‒ und ich hoffe, dass es wirklich ein Gespräch wird, wir uns Zeit lassen zu einem wirklichen Gespräch ‒,[4]

im Laufe dieses Gespräches werden wir noch mehr zusammen Gemeinschaft erleben. Aber in dieser Zusammenstellung werden wir uns nie wieder in alle Ewigkeit treffen. Wir werden nie wieder alle in einem Raum zusammen sein hier.

Und selbst mit unsern engsten Freunden und Freundinnen wissen wir, dass einmal ein Abschied sein wird, und wir werden einander nicht wieder sehen.

Und wenn wir das einmal ernstlich ins Auge fassen, dann ist es nicht so makaber oder lebensverneinend, wie es auf den ersten Blick aussieht, sondern ungeheuer lebensbejahend.

Denn der Grund, warum wir so häufig so halblebendig sind, ist, dass wir immer glauben, dass noch Zeit ist für die nächste Hälfte, obwohl wir keinerlei Garantie dafür haben.

Wenn wir das ernst nehmen, dass das vielleicht ‒ und es ist sehr leicht möglich ‒, unsere letzte Begegnung ist ‒ ich spreche jetzt über irgendeine Begegnung zwischen zwei Menschen ‒, wenn wir es wirklich ernst nehmen: das könnte jetzt unsere letzte Begegnung sein, dann wird es zu unserer ersten: So waren wir noch nie zusammen, so offen, so bereit.

Und das gilt nicht nur für die Begegnung und das Abschiednehmen zwischen Menschen, sondern mit allem: Wenn wir unsere Suppe so essen, dass wir wirklich Abschied davon nehmen und nicht so überzeugt sind, dass es morgen wieder Suppe geben wird, sondern ‒ vielleicht leben wir morgen nicht mehr ‒, dann wird das plötzlich die letzte, aber auch die erste Suppe, die wir mit solcher Begeisterung essen.

So stelle ich mir das vor und Rilke scheinbar auch, denn er spricht ausdrücklich davon, dem Abschied voran zu sein. Wir denken immer, dass der Abschied später kommt.

(11:13) Darum leben wir nicht voll. Und Spiritualität heißt ja volles Leben. Spiritus ist Lebensatem, und spirituell leben heißt, völlig lebendig sein, völlig durchatmen, wirklich lebendig. Wenn wir dem Abschied voran sind, und nicht darauf warten, dann werden wir wirklich lebendig:

Sei dem Abschied voran ‹wie der Winter, der eben geht›,

und dieses eben ist wunderschön da hineingesetzt ‒, das kann zweierlei bedeuten: Hier, jetzt im Mai ‒ es war ein langer Winter und lange kalt, wir sind eigentlich gerade an dieser Stelle und schauen die Frühlingsblumen an ‒, und wir werden aufgefordert, dem Abschied voran zu sein wie der Winter, der ‹eben geht›, der soeben, zu dieser Zeit, geht.

Aber da ist noch eine andere Bedeutung zu dem Wort eben ‒ er geht eben ‒, ‹der Winter, der eben geht›, der nicht noch herumhängt und noch wartet.

So sollen wir auch wie die Jahreszeiten kommen und wieder gehen, und uns nicht anhängen, sondern dem Abschied voran sein: der Winter ist auch dem Abschied voran.

Und warum? Weil unter Wintern einer so endlos Winter ist, dass wenn unser Herz den Winter übersteht, es überhaupt übersteht.

Und zwar müssen wir da nicht unbedingt nur an den  l e t z t e n  Winter denken, also an unseren leiblichen Tod ‒, das legt sich nahe:

Jeder Abschied ist eine Art von Sterben, und unser letztes Sterben ist dann dieser ‹endlos Winter›.

Ich glaube eher, dass in dem Augenblick, wo wir wirklich aufwachen und wirklich lebendig werden, weil wir eben dem Winter ‒ dem Abschied ‒ voran sind, irgendein Abschied als dieser endlose Winter erlebt werden kann, wenn überstehen heißt, dass ‹das Herz überhaupt übersteht›.

Mit anderen Worten: Wir nehmen dann eine innere Haltung ein, die es uns ermöglicht, immer zu überstehen.

Und der Winter ist ja für die Pflanzen, für die Tiere und oft auch für die Menschen, die nicht so vom Schicksal begünstigt sind wie wir, eine sehr große Gefahr: Werde ich diesen Winter noch überstehen?

(14:14) Wenn wir aber dem Abschied voran sind, dann sind wir Überstehendeüberstehen: ein wunderschönes Wort ‒, dann stehen wir schon darüber, dann sind wir in einen Bereich eingetreten, der über dem Zeitlichen steht, über dem nur-Zeitlichen. Dann sind wir in das Jetzt eingetreten. Dort ist unser wahres Leben: in dem Jetzt, wo wir wirklich sind.

Wir können uns ja fragen: Wo sind wir denn wirklich?

Wir sehnen uns darnach, echt zu sein, wirklich zu sein:[5]

Wo können wir wirklich sein? ‒ Nur im Jetzt.

Denn in der Vergangenheit waren wir ‒ sind wir nicht ‒, in der Zukunft werden wir sein ‒ sind wir nicht ‒, wenn wir also wirklich sein wollen, so muss das in diesem Augenblick sein.

Wo ist dieser Augenblick? Wo ist dieses Jetzt?

Tja, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, Sie werden sagen, das ist diese kurze Zeitstrecke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft.

Ja, wenn es eine kurze Zeitstrecke ist, dann hindert uns ja nichts daran, diese kurze Zeitstrecke in die Hälfte zu schneiden, und eine Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist ‒ Haarspalterei ‒, aber solange es ein Haar ist, kann man es spalten, es hindert uns nichts dran.

Wo ist das Jetzt, wo das ‹Ist›, wo  s i n d  wir?

Wir beginnen plötzlich zu sehen, dass die Zeit, in der wir leben, nicht diese lange Eisenbahnlinie ist, wie wir es uns gewöhnlich vorstellen, sondern ein Prozess, in dem die Vergangenheit ununterbrochen die Zukunft auffrisst ‒ restlos ‒, kein Rest, kein Stückchen dazwischen.

Wo ist ‹Ist›, wo ist Jetzt? ‒ Jetzt ist nicht in der Zeit.

Darum existieren wir als Menschen. Ex-istieren heißt wörtlich heraus-stehen: Als Menschen erleben wir uns als die Geschöpfe, die aus der Zeit herausstehen. Wir ragen aus der Zeit heraus in das Jetzt.

Wir leben in der Zeit, aber wir gehören nicht ganz der Zeit an, wir kennen das Jetzt, und jedes Kind kennt das Jetzt, und das Jetzt ist in der Zeit nicht zu finden,

und das Jetzt ist Ewigkeit.

Denn die Ewigkeit ist keine lange, lange Zeit ‒ das sollten wir wissen ‒, das wäre ja nur Zeit, das wäre nicht eine andere Dimension.

Und da gibt’s so Geschichten von diesem winzigen Vogel, der zu diesem Berg geflogen kommt und einmal in tausend Jahren den Schnabel daran wetzt, und wenn der ganze Berg weggewetzt sein wird, dann wird eine Sekunde der Ewigkeit vergangen sein. Das ist eine herzige Geschichte, aber sie hat absolut nichts mit Ewigkeit zu tun. Es ist immer noch lange, lange, lange Zeit.

Ewigkeit ist das Gegenteil von Zeit, Ewigkeit ist das ‹Jetzt ‒, das nicht vergeht›, das Jetzt, einfach das Jetzt, außerhalb, überhalb der Zeit, in das wir hineinragen, das wir schon kennen. Wir kennen es alle, wir wissen alle, was Jetzt heißt, und wir finden es nicht in der Zeit.

Augustinus sagt das sehr schön, er definiert aeternitas ‒ Ewigkeit mit den im Lateinischen eleganten zwei Worten: ‹Nunc stans›: ‹das Jetzt, das steht›, oder: ‹das Jetzt, das Bestand hat›:[6]

In unsern besten, lebendigsten, Augenblicken kennen wir dieses Erlebnis, dass die Zeit stillsteht. Es ist eigentlich nur ein Bruchteil einer Sekunde, und wir haben so viel erlebt, das in Jahren keinen Platz findet. Oder es ist eine lange Zeit, wir sitzen da und schauen diesen Regenbogen an, oder sitzen dort am Meer oder sonst in irgendeiner Situation, wo wir plötzlich weg sind, und zwei Stunden sind vergangen, und es erscheint uns wie Sekunden, oder das ähnliche Phänomen: Stunden erscheinen uns wie Sekunden.

Die Zeit existiert nicht, wenn wir im Jetzt sind, und in unsern besten, lebendigsten, Augenblicken sind wir eben in diesem Jetzt.

(19:53) Und das führt uns jetzt genau zur nächsten halben Zeile der zweiten Strophe:

‹Sei immer tot in Eurydike.›

In den Sonetten an Orpheus sind immer wieder Anspielungen auf den Mythos von Orpheus und Eurydike, und Eurydike steht hier für die große Geliebte, die in der Blüte ihrer Jahre stirbt, gebissen von einer Schlange, und muss in den Hades hinunter. Und Orpheus geht ihr nach ‒ das ist auch so wunderschön ‒, er ist der große Sänger und singt vor Hades, dem Gott der Unterwelt und Persephone, seiner Braut, die Hades in die Unterwelt entführte, und beide sind so gerührt, dass Hades sogar weint ‒ eiserne Tränen ‒, der Gott der Unterwelt kann nur eiserne Tränen weinen. So gerührt sind sie, dass sie Orpheus sogar die Erlaubnis geben, Eurydike wieder heraufzubringen unter der Bedingung, dass er sich nicht umdreht und sie nicht anschaut, bevor sie beide im Licht der Sonne sind. Und das gelingt Ihnen nicht ‒ da sind verschiedene Versionen: entweder, weil er ungeduldig wird, oder, weil er schon im Licht der Sonne ist, aber sie noch nicht ‒, jedenfalls muss sie wieder zurück, aber das geht uns hier eigentlich nichts an, es gefällt mir so gut, dass ich die ganze Geschichte erzähle.[7]

‹Sei immer tot in Eurydike›: Orpheus ist ‹tot in Eurydike›, er geht ‹dem Abschied voran›, schon vor dem Ende seines Lebens geht er in die Unterwelt hinunter, um sie zurückzubringen: Das gelingt ihm nicht, er ist ‹tot in Eurydike›, er ist tot, aber nicht im Sinne von nicht lebendig›:[8]

(22:34) Und jetzt kommen wir unserem Thema schon näher, denn Rilke fährt weiter:

‹Sei immer tot in Eurydike –,  s i n g e n d e r  steige,
p r e i s e n d e r  steige zurück in den reinen Bezug.

In den reinen Bezug. Alle unsere Beziehungen zu einander und zu der Welt und zu den Dingen und zu uns selbst und zum göttlichen Horizont aller Dinge, all diese Beziehungen werden nur reiner Bezug, wenn wir dem ‹Abschied voran› gehen. Und zwar

‹singender steige … zurück›:

Orpheus, der zurückkommt singt, er ist der große Sänger, es sind Klagelieder, aber Lieder sind immer Gesang, auch wenn sie Klagelieder sind, er singt so überwältigend, dass die Bäume sich entwurzeln und mit ihm tanzen, und die Felsen ihm zuhören, und die Löwen ihm zuhören, das gehört alles zu diesem mythischen Bild dazu:[9]

‹… singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug›,

umso preisender, weil du das Leben auf dem Hintergrund des Todes siehst ‒ und da kommen wir jetzt zu unserem Thema ‒, weil du das Sein auf dem Hintergrund des Nicht-Seins siehst.

Und nur, wenn wir das Sein auf dem Hintergrund des Nicht-Seins sehen, nur wenn wir ‒ praktisch gesprochen ‒ diese Begegnung jetzt auf dem Hintergrund des Umstandes sehen, dass wir unter Umständen uns nie wieder sehen werden, wird es wirklich lebendig und voll.

Darum:

‹… singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug›
:

Wenn Orpheus aus der Unterwelt kommt, steigt er zurück, steigt in den ‹reinen Bezug›, in das Jetzt, zu dem auch wir aufsteigen.[10]

Hier ‒ und jetzt wird unsere Situation in dieser Welt wunderbar charakterisiert ‒, zuerst:

‹Hier unter Schwindenden›:

das ist unser Leben hier: Wir leben unter Schwindenden. Daher dieses ständige Abschiednehmen;

und dann ein zweites Bild: ‹Hier unter Schwindenden›

‹im Reiche der Neige›:

‹Der Tag hat sich geneigt›,[11] alles neigt sich, wenn die Blumen welk werden, neigen sie sich, wir leben hier im Reich der Neige und unter Schwindenden.

Und jetzt die große Aufforderung:

‹Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.›

Das ist dieser Augenblick, das ist dieses Jetzt:

‹sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.›

Das ist der Abschied, der voraus weggenommen wird, das ist das Zerbrechen, aber es ist zugleich das Klingen:

Und auf was warten wir denn, als darauf,
dass wir endlich klingen und völlig Klang werden?

Das Glas wartet ja nur darauf, endlich wirklich Klang zu werden. Und wir schieben das immer hinaus und schieben das immer hinaus, jaja, aber noch nicht.

Augustinus hat das selber sehr gut gekannt in seinem berühmten Gebet: ‹Gott mache mich keusch, aber noch nicht›.[12]

(26:30) Also ich lese noch einmal den ersten Teil dieses Sonettes, die ersten acht Zeilen, die bei einem Sonett immer den ersten wichtigen Teil darstellen, der dann mit den nächsten sechs Zeilen ergänzt und abgerundet wird:

Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.

Sei immer tot in Eurydike –, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.

Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.›

Und jetzt wird’s noch philosophischer und noch mehr auf unsere bestimmte Frage der Weg zu Fülle und Nichts wie ausdrücklich abgestimmt:

‹Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung›:

Mit anderen Worten: Wenn die alten Mönche auf ihre Sonnenuhren geschrieben haben: ‹Memento mori› ‒ ‹gedenke, dass du sterben musst›, so war das ja nicht irgend eine makabre Idee: halte den Tod vor Augen, sondern das war einfach wie die letzte Zeile eines berühmten spätlateinischen Gedichtes, das heißt ‹das tanzende Mädchen›, und die letzte Zeile heißt: ‹Lebe doch›, sagt der Tod, ‹ich komme›. ‹Der Tod zieht mich beim Ohr›, heißt‘s:

‹Der Tod zieht mich beim Ohr› und sagt: ‹Lebe doch ‒, ich komme›:

‹Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung›:

Du kannst nur sein, wenn du des Nicht-Seins Bedingung kennst. Und er nennt jetzt des Nicht-Seins Bedingung,

‹den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.›

‹Grund› hat ja auch eine wunderbare Doppelbedeutung: Einerseits ist es der Abgrund des Nichts, der unter der Fülle des Seins liegt, und anderseits ist es der Grund im Sinne der Begründung auch:

Nur des Nicht-Seins Bedingung, nur unser Wissen um die Möglichkeit des Nichtseins, nur unser Wissen um die Tatsache, dass wir rundum vom Nichtsein umgeben sind, dass wir uns wundern müssen, warum denn überhaupt irgendetwas ist ‒

‹Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen›,[13]

heißt es wieder in einem Gedicht:

Uns das bewusst machen, macht uns völlig lebendig: Dieses Nichts gibt uns erst die Fülle des Lebens.

‹Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.›

Dieses ‹einzige Mal› ‒ es gibt kein zweites Mal ‒, es ist nur ‹dieses einzige Mal›:[14]

Und wenn es wirklich sich noch einmal ereignen sollte, dass wir uns begegnen, oder dass wir diese Suppe essen ‒ es ist ja nicht dieselbe Suppe, aber dasselbe Rezept ‒, dann ist es wieder nicht dasselbe, niemals dasselbe, wie Heraklit es schon gewusst hat: ‹Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen›.

(30:47) ‹Den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung›:

Da gibt es ein wunderbares Gedicht, das ich Ihnen leider nur in einer selbstgemachten Übersetzung darbieten kann, und zwar ist es von John Cage ...[15]

Wir sprechen jetzt über ‹den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung›, und das Gedicht von John Cage lautet:

‹Wenn du es loslässt, dreht es sich selbst ‒
du bist überflüssig:
Jedes etwas feiert das Nichts, von dem es getragen wird.

Wenn wir die Welt abladen von unseren Schultern ‒
Siehe da: Sie trägt sich selbst:
Wo liegt unsere Verantwortung?›

‹If you let it, it supports itself.
You don’t have to.
Each something is a celebration of the nothing that supports it.

When we remove the world from our shoulders
we notice it doesn’t drop.
Where is the responsibility?›

Wo ist unsere Verantwortung, wenn alles sich selber trägt, wenn jedes Ding verstanden werden kann als die Feier des Nichts, das es trägt?

Wo ist dann unsere Verantwortung? Wir sind ja auch Ding, das getragen wird von dem Nichts:

Wo ist dann unsere Verantwortung?
Darin, es zu feiern,

feiern, wie Rilke in einem andern berühmten Sonett sagt:[16]

‹Rühmen, das ist’s.

Und das ist unsere Aufgabe im Leben: zu preisen.

‹… singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.

Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.›

(34.19) Wir sprechen jetzt über den Augenblick, das Jetzt, das weder der Vergangenheit noch der Zukunft angehört, mit einem neuen Bild in den letzten drei Zeilen des Sonetts:

‹Zu dem gebrauchten›,

das heißt: zu allem Vergangenen, dem Aufgebrauchten,

‹sowohl wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur›
:

das ist das Kommende,

‹den unsäglichen Summen
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.›

Die Zahl ‒ Bruder David klopft auf das Pult ‒ ist die Zeit, die Zahl ist in diesem Sinn alles, was sich messen lässt, die Zeit im Sinne von Uhrzeit, die Zeit, die mit den Uhren gemessen wird, der Chronos, nicht der Kairos:

Die Griechen haben zwei Wörter für die Zeit: eines ist Chronos, das ist die Zeit, die die Uhren anzeigen, und Rilke sagt das wunderschön:

‹Mit kleinen Schritten gehen die Uhren neben unserem eigentlichen Tag.›[17]

Und was ist unser eigentlicher Tag? Kairos-Zeit, das heißt: Zeit zur Entscheidung. Letztlich ist es Zeit, sich zu entscheiden: ent-scheiden.

Kairos ist Zeit für Entschluss. So könnte man es vielleicht am besten sagen:

Kairos ist Zeit für Ent-schluss.

Solange wir im Chronos bleiben ‒ Chronos ist in der Mythologie der Gott der Zeit, der seine Kinder auffrisst ‒, solange wir in dieser Zeit der Uhren bleiben, sind wir noch nicht ent-schlossen, sondern sind gefangen.

Wenn wir in den Kairos eintreten, wenn wir die Zeit jetzt verstehen als

Gelegenheit, völlig zu sein ‹dieses einzige Mal›,
das ist Entschluss,
und wir entschließen uns zu dieser Ent-schlosseneheit zum Ganzen.

Und darauf kommt es an, und ‒ in diesem Augenblick ‒ dieser Entschluss ist, dichterisch gesprochen, ‹der Weg zu Fülle und Nichts›, zu einer wirklichen Anerkennung des ‹unendlichen Grundes unserer innigen Schwingung›‹des Nicht-Seins Bedingung› völlig anerkannt, und zugleich ‒: daraus entsteht die volle Lebendigkeit,

‹ein klingendes Glas› sein, ‹das sich im Klang schon zerschlug›.

Dazu müssen wir uns entschließen können. Das ist die große Aufgabe, das ist nicht leicht. Es ist ungeheuer schwierig sogar.

(37:50) Ein anderer Aspekt jetzt: Der Abschied ist eigentlich das Verlassen:

‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlich Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.

Sei immer tot in Eurydike –, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.

Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.

Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.›

Wir sollten uns vielleicht daran erinnern, wenn wir das nächste Mal zu der bitteren Einsicht kommen:

‹Ich kann mich auf nichts verlassen.›

Ein wunderbarer Satz! Er kommt uns auf die Zunge gerade im rechten Augenblick:

‹Ich kann mich auf Nichts verlassen.

Wirklich: Ich kann mich verlassen ‒ auf Nichts‹Wir können auf Wasser gehen›. Das Nichts ist auch etwas: die Fülle des Lebens entspringt daraus.»

(40:13) Alle singen als Übergang zum Gespräch gemeinsam den Kanon von Pretorius: «Viva la musica».

Bruder David im Gespräch nach dem Vortrag:[18]

«In ausdrücklich christlicher Terminologie gesprochen: Was ist das Nichts von dem wir getragen werden? Gott. Gott ist nichts. Gott ist nicht etwas, schon gar nicht etwas anderes,[19] aber nicht ein leeres Nichts,[20] sondern das Nichts, auf das wir uns verlassen können. Und wenn wir uns auf dieses Nichts verlassen, dann sehen wir, wie verlässlich es ist.[21] Davon kann man niemanden überzeugen, aber man braucht ja auch niemanden zu überzeugen. Man kann ja nur sagen: Versuch’s einmal. Und man merkt sofort, dass man sich auf dieses Nichts verlassen kann: Es trägt.

‹Die Antennen fühlen die Antennen und die leere Ferne trägt›,[22]

sagt Rilke.

Und so, wenn wir uns auf Nichts verlassen, trägt uns das Nichts, wenn wir uns auf Gott verlassen, dann trägt uns Gott, wir erleben das einfach.»

_______________

[1] Die Beziehung von Bruder David zu Rilke und besonders zu ‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter/dir› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII) ist einzigartig und spürbar in allen seinen Büchern und Vorträgen; siehe den Film Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (40:06).

Abschied, der Klang des Lebens enthält wegweisende Passagen zu diesem Sonett aus dem Credo (2012) und dem Vortrag Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017) (siehe Anm. 3 und 6). In Ergänzend: 2.-4. sind weitere Vorträge zusammengestellt, in denen Bruder David dieses Sonett vorträgt und deutet.

[2] In Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II: 140-148, 150f., den Vorträgen im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft vom 14.-18. September 2014, bildete dieses Sonett ‒ wie auch das vorhergehende (in Anm. 3) ‒ das Herzstück dieser vier intensiven Tage

[3] Rilke: ‹Wolle die Wandlung› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XII); siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 151-155, und Abschied, der Klang des Lebens: Ergänzend: 2.-3.:

«Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung;
und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne,
das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.»

[4] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 31

«Ein ernstes Gespräch ist kein Wortwechsel, das ist eher ein Austausch von Schweigen: Schweigen mittels Worte. Was ausgetaucht wird ist nicht ein Wortwechsel ‒ ein Schweigewechsel. Ein gemeinsames Schweigen in das man sich einlässt.»

[5] Siehe auch in Das Vaterunser (2022), 106; ebenso in Erlösende Kraft, Anm. 4; Altern, Anm. 14, und Reifen, Anm. 7:

«In dem klassischen Kinderbuch von Margery Williams ‹The Velveteen Rabbit›, erschienen 1922, das es als ‹Der Samthase› auch auf Deutsch gibt, reden bei Nacht die Puppen und Teddybären über ihren sehnlichsten Wunsch: wirklich zu werden. ‹Tut Wirklichwerden weh?›, fragen sie das alte, erfahrene Schaukelpferd. Das aber weiß: Einem, der wirklich wird, macht es nichts aus, dass das wehtut.»

[6] Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 89-91; Jetzt und ewiges Leben: Anm. 8:

Der Ausdruck nunc stans findet sich erstmals bei Thomas von Aquin (1225-1274). Er hat eine lange Vorgeschichte, beginnend mit Platon (428-348 v. Chr.) und weiterführenden Beiträgen von Plotin (205-270), Augustinus (354-430), Boethius (ca. 480-524) und späteren Denkern zum Thema ‹Zeit und Ewigkeit›.

Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2 ‒ Nachmittag: Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch (Bruder David):
(13:57) Ganz im Jetzt sein: ‹The moment in and out of time› (T. S. Eliot) ‒ ‹Das Nirgends ohne Nicht› (Die achte Duineser Elegie) ‒ ‹Nunc stans›: Ewigkeit ‒ das Jetzt, das nicht vergeht / (18:15) Im Selbst sein und im Jetzt sein ist identisch ‒ ‹All is always now› (T. S. Eliot) ‒ Immer wieder ins Jetzt kommen: das Kernanliegen aller spirituellen Wege

[7] Siehe auch Bruder David zum Mythos von Orpheus und Eurydike in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 52-56

[8] Sinngemäße Wiedergabe mit Blick auf Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 54; Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 141f.; den Film Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017) ab (06:16); den Text im Buch Credo (2012), 226, in Abschied, der Klang des Lebens

[9] Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XXVI: ‹Du aber, Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner›; siehe das Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 55f.

[10] Siehe in Rühmen, Er-innern, Aufheben: Anm. 2, den dreifachen Sinn des hegelschen Begriffs ‹aufheben›: negieren (tollere) ‒ emporheben (elevare) ‒ bewahren (conservare)

[11] ‹Herr bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget› (der Kanon mit Bezug auf die Begegnung der Emmausjünger mit dem Auferstandenen in Lk 24,29); siehe auch Abschied, der Klang des Lebens: Ergänzend: 2.3.: das Baumnamensuffix đr[a] verrät, dass Trauer Neige und Trost die Kraft ist, sich aufzurichten

[12] Augustinus: Confessiones VIII, 7, 17

[13] ‹Media in vita morte sumus›; siehe auch Rilke: ‹Der Tod ist groß› in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 116

[14] Im Buch Credo (2012), 225, zitiert Bruder David folgende Passage aus der Neunten Duineser Elegie von Rilke:

«Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar
alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das
seltsam uns angeht. Uns, die Schwindensten.  E i n  Mal
jedes, nur  e i n  Mal.  E i n  Mal und nichtmehr. Und wir auch
e i n  Mal. Nie wieder. Aber dieses
e i n  Mal gewesen zu sein, wenn auch nur  e i n  Mal:
i r d i s c h  gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.»

[15] ‹Composer John Cage: Konzepte wider den Zwang› (Du, die Zeitschrift der Kultur, Heft Nr. 5, Mai 1991)

[16] Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, VII; siehe das Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 132f. und Rühmen, Er-innern, Aufheben

[17] Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XII; siehe Jetzt und ewiges Leben: Anm. 10: Credo (2015): ‹Das ewige Leben›, 223f.; R. M. Rilke: ‹Heil dem Geist, der uns verbinden mag›, das vollständige Sonett in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 96f.

[18] Audio ‹Wo ist die Verantwortung?(John Cage) in Festival «Die Kraft der Visionen» (1991): 2.2: ‹Der Weg zu Fülle und Nichts› ‒ Die Themen des Gesprächs

[19] Siehe Religionen und heiles Gottesbild: Ergänzend: 3. Audios / Text zu ‹Gott ist nicht jemand Anders› ‒ ‹God isn‘t somebody else› (Thomas Merton)

[20] Siehe Religionen und heiles Gottesbild: Ergänzend: 2.2. Vortrag An welchen Gott können wir noch glauben (2008):

«Dorothee Sölle, die große protestantische Theologin, spricht von Gott als MEHR, mehr und immer mehr, könnte man sagen, und nicht nur auf derselben Ebene, sondern in immer neuen Dimensionen. Und dieses Geheimnis, das uns umgibt, ist Nichts. Es ist nicht etwas, und in diesem Sinne nichts.

Es ist aber in keiner Weise ein leeres Nichts, sondern es ist das Nichts, das der Quellgrund und Mutterschoß von allem ist, was es gibt. Und es ist ein göttlicher Abgrund, aus dem die Fülle von allem kommt. Und die Fülle selbst ist wieder unausschöpflich. Und da ist unser eigenes Selbst eingeschlossen und daher sind wir uns selbst auch unauslotbar.»

[21] ‹Sich verlassen›: Immer wieder erinnert uns Bruder David an den Doppelsinn dieses Wortes; siehe Gott ‒ ‹mein Gott: Ergänzend: 1.2.; Mich-Verlieren ‒ Finden; im Zusammenhang mit dem Wort ‹Amen› in Ich-Selbst werden: Ergänzend: 1.

[22] Wie in Anm. 17 in Rilke: Die Sonette an Orpheus 1. Teil, XII; siehe Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 96f.

Leben in Zeiten der Bedrängnis (2017)
Mitschrift des Vortrages  von Bruder David,
bearbeitet von Hans Businger

(00:50) «Nach so ergreifender Musik fühlt man fast, dass man sich entschuldigen muss, die Stille jetzt durch Worte zu unterbrechen. Aber vielleicht gelingt es uns stattdessen, die Stille, die aus der Musik kommt, zu Wort kommen zu lassen. Und das gelingt am ehesten durch Dichtung. Und darum bin ich auch eingeladen worden, ein paar Worte zu sagen zu den vier Zeilen, die im nächsten Stück aus einem Sonett von Rilke vertont werden. Die Zeilen lauten:

‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.›
[1]

Ich glaube, das ist eine der schönsten Strophen, die ich in der deutschen Sprache überhaupt kenne, schon der Musik nach, und ich habe öfters vor einem Publikum, das nicht Deutsch versteht als Beispiel, wie schön die deutsche Sprache sein kann, gerade diese vier Zeilen zitiert. Das ist fast reine Musik. Und ich möchte jetzt diesen Beginn des Gedichtes weiter ausdeuten, wie Rilke das selber tut im Rest seines Sonettes. Und dann werde ich es am Ende noch einmal lesen.

Aber jetzt möchte ich ein paar Stichworte nennen zu dem, was wir jetzt gehört haben:

‹Sei allem Abschied voran›: Das Gedicht beginnt mit dem Abschied ‒ ‹sei dem Abschied voran› ‒, und die Strophe endet dann mit überstehen, denn diesen Abschied überstehen, heißt überhaupt überstehen.

‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.›

Dieses Wort eben ist ein ganz wichtiges Wort in diesem Zusammenhang. Man könnte ja meinen, dass das ein Frühlingsgedicht sei, das damit beginnt, wie der Winter jetzt eben geht.

Nein, das ist ein ganz anderes eben, das ist eben ohne viel Aufhebens: der Winter macht keinen großartigen Abschied, er geht eben. Oder: So ist das Leben eben, wie in dem bekannten Gedicht von Goethe, das sich schon fast wie ein Volkslied anhört: ‹Sah ein Knab’ ein Röslein stehn›. Das wichtigste Wort in dem ganzen Gedicht ist:

‹Mußt’ es  e b e n  leiden.›

‹Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt’ es eben leiden.›

Das Wort eben klingt fast wie Leben ohne ‹L›, und das heißt soviel wie:

Das Leben eben nehmen, wie es kommt.

An diesem kleinen eben hängt sehr viel.

‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter›

das ist der Tod, der endlose Winter ‒,

‹dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.›

Das heißt, wir können nur leben und überstehen, wenn wir den Tod ins Leben hereinnehmen. Und wieder Goethe:

‹Und wenn du das nicht hast, dieses Stirb  u n d  Werde
Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.›
[2]

Und das ist in dieser ersten Strophe schon ausgedrückt.

(06:16) Und jetzt das Gedicht im Zusammenhang mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike in den Sonetten an Orpheus:[3] Eurydike, die junge Frau des Orpheus wird von einer Schlange gebissen und muss in die Unterwelt hinab. Das ist die Geschichte, die hinter der folgenden halben Zeile steht:

‹Sei immer tot in Eurydike.›

Das richtet sich an jeden von uns: Wer und was ist deine Eurydike?

Wer ist der liebe Mensch, oder was war geliebt und ist jetzt schon in der Unterwelt?

Das gehört auch zu deinem Leben dazu:

Sei ‹tot in Eurydike› heißt nicht: Sei tot, sondern es heißt: Sei so lebendig, dass du sogar den Tod deiner Eurydike ‒ den Tod von all dessen, was dir gestorben ist ‒, in deine Lebendigkeit hineinnehmen kannst.

Denn gleich das nächste Wort ist:

‹… s i n g e n d e r  steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.›

Was ist dieser ‹reine Bezug›, in den wir zurücksteigen?

Es ist die Offenheit fürs Leben.

Aus dem Tod, wenn wir den hineinnehmen können in unsere Lebendigkeit, sind wir im ‹reinen Bezug› zum Leben.

Und dieser reine Bezug zum Leben ist Hoffnung:

Hoffnung gehört zum Überleben dazu
Abschied nehmen gehört zum Überleben dazu.
Wir müssen lernen, Abschied zu nehmen.

Und wir müssen lernen:
Hoffnung
:

Und Hoffnung ist ganz etwas anderes wie die Hoffnungen. Es ist wunderbar, wenn man viele Hoffnungen hat. Und wenn man ein Mensch der Hoffnung ist, hat man auch viele Hoffnungen. Aber die Hoffnung ist etwas ganz anderes.

Die Hoffnung ist Offenheit für Überraschung.

Das ist wahre Hoffnung. Die Hoffnungen, die wir haben, sind immer Dinge, die wir uns vorstellen können. Aber Überraschung ist das, was alles übertrifft. Hoffnung öffnet sich für das, was alles übertrifft.

Und das brauchen wir zum Überstehen: die Offenheit für das Leben.

(09:02) Und dann geht's nach Sei immer tot in Eurydike ‒, singender steige …›:

Hier unter Schwindenden›

die Lebendigen sind auch zugleich die Schwindenden.

‹Hier unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige› ‒

er nennt die Welt das Reich der Neige ‒

‹sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.›

Das ist das zentrale Bild vom Überleben. So lebendig sein, dass wir selber zu einem singenden, klingenden, preisenden, rühmenden ‒ das ist alles drinnen ‒ Glas werden, das in diesem Klang schon zerschlug.

In jedem Augenblick heißt das: Abschied nehmen von dem, was vorher war, nicht dran hängen, nicht sich ans Bleibende versteifen ‒ loslassen ‒, und den Augenblick klingen lassen wie ein ‹Glas, das sich im Klang schon zerschlug›.

In den letzten sechs Zeilen führt Rilke das noch weiter aus, dieses Bild vom Glas, das sich im Klang schon zerschlug:

‹Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.›

Zu dem klingenden Glas gehört die Einzigartigkeit: Jeder Augenblick ist einzigartig.

Und in einer seiner Elegien, die immer parallel stehen zu den Sonetten an Orpheus, drückt Rilke das so aus:

‹… E i n  Mal
jedes, nur  e i n  Mal.  E i n  Mal und nichtmehr. Und wir auch
e i n  Mal. Nie wieder. Aber dieses
e i n  Mal gewesen zu sein, wenn auch nur  e i n  Mal:
i r d i s c h  gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.›
[4]

Und dann:

‹Zu dem  g e b r a u c h t e n  sowohl, wie zum dumpfen und stummen
V o r r a t  der vollen Natur›

das Gebrauchte: Vergangenheit, Kindheit ‒, ist alles, was wir zurücklassen müssen, und der große Vorrat der vollen Natur ist Überraschung, das Überraschende: alles, was auf uns zukommt ‒, die Zukunft:

‹Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.›

Alles, was in Raum und Zeit ist, alles, was zum Tod gehört, ist in Raum und Zeit zählbar und messbar. Aber wir gehören zu dem Unermesslichen. Wir gehören einerseits zum Messbaren in Zeit und Raum, anderseits zum Unermesslichen.

Und auch darüber in den Elegien eine wunderschöne Strophe:[5]

‹Siehe ich lebe. Woraus?›

Woraus lebe ich? Was ist das Material für mein Leben? ‒

‹Siehe ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft
werden weniger›
:

Ich lebe aus der Kindheit, aus der Vergangenheit ‒ aus allem ‹Gebrauchten› ‒, und aus dem ‹Vorrat der vollen Natur›: der Zukunft:

‹… Weder Kindheit noch Zukunft
werden weniger ….. Unzähliges Dasein
entspringt mir im Herzen.›

Ich werde das Gedicht im ganzen Zusammenhang lesen und wir denken daran, es geht darin um Abschied nehmen, Hoffnung, Überraschung und Überstehen.

‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, Dein Herz überhaupt übersteht.

Sei immer tot in Eurydike –, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.

Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.

Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.›

(15: 36) Und was hindert uns daran so zu überleben? So zu überstehen?

Was uns hindert ist Furcht. Furcht vor Wandel. Wir wollen, dass alles immer bleibt. Wir fürchten den Wandel. Und da sagt Rilke im Sonett, das gerade vorher kommt in der Sammlung:[6]

‹W o l l e  die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.

Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe –: abwesender Hammer holt aus!›

Wenn es still ist und wir uns ins Bleiben verschließen wollen ‒ nicht die Wandlung ‒, und wenn’s so still ist, ist das nur die Wandlung vor dem Sturm, nur die Stille vor dem Hammer, der schon ausholt. Denn nichts kann sich dem Bleiben verschließen: das Leben ändert sich ständig. Und das macht uns Angst.

(17:36) Und das ist das Entscheidende: Wenn wir uns fragen: Wie können wir überstehen, heißt das eigentlich: Wie können wir Angst überwinden?

Angst lässt sich nicht vermeiden. Sie lässt sich nur überwinden. Furcht ist nicht unvermeidlich. Wir müssen unterscheiden zwischen Angst und Furcht. Furcht lässt sich vermeiden. Angst lässt sich dadurch überwinden, dass wir die Furcht überwinden. Angst kommt von demselben Wort wie Enge ‒ ‹miser et angustiae› ‒, das sind die Ängste, die Bedrängnisse. Angst ist im Deutschen dasselbe Wort wie im Lateinischen ‹angustiae›‹Enge›. Und durch diese Enge kommen wir schon in die Welt. Wir haben als Fötus ein paradiesisches Leben. Und dann kommen wir durch die Enge des Geburtskanals in diese Welt. Jeder von uns hat das durchgemacht.

Und dann im Lauf dieses Lebens kommen wir immer wieder in Engpässe, immer wieder in Bedrängnis von allen Seiten. Und während wir uns als Babys während der Geburt ganz instinktiv dem Leben und der Überraschung überlassen haben ‒ wir waren offen für Überraschung und sind so geboren worden ‒, müssen wir das jetzt willentlich tun: Wir tun’s nicht mehr instinktiv, sondern instinktiv sträuben wir uns eigentlich, wir lassen so Borsten heraus und bleiben stecken in dieser Enge.

Und das müssen wir lernen: uns dem Leben anvertrauen. Und so wie uns das Leben durch den Geburtskanal in die Welt gebracht hat, bringt es uns immer wieder durch jede Enge. Unser Freund Klaus Christa[7] hat schon am Vormittag darauf hingewiesen: Die Enge, auf die wir zurückschauen und durch die wir immer wieder in neue Geburt kommen. Immer wieder wird es offen, immer wieder wird es weiter.

Die größte Angst und Enge, die hinter jeder andern Angst steht, ist die Todesangst, denn wir haben keine Ahnung, was nachher kommt: das macht uns Angst.

Aber wenn wir uns nicht fürchten, dürfen wir vertrauen, dass wir durchgehen jedem Abschied voran in größeres Leben, in größere Fülle des Lebens, in eine neue Geburt, wie wir es uns gar nicht vorstellen können. Die Raupe kann sich ja auch nicht vorstellen, dass sie dann als Schmetterling herumfliegen wird. Wir können es uns nicht vorstellen ‒, wir sollen uns gar nicht bemühen, es uns vorzustellen.[8]

Aber wir dürfen darauf hoffen, dass, so wie wir durch jede Enge ‒ wenn wir uns nicht sträuben, nicht fürchten ‒, immer wieder in eine neue Geburt kommen, wir auch im letzten Abschied überstehen können.

Abschied lernen, gehört zum Überleben,
Mut und Bereitschaft zur Verwandlung.

Und ich hoffe, dass wir, wenn wir jetzt diese Musik anhören, die das so viel schöner und so viel ergreifender immer wieder sagt, als Worte es ausdrücken können, dass wir nicht nur das irgendwie nachempfinden können, sondern, dass wir uns entschließen können: ent-schließen, öffnen für das Leben.

Wenn ein Konzert noch so schön ist und am Ende nicht zum Entschluss führt, dann fehlt, wie das Rilke zusammenfasst:

‹Namenlos bin ich zu dir entschlossen› ‒ ‹Erde du liebe, ich will.›[9]

Das sollen wir sagen können:

Leben: ‹namenlos bin ich zu dir entschlossen›.

Und nichts kann unser Herz besser ent-schließen als Musik.

Und dafür sind wir heute ganz besonders dankbar.»

______________________

[1] Siehe den Text dieses Sonetts in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 140-148, 150f.

Die Beziehung von Bruder David zu Rilke und besonders zu ‹Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter/dir› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XIII) ist einzigartig und spürbar in allen seinen Büchern und Vorträgen; siehe den Film Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (40:06)

Abschied, der Klang des Lebens enthält wegweisende Passagen zu diesem Sonett aus dem Credo (2012) und aus dieser Mitschrift (siehe Anm. 3 und 6). In Ergänzend: 2.-4. sind weitere Vorträge zusammengestellt, in denen Bruder David dieses Sonett vorträgt und deutet.

[2] J. W. Goethe: ‹Selige Sehnsucht›; siehe auch Tod und Auferstehung: Haupttext und Anm. 5; Sterben: Anm. 1; Sinne und Kind werden: Haupttext und Anm. 10

[3] Im inhaltlich parallelen Vortrag ‹Der Weg zu Fülle und nichts›, dem Audio 2.1 in Festival «Die Kraft der Visionen» (1991) ab (19:53), geht Bruder David näher auf den Mythos von Orpheus und Eurydike ein; siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 52-56

[4] Rilke: Die neunte Elegie

[5] Letzte Strophe der neunten Duineser Elegie

[6] Bruder David trägt dieses Sonett vor im Vortrag So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
(36:46) ‹Wolle die Wandlung› (Die Sonette an Orpheus 2. Teil, XII)

In den Vorträgen im Haus St. Dorothea in Flüeli-Ranft vom 14.-18. September 2014 bildete dieses Sonett ‒ wie auch ‹Sei allem Abschied voran› (siehe Anm. 1) ‒ das Herzstück dieser vier intensiven Tage; siehe Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014), 151-155

[7] Klaus Christa ist Bratschist und künstlerischer Leiter von ‹Musik in der Pforte›

[8] Im Film Dem Geheimnis auf der Spur (2016) ab (44:44):

«Das Wichtigste scheint mir, im Augenblick zu leben, ganz gleich, wie alt man ist: Im Augenblick zu leben. Denn der letzte Augenblick wird auch ein Augenblick sein. Mir sind die Jenseitsvorstellungen nicht wichtig: Wir wissen es nicht.»

Johannes Kaup: «Du hast so schön geschrieben, dass du mit Eichendorff Skifahren gehen wirst?»

Bruder David: «Träumen darf man schon, solange man weiß: das stelle ich mir halt so vor, das wünsche ich mir halt so, dann ist das schon gerechtfertigt. Man mag sich ja nur hineindenken in eine Raupe, die einmal ein Schmetterling werden wird. Diese Raupe kann sich sehr schwer vorstellen, dass sie einmal herumfliegen wird, und ebenso wenig kann ich mir das Leben jenseits des Todes vorstellen. Das ist eine Zeitverschwendung. Es gibt soviel hier zu erleben: darauf sollte ich mich konzentrieren.»

[9] Rilke: Die neunte Elegie:

«Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? ‒ Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? ‒ Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag
Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen ‒, einer,
ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.
Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall
ist der vertrauliche Tod.»

Einstimmung und Übersicht (2019)
Mitschrift des gleichnamigen Audios,
identisch mit dem Vortrag Menschenwürde (2019) (00:00-05:02)
Audio und Mitschrift bearbeitet von Hans Businger


Alle singen zu Beginn den Kanon:

«Schweige und höre, neige deines Herzens Ohr, suche den Frieden.»

Bruder David: «Ich danke euch allen fürs Kommen, also ich bin selber immer so dankbar, wenn ich hierher kommen darf, es ist ein Ort, auf den ich mich immer schon sehr freue. Es hat eine ganz eigene Schwingung hier; und ich bin dankbar für alle, die hier praktizieren, für alles, was hier aufgebaut wurde, und denke oft daran mit großer Dankbarkeit. Und ich freue mich auch ‒ ein unwahrscheinliches Geschenk des Lebens ‒, dass ich noch einmal hierher kommen kann, um mit euch zu teilen, und ich freue mich auch, über diesen Begriff der Würde ‒ der Menschenwürde ‒ mit euch nachdenken zu können. Das ist heutzutage etwas sehr Wichtiges, wie sich sicher auch zeigen wird.

Ich möchte in drei Schritten vorgehen heute Abend: Zuerst ‒ ein bisschen autobiographisch ‒ über die persönliche Erfahrung von Würde sprechen: Würde als Haltung. Zweitens dann, den Begriff zu klären versuchen.

Das Erste ist mehr ein bisschen emotional oder ganzheitlich, aber was mit Würde gemeint ist, auch intellektuell, begrifflich klar sehen, aus dem ergibt sich dann als dritter Schritt unsere gesellschaftliche Verantwortung.

Also Haltung und Klärung des Begriffes und gesellschaftliche Verantwortung.

Und wie immer, wenn wir hier zusammen sind, schlage ich vor, dass wir gemeinsam denken und uns nicht so zurücklegen und warten: Was wird er mir jetzt auftischen? Ich werde nichts auftischen, ich lade alle ein, gemeinsam zu denken und nicht nur mir zu folgen, sondern auch selber immer zu fragen: Stimmt das für mich? Es muss für jede und jeden einzelnen von Euch stimmen, und wenn das nicht der Fall ist, dann müssen wir nachfragen: Haben wir aneinander vorbeigeredet? Wir müssen das jetzt wirklich gemeinsam erarbeiten.

Ich möchte Euch einladen, auch die Fragen gut vorzubereiten. Wir haben nach der Pause dann eine sehr gute Zeit für Fragen, und da kommt oft das Beste heraus.

Also jetzt ‒ wenn ich persönlich beginnen darf ‒, lade ich Euch zugleich ein, über Eure eigene Entwicklung und Euer Verständnis von Würde nachzudenken und Euch zu fragen, wie ihr selber zum Begriff der Würde gekommen seid. Mein Verständnis ist nur deshalb interessant, weil es eben ein Beispiel ist. Doch das Wichtige ist, dass ihr das Bewusstsein Eurer Würde für Euch selber findet.»

Würde im Eltern-Kind-Verhältnis (2019)
Mitschrift des gleichnamigen Audios,
identisch mit dem Vortrag Menschenwürde (2019) (05:02-16:40)
Audio und Mitschrift bearbeitet von Hans Businger


«Bei mir ist mein Selbstverständnis ‒ meine Haltung von Würde ‒ aus zweierlei entstanden ‒ von Kindheit an: Es wurde mir bedingungslose Liebe erwiesen ‒ das eine ‒, und ich wurde unterstützt in meiner Eigenart.

Und wenn ich sage: bedingungslose Liebe, dann schließt das gleich ein, dass meine Eigenart nicht nur angenommen, sondern gefördert und unterstützt wurde: also nicht geliebt unter der Bedingung, dass du brav bist oder so was. Natürlich mussten wir brav sein, aber auch wenn wir zurechtgewiesen oder sogar bestraft wurden, so war das nie eine Ausschließung. Man hat immer gewusst, ich gehöre dazu, ich bin bedingungslos geliebt, ganz unabhängig davon.

Und diese beiden Erfahrungen von Kindheit an haben mein Verständnis von Würde bis jetzt geprägt. Und so werden wir sehen, dass diese beiden Aspekte von würdevoller Haltung sich überall durchziehen: die Zugehörigkeit und die Eigenständigkeit. Ich stelle es so dar, wie ich es selber erlebt habe, aber ich glaube, es hat schon einen gewissen Allgemeinheitswert.[1]

Wenn ich sage, dass ich in meiner Eigenart unterstützt wurde, hat das viel mit Vertrauen zu tun. Und das ist etwas Wichtiges für das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, nämlich Vertrauen in einem doppelten Sinn:

Das Erste ist, dass die Eltern den Kindern gegenüber sich vertrauenswürdig erweisen. Sie ermöglichen dem Kind, den Eltern zu vertrauen, und das Kind lernt, den Eltern zu vertrauen. Das wird heute ziemlich klar gesehen.

Aber ein zweiter Aspekt dieses Vertrauensverhältnisses zwischen Kindern und Eltern wird heute sehr häufig übersehen, und das ist, dass die Eltern auch dem Kind Vertrauen schenken müssen.[2]

Wenn Kinder nur einseitig den Eltern vertrauen, wird das zu einer Betreuung der Kinder, ohne dass sie heranwachsen können. Beides muss zusammenkommen: Ich bin für dich da ‒ ich erweise mich vertrauenswürdig für das Kind ‒, und ich vertraue dir: du kannst es schon selber ‒ also eine Art loslassen ‒, immer wieder: du kannst es schon.[3]

Und beides wurde mir geschenkt, und das ist ein großes Geschenk, und wenn einem das in der Kindheit geschenkt wird, wächst man einfach in das Bewusstsein der Würde hinein ohne große Schwierigkeiten. Wenn einem das nicht geschenkt ist, muss man es natürlich später nachholen und darüber werden wir noch sprechen: Die Zugehörigkeit zu den Eltern, zur Familie, das ist wahrscheinlich gar nicht mehr verfügbar, da muss man in andere, größere Zugehörigkeit hineinwachsen.[4]

Jetzt noch ein bisschen autobiographisch, wie meine Eigenart unterstützt wurde. Ich schäme mich ja fast schon dessen, aber im Sport war ich entsetzlich. Ich bin sehr gerne geschwommen, gewandert, auf Bäume gekraxelt, aber der Schulsport, Ballspiele ‒ ich habe immer befürchtet, dass mich der Ball trifft ‒, waren mir unsympathisch. Aber meine Mutter wollte, dass ich mich doch auch sportlich irgendwie betätige und da ist mir eingefallen, ich möchte fechten lernen ‒ Florettfechten, mein Sport. Meine Mutter hat eigens Nachhilfestunden gegeben, um das Geld zu verdienen für die Fechtschule. So habe ich jahrelang fechten gelernt und es hat mir großen Spass gemacht. Das ist so ein Beispiel.

Wieder zweierlei kommt da zusammen: Du hast Würde und du musst dich der Würde gemäß benehmen. Wieder zwei Teile, sehr nahe an: du bist bedingungslos geliebt und du wirst unterstützt in deiner Eigenart: Du hast Würde, das wurde uns selbstverständlich ‒ ohne dass jemand je das Wort Würde verwendet hätte ‒, beigebracht, sehr traditionell in meinem Fall: du bist ein Gotteskind ‒ das war ganz klar. Was für eine höhere Würde kann man haben, als ein Gotteskind zu sein?

Aber ‒ und jetzt kommt die andere Hälfte ‒, alle andern Menschen sind auch Gotteskinder. Also musst du dich den andern gegenüber auch würdig erweisen. Diese beiden Dinge kommen da zusammen: Noblesse oblige.

Wir haben das sehr, ohne dass es uns eingedrillt wurde, gefühlt, immer gefühlt. Den Benachteiligten gegenüber war ich immer sehr sensibel, und meine Brüder auch, und noch mehr wie ich. Mein mittlerer Bruder Hans, der kürzlich gestorben ist, ist einmal ohne Schuhe nach Hause gekommen, weil er einem Kind, das keine Schuhe gehabt hat, seine Schuhe gegeben hat. Also, das war nicht eingedrillt, das haben wir irgendwie eingesogen.

Einmal ‒ erinnere ich mich ‒, ist mein Vater sehr zornig geworden wegen mir, weil ich mich einem Bettler gegenüber nicht respektvoll benommen habe. Am Weg zur Kirche sind immer die Bettler gesessen ‒ für mich waren die nicht weniger wert als andere Menschen ‒, da waren so Klettenbüsche, das sind so Kugeln, die auf den Sträuchern wachsen und die so Hackerl (Häkchen) haben, und wir haben so Kletten auf diesen Bettler geworfen, der dort gesessen ist: da ist mein Vater sehr ärgerlich geworden, sehr zornig. Wir haben viele Angestellte gehabt, damals hatte man noch zu Hause Angestellte gehabt in der Familie, und wir hatten ein großes Kaffeehaus mit vielen Angestellten: wir mussten sie mit größtem Respekt behandeln.

Und ich erinnere mich, dass ich diese Haltung auch mir zu eigen gemacht habe. Und ich habe diesen Respekt in Situationen, wo andere ihn nicht gezeigt haben, selber gezeigt. Zum Beispiel: In Wien gibt’s den Prater, das ist so ein ständiger Jahrmarkt zur Belustigung, und eine von den Belustigungen war eine Liliput-Stadt ‒ so hat sie geheißen ‒, da waren so Zwerge, die haben dort in kleinen Häusern gewohnt zur Besichtigung, eigentlich zur Belustigung. Und meinen Brüdern Hans und Max, die jünger waren als ich, hat das irgendwie gefallen, aber mich hat das sehr beleidigt, ich wollte absolut nichts davon wissen. Mir war ziemlich klar: das geht nicht. Ich habe mich mit ihnen identifiziert.

Ein anderes Beispiel: Bei uns hatte es fahrende Werkleute gegeben, die herumgezogen sind und verschiedenes repariert haben. Und da hat es auch jemanden gegeben ‒ ausserordentlich kunstvoll sehe ich das jetzt im Nachhinein ‒, der zerbrochene Schüsseln mit Draht geflickt hat, ein Fastelbinder, wie es damals hieß: wenn eine Porzellanschüssel gebrochen ist, hat man sie nicht weggeworfen, sondern aufgehoben, und der hat dann so ein Netz gemacht aus Draht und hat sie wieder zusammengefügt und so repariert. Das war ein ganz armer Mann ‒ er hat immer im Stall geschlafen ‒, und einmal hat er mir die Hand geküsst … irgendwie auch beschämend … aus Ehrerweisung … ich wollte nicht über ihm stehen … sehr schmerzlich.»

_______________

[1] Im Frühling 2018 erschien vom Neurobiologen Gerald Hüther das Buch Würde, und im ersten Kamingespräch vom 11. Juli 2018 in Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018) bezieht sich Bruder David auf dieses Buch. Auffällig ist, wie beide Autoren die begriffliche, bzw. wissenschaftliche Seite von Würde engstens mit ihrer persönlichen, vom Gefühl geleiteten Erfahrung verbinden. Der biographische Rückblick ist für beide ebenso wichtig wie die allgemein verbindlichen Aussagen. Das kommt auch deutlich zum Ausdruck im Gespräch von Helmut von Loebell mit Bruder David im SN-Saal in Salzburg am 23. November 2018. Dieses Gespräch ist aufgezeichnet im YouTube Film Würde ‒ was wären wir ohne sie? Im Zusammenhang von Würde, Rückgrat, Scham spricht Bruder David immer auch vom Verlust von Würde ‒ Ehrfurcht ‒ Scham in der heutigen Gesellschaft.

[2] Ich bin durch dich so ich (2016), 18:

«Dieses Vertrauen wurde mir auf zweierlei Weise geschenkt. Einerseits, indem sich all mir Nahestehenden als vertrauenswürdig erwiesen haben. … Und das Zweite, was ebenso wichtig war, ist, dass man mir Vertrauen geschenkt hat. Das ist etwas ganz anderes. Ich war manchmal sogar erstaunt, was ich alles tun durfte, ohne überwacht und kontrolliert zu werden.

Zum Beispiel beim Spielen. Meine Brüder und ich durften schon als ziemlich kleine Kinder stundenlang alleine in den Wald gehen, den Bach hinauf wandern und Entdeckungsreisen machen. Ich glaube, dass meine Mutter damals mehr oder weniger gewusst hat, wo wir sind und dass wir nicht in Gefahr waren. Wir haben uns einerseits geborgen gefühlt, weil wir doch irgendwie wussten: Sie kümmert sich. Aber anderseits hat sie uns das Vertrauen geschenkt, so dass wir ziemlich frei waren. Vor allem später waren wir wochenlang unterwegs, und sie hatte keine Ahnung, wo wir waren, weil es damals noch nicht die Möglichkeit gab, einfach anzurufen und Bescheid zu geben. Sie hat uns jedoch dieses Vertrauen geschenkt, dass wir schon gegenseitig aufeinander aufpassen, also dass wir uns als vertrauensvoll erweisen und Vertrauen schenken. Für diese beiden Aspekte bin ich am meisten dankbar.»

[3] Dazu ergänzend in Sterben lernen (2005):

«Umsomehr gilt dies für persönliche Beziehungen. Sind wir aufrichtig mit jemandem befreundet, müssen wir diesen Freund immer wieder lassen, um ihm Freiheit zu geben, wie eine Mutter, die ihr Kind unablässig freigibt.

Gibt die Mutter das Kind nicht frei, kann es schon gar nicht geboren werden; es stirbt im Mutterleib. Aber auch nach der physischen Geburt, muss das Kind immer wieder freigegeben und losgelassen werden.

Viele Schwierigkeiten, die wir mit unseren Müttern haben, und die unsere Mütter mit uns haben, kommen daher, dass sie uns nicht gehen lassen können; und offensichtlich ist es viel schwieriger für eine Mutter, einem Teenager das Leben zu schenken als einem Baby.

Doch ist dieses Auf-Geben nicht auf Mütter beschränkt; wir müssen uns alle gegenseitig bemuttern, egal ob wir Männer oder Frauen sind. Ich denke, Bemuttern ist in dieser Hinsicht wie Sterben; es ist etwas, das wir unser ganzes Leben hindurch tun müssen. Und immer, wenn wir einen Menschen oder einen Gegenstand oder einen Standpunkt aufgeben, wahrhaft aufgeben, dann sterben wir - ja, aber wir sterben hinein in eine größere Lebendigkeit. Wir sterben hinein in die Einheit mit dem Leben. Nicht zu sterben, nicht aufzugeben heißt, dass wir uns von diesem freien Lebensstrom ausschließen.»

[4] Ein eindrückliches und berührendes Beispiel für den Mangel an Liebe und Geborgenheit in der Kindheit ist Helmut Loebell, der seine Kindheit in schonungsloser Offenheit in seinem Buch Der Stehaufmann (2016) beschreibt und im Film Würde ‒ was wären wir ohne sie? (2018); siehe auch Auszüge aus dem Buch und Übersicht über die Themen des Gesprächs

Würde in der Gesellschaft (2019)
Mitschrift des gleichnamigen Audios,
identisch mit dem Vortrag Menschenwürde (2019) (16:40-22:27)
Audio und Mitschrift bearbeitet von Hans Businger


«Und im Allgemeinen bin ich noch in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Mann sich seiner Würde bewusst war. Und ich sage ausdrücklich MannFrau war ein ganz anderes Kapitel ‒, und Tiere erst recht. Aber man konnte noch fraglos an Würde appellieren: ‹Das ist doch nicht menschenwürdig› war das Schlimmste, was man sagen konnte.

Im Allgemeinen ‒ es hat sicher viele Ausnahmen gegeben ‒, hat die Gesellschaft ein Bewusstsein gehabt: So verhält man sich andern gegenüber und das gehört zur eigenen Würde. Das hat es gegeben, das gibt es heute nicht mehr.[1]

Man konnte, wenn man eine Reparatur gebraucht hat, sicher sein, dass der Mann, der repariert hat, sein Bestes tut, nicht immer erfolgreich, aber jedenfalls, dass er sich wirklich bemüht. Und heutzutage leider nicht, sondern sehr häufig kann man nur sicher sein, dass er sehr viel dafür verlangt, aber so schnell wie möglich etwas hingepfuscht hat.[2]

Und in dieser Gesellschaft hat jeder ‒ da kommen wir wieder zu diesem ursprünglichen Doppelaspekt ‒, gewusst: Ich habe meine Stellung ‒ das war eine pyramidale, ganz klar strukturierte Gesellschaft ‒, das ist meine Aufgabe im Leben, und ich gehöre dazu, denn diese Aufgabe ist mir aufgetragen, und ich mache sie so gut, wie ich kann. Und das hat Menschen Menschenwürde gegeben, die vom heutigen Standpunkt aus gar nicht in menschenwürdigen Verhältnissen gelebt haben.

Ein Onkel von mir hat in Kärnten einen großen Bauernhof gehabt und da waren viele Knechte und Mägde, und die waren eigentlich, was man heute Sklaven nennen würde: Sie haben das aber ganz anders erlebt. Sie mussten zum Beispiel fragen, ob sie heiraten dürfen. Und es war keine Selbstverständlichkeit, dass sie auch die Bewilligung bekommen ‒ also menschenunwürdig vom heutigen Standpunkt aus ‒, sie haben aber mit viel mehr Würde gelebt als die meisten Menschen heute leben, weil sie gewusst haben ‒ das war ihr Bewusstsein ‒, das ist meine Aufgabe im Leben, und ich erfülle sie gut und bin stolz darauf.

Also man kann sich kaum mehr hineindenken in diese Situation. Ich bin unersetzlich für das Ganze, das war das Bewusstsein jedes anständigen Menschen damals. Und ich gebe mein Bestes. Das gibt’s heute auch noch. Ich habe kürzlich in den Salzburger Nachrichten einen kleinen Aufsatz gefunden über eine Toilettenfrau, die einen jungen Mann einführt in ihre Arbeit. Vielleicht stand die Nachricht in der Zeitung, weil ausnahmsweise ein Mann diesen Beruf ausübt. Aber wie sie ihn eingeführt hat: eine solche Würdigkeit, wie diese Frau gezeigt hat, wie sie dem jungen Mann gesagt hat, was er alles tun kann für die Leute, mit völliger Selbstsicherheit: Ich weiß meinen Platz, das ist mein Beruf und den will ich so gut wie möglich ausüben. Also man hat wirkliche Ehrfurcht vor dieser Frau, wenn man diesen Beitrag gelesen hat.[3]

Oder ich habe auch von einem Baggerfahrer gehört, der sich so bemüht, der beste Baggerfahrer zu sein, dass er mit der Schaufel des Baggers ein Feuerzeug anzünden kann. Dieser Stolz! Er fährt viel und weiß, wie er auf den Millimeter genau diese Schaufel senken kann. Das gibt es heute noch: Menschen, die ihren Beruf gefunden haben und stolz sind: Das ist mein Beitrag für die Gesellschaft. Und darum geht’s.

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[1] Bruder David zu Beginn im Film Der Sinn des Lebens und die Dankbarkeit (2024) und die Mitschrift im Interview:

«Bruder David, Du wirst im Juli 2024 98 Jahre alt. Wenn Du auf die Entwicklung der Welt während deines Lebens zurückschaust: Was hat sich da geändert?»

«Das Wesentlichste, was sich verändert hat ist, dass die Ehrfurcht verloren gegangen ist. Ehrfurcht bedeutet, dass man vor dem Leben Achtung hat. In meiner Kindheit war diese Haltung fraglos, es war das Wasser, in dem wir als Fische geschwommen sind. Man hat damals auch wie selbstverständlich von ‹Gott› gesprochen und damit das gemeint, was uns als Menschen verbindet und wovor man Ehrfurcht hat. Ich bin nicht dafür, von Gott zu sprechen, das führt nur zu Missverständnissen.»

«Du bist 1926 in Wien geboren, wurdest im Zweiten Weltkrieg eingezogen, hast acht Monate gedient, bist dann untergetaucht – und sagst trotzdem: ‹In meiner Zeit gab es mehr Ehrfurcht vor dem Leben.› Ausgerechnet in der Zeit des Zweiten Weltkrieges?»

«Zusammengebrochen ist das erst im Laufe meines Lebens, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch Hitler hat in jeder seiner Reden Gott erwähnt. Wir haben uns darüber geärgert, weil wir ihm gegenüber kritisch eingestellt waren, aber den Massen ist nicht aufgefallen, dass er das als Mittel verwendet. Wenn heute jemand in einer politischen Rede Gott erwähnte, würden sich die Leute nur wundern: Wovon redet der eigentlich?»

[2] Siehe auch Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Erstes Kamin-Gespräch mit Bruder David; transkribiert in Übersicht über das Gespräch mit Kurzvortrag von Bruder David und die Zusammenstellung von Texten, Filmen und Audios zum Thema Würde in Würde, Rückgrat, Scham

[3] Siehe auch das Interview: Was gibt einer Toilettenfrau ihre Würde?

Würde lebt von Verbundenheit (2019)
Mitschrift des gleichnamigen Audios,
identisch mit dem Vortrag Menschenwürde (2019) (22:27-37:25)
Audio und Mitschrift bearbeitet von Hans Businger


«Daraus ergeben sich jetzt Fragen für uns alle: Wie habe ich Zugang gefunden zu meinem Bewusstsein von Würde, wie habe ich es gelernt, was waren die Hindernisse, es zu lernen, was hat mir gefehlt, was hat es erleichtert, was hat es erschwert? Und das ist schon wichtig, dass jede und jeder von euch sich das überlegt: Was bedeutet mir Würde ganz persönlich? Wie erlebe ich sie?

Und jetzt kommen wir zum zweiten Schritt, zur begrifflichen Klärung, die auch notwendig ist, und da ist wieder die Zugehörigkeit und der unbedingte Eigenwert. Beides kommt zusammen, also nicht bloss Zugehörigkeit oder Zugehörigkeit unter der Bedingung, dass man sich anpasst.

Nachdem diese beiden Dinge zusammengehören, müssen wir nachdenken über unsere eigene Zugehörigkeit und unsere eigene Eigenart. Denn ich habe bemerkt, dass ich selber, und offensichtlich sehr viele Menschen, gar nicht gründlich über diese beiden Dinge nachdenken. Es ist uns wirklich kaum bewusst, wie eng vernetzt wir sind.

Unsere Zugehörigkeit ‒‒ da ist so viel, was man lernen und worüber man nachdenken muss ‒, zum Beispiel: Wie stark die Familie, der wir angehören, eine Einheit ist, ohne dass wir es wollen, auch wenn sich alle zerstritten haben, und zwar nicht die Familie, die lebt, sondern auch, wie eng wir mit unsern Vorfahren verbunden sind: Wir sind einfach unsere Vorfahren um diese Zeit der Geschichte. Wenn man darüber nachdenkt, wenn man das ein bisschen durchfühlt, alte Fotografien anschaut, dann wird einem das mehr bewusst.

Ich habe einmal eine Cousine von mir nicht erkannt, als ich in der Straßenbahn fuhr. Ich war damals sechszehn Jahre alt und sie hatte mich zuletzt gesehen im Alter von sechs Jahren. Ich schaute auf die Uhr und im Augenblick hat sie gewusst, wer ich bin: So hat nur mein Vater auf die Uhr geschaut.

Es ist unglaublich, wie eingebettet wir sind, und das geht weiter zurück bis zu unseren vormenschlichen Vorfahren. Die Wissenschaft sagt, dass wir alle nur von fünf oder sechs Urmüttern abstammen: Wir sind alle verwandt. Dieser Verbundenheit, der kann man mal schon nachfühlen.

Dann unsere Verbundenheit zur Erde. Das darf nicht so nur da oben im Gehirn bleiben, das muss erlebt werden: Wir essen Erde ‒ nur Erde, in verschiedenen Formen, aber es ist immer Erde; wenn es Rindsbraten ist, das ist Erde: zuerst einmal Klee, und der Klee wurde vom Rindvieh gefressen und verarbeitet und wir fressen das Rindvieh: Wir essen Erde und werden zu Erde. Wir sind Erde ‒ Wasser hauptsächlich ‒ und werden wieder zu Erde. Auch was wir täglich essen, ist Erde. Wir sollten uns einmal wirklich vor den Teller setzen vor dem Tisch und sagen: Erde. Manches ist direkt Erde, wie das Salz, anderes ist ein bisschen weiter entfernt, aber wir sind völlig in diesem Kreislauf drin.

Alles wäre anders, undenkbar anders, wenn ein kleines Stückchen der Geschichte anders gekommen wäre. Wenn die Römer nicht in die Schweiz gekommen wären, wie würde die Schweiz jetzt ausschauen? Wie würden Schweizer sich jetzt benehmen? Wir sind mit allem verbunden, was sich in der Geschichte je ereignet hat, dadurch, dass es uns beeinflusst. Wir schauen auf alte Gebäude: die haben Menschen gebaut und bewohnt, die uns beeinflussen, sonst wären wir nicht, wer wir sind.

Und wir sind auch physisch verbunden mit allen Menschen, die je gelebt haben. 1% der Luft, die wir atmen, ist Argon. Das ist ein Edelgas, das heißt, es geht keine Verbindungen ein. Der Prozentsatz bleibt mehr oder weniger gleich durch Jahrtausende. 1% der Luft ist ziemlich viel, eine unvorstellbare Menge von Argon Atomen, die wir mit jedem Atemzug einnehmen. So viele, dass statistisch gesprochen, du von jedem Menschen in der Geschichte ‒ Cicero und Cäsar, Wilhelm Tell, wenn er gelebt hat ‒ in jedem Atemzug mindestens ein Argon Atom einatmest, das auch Wilhelm Tell eingeatmet hat. Schon rein physisch sind wir verbunden mit der ganzen Geschichte. Wir gehören dazu, aber das muss man sich eben bewusst machen.[1]

Oder wir können uns jetzt anschauen, was wir an uns tragen an Kleidung. Wo kommt sie her? Wie viele tausende und abertausende Menschen haben daran gearbeitet, diese Baumwolle zu pflanzen, zu ernten, zu spinnen, zu transportieren, zu designen: Was da alles hineinkommt für jedes kleinste Kleidungsstück, das wir tragen. Durch jedes Kleidungsstück sind wir verbunden mit abertausenden von Menschen, deren Namen wir nie kennen werden, aber wir sind verbunden.

Mir fällt gerade ein, es gibt einen Kurzfilm auf YouTube,[2] wo Arbeiter, die Kakaobohnen ernten, zum ersten Mal mit Schokolade in Kontakt kommen. Diese Arbeiter haben keine Ahnung, was mit den Kakaobohnen, die sie ernten, geschieht. Zum ersten Mal bringt ihnen jemand ein Stück Schokolade und sagt ihnen, was aus ihren Kakaobohnen gemacht wird. Ganz berührend. Schon der Gesichtsausdruck: das sind arme Menschen, die schuften den ganzen Tag, und sie schmecken die Schokolade ‒ die haben uns ja die Schokolade gebracht ‒, wo kommt sie denn her? Wie oft denken wir daran, wenn wir Schokolade essen? Und so ist es mit jeder Speise. [3]

Und all die verborgenen Dienstleistungen: Kennen wir die Leute, die den Müll abführen? Nur wenn er nicht abgeführt wird, wird uns bewusst, dass da normalerweise jemand ist, der den Müll abführt, der die Strassen reinigt ‒ jetzt vom Schnee ‒, wieder tausende und hunderttausende Menschen, von denen wir abhängen. Die ganze Nacht muss jemand im Elektrizitätswerk arbeiten, damit der Strom normal fließt. Wir drehen das Licht auf: Wer denkt da schon, dass da noch jemand dahintersteht, und zwar wieder tausende und abertausende.

Also, wenn wir uns diese Zusammenhänge auch gefühlsmäßig vergegenwärtigen, dann wird uns unsere Vernetzung und Zugehörigkeit noch viel mehr bewusst, und das ist eben einer der beiden ganz wichtigen Bestandteile der Würde.

Und da kommt dann herein, dass wenn jemand ‒ auch in der Familie ‒ sagt, mir wurde nie bedingungslose Liebe erwiesen ‒ ich wurde immer geliebt, wenn ich gute Zeugnisse gebracht habe, das kann ich niemals nachholen ‒, das kann man nicht nachholen. Aber man kann das Bewusstsein der bedingungslosen Zugehörigkeit, das ja das Entscheidende ist, im Jetzt erleben, wenn man sich bewusst macht, wie wir alle vernetzt sind.

Die wichtigste Vernetzung ist die Ermunterung, die wir durch andere Menschen erfahren. Und wenn jemand sagt: Ermunterung? Ich erlebe nie eine Ermunterung ‒, da müsste man sich vorstellen, wie mein Leben ausschauen würde, wenn mich andere Leute nicht ermuntern würden. Nur schon ein Lächeln ermuntert die andern. Und eine Berührung.

Da hat man eine wissenschaftliche Untersuchung gemacht ‒ sehr überzeugend ‒, in der die Studenten mit einer Karte in der Mensa bedient wurden. Und manche Studenten hat die Frau, die sie austeilte, ganz leicht berührt. Und andere hat sie nicht berührt. Statistisch relevant in der Befragung später konnten sich alle, die sie nicht berührt hat, kaum mehr an sie erinnern. Und jene, die sie berührt hat, erinnerten sich genau: ‹Das war eine sehr nette Frau›.

So können auch wir so viel beitragen zu dieser Vernetzung, wenn wir nur unser unbenütztes Lächeln auspacken, und uns am Abend fragen, wieviel unbenütztes Lächeln habe ich noch übrig: Wir sind auch vernetzt dadurch, dass Menschen sich gegenseitig ermuntern.[4]

Wenn wir diese Vernetzung wirklich erleben, dann wird uns auch unsere Beziehung zu den Tieren und zu den Pflanzen viel mehr bewusst. Erstens sind wir Tiere ‒ menschliche Tiere, da gibt’s einen wichtigen Unterschied, aber trotzdem, wir sind Tiere in jeder Hinsicht ‒, wie es die lateinische Definition ausdrückt: Der Mensch ist ein ‹animal rationale›, ‹ein vernunftbegabtes Tier›.

Also zur Würde gehört auch unsere Beziehung zu den Tieren und die Würde der Tiere: dass die Tiere auch zu dem Ganzen gehören und ganz eigenartig sind: jedes Tier ist eigenartig. An den Haustieren merkt man das, den andern ist man nicht nahe genug, um das zu bemerken. Aber was für Menschen gilt ‒ unsere Einzigartigkeit und Zugehörigkeit ‒, gilt auch für Tiere, mutatis mutandis, aber es gilt.»

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[1] Unsere Zukunft: das Reich des Kindes (1987): ‹Wo stehen wir?›:

«Und tatsächlich sagt uns die Wissenschaft, dass wir mit jedem Atemzug ganz kleine Spuren von Edelgas einatmen. Zum Beispiel macht das Argon 1% unserer Atemluft aus. Da es keine Verbindung eingeht, ist es von allem Anfang an in der Luft gewesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach atmen wir daher mit jedem Atemzug Argonatome ein, die Buddha eingeatmet hat, und Jesus und Moses. Auch in diesem Augenblick hat jeder von uns Atome in sich, die jeder große Mann und jede große Frau der Geschichte, an die Sie denken mögen, nach wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit einmal ebenfalls in sich hatten. So sind wir bereits physisch mit der ganzen Geschichte von Anfang bis Ende und mit jedem Ort der Erde verbunden.

Wir wissen darüberhinaus, dass unser Körper aus Sternenstaub gemacht ist, aus demselben Stoff also wie die Himmelskörper, die wir nur mit den stärksten Teleskopen überhaupt sehen können, die Sterne, die Millionen von Lichtjahren entfernt von uns sind. ‒ Die Materie war ursprünglich eins. Und so hängen wir schon über Raum und Zeit mit allem zusammen.»

[2] First taste of chocolate in Ivory Coast (2014) und Diese Kakao-Bauern essen zum ersten Mal in ihrem Leben Schokolade (2014)

[3] Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011
Spiritualität und Ökonomie: Pater Johannes und Bruder David im Dialog; siehe auch Achtsamkeit:
(46:09) Die Natur wieder achten lernen: Jede Pflanze hat ihren eigenen Engel ‒ Buddhistisches Tischgebet:

Bruder David: «Ein Wort, das du gerne verwendest, ist Sensibilität. Und diese Sensibilität zu steigern, das ist auch etwas, was zu der Spiritualität sehr dazugehört. Dass wir sensibel werden für das, was hinter den Dingen steht, dass man sieht: Woher kommen diese Dinge. Die Buddhisten haben so ein Tischgebet. Das beginnt mit den Worten: ‹Unzählige Arbeiten haben uns diese Speise gebracht: Wir sollten wissen, wie sie zu uns kommt. Unzählige Arbeiten waren notwendig, um uns diese Speise hier auf den Tisch zu stellen: Wir sollten wissen, wie sie zu uns kommt›. Das ist etwas, was mit dieser Sensibilität zu tun hat.»

[4] Dankbarkeit ‒ alles ist Gelegenheit (2013): Interview von Rudolf Walter mit Bruder David:

«Dankbarkeit ist ansteckend, das ist das Wunder: Ein dankbarer Mensch, der sich schon am frühen Morgen freut, einen neuen Tag vor sich zu haben, auch wenn das Wetter nicht gerade wünschenswert ist, wird freundlich in den Tag hineingehen, und wir wissen wie ansteckend Freundlichkeit ist. Ganz fremde Menschen, die einen anlächeln, können den ganzen Tag verändern. Wir können die Welt ändern dadurch, dass wir freudig ins Leben gehen. Freude macht uns lebendiger, kräftiger, verbindet uns mit den anderen.»

Würde und unsere Einzigartigkeit (2019)
Mitschrift des gleichnamigen Audios,
identisch mit dem Vortrag Menschenwürde (2019) (37:25-45:52),
Audio und Mitschrift bearbeitet von Hans Businger


«Und deshalb muss unser Bewusstsein der Vernetztheit einschließlich, all-einschließlich sein. Und um diese Einschließlichkeit beizubehalten, müssen wir uns vor Gruppendruck hüten. Der Gruppendruck ist überall sehr stark, besonders, wenn wir ihn nicht bemerken, und drängt auf Ausschließlichkeit hin. Ich erinnere mich noch an das Plakat von Christoph Blocher vor einigen Jahren mit den weißen Schafen und einem schwarzen Schaf.[1] Ich erinnere mich noch, wie jemand bei einem Plakat über das Haxerl (Bein) des schwarzen Schafes ein Herzerl malte: Jemand, der auf seinen eigenen Füßen gestanden ist.

Und das gehört eben ganz wichtig zur Würde dazu: Wer Würde erlebt und Würde hat, ist unbestechlich, ist unverführbar. Zur Würde gehört: Ich weiß, was ich tue, ganz gleich, ob das andere tun oder nicht. Und da wirkt von Kindheit an der Gruppendruck sehr stark in die gegenteilige Richtung.[2]

Um es nochmals zusammenzufassen: Ich gehöre dazu zu dem Ganzen. Die Evolution hat mir ein Heim bereitet.[3] … Es ist etwas ganz Außergewöhnliches, dass unser Planet wie ein Heim vorbereitet ist, um uns zu empfangen. Und das Leben erhält mich am Leben.

Das Leben, diese geheimnisvolle Wirklichkeit: Wir sprechen so leicht über das Leben: ich habe mein Leben, ich nehme mir das Leben, ich kann mir das Leben nehmen.

Hast du wirklich das Leben, oder hat das Leben dich? Vielmehr: das Leben hat mich! Ich könnte keinen Augenblick überleben, wenn nicht das Leben mich am Leben erhielte.

Ich habe keine Ahnung, wie ich überhaupt mein Herz klopfen lassen kann. 92 Jahre hat dieser Muskel sich immer wieder zusammengezogen. Gewöhnlich genügen 15 Minuten, wenn man einen Muskel anspannt, bis man völlig erschöpft ist. Und das Herz hat immer geschlagen.

Die Verdauung: Bitte verdauen sie jetzt ihr Frühstück. Nicht einmal die Biologen kennen alle die Namen von den tausenden Enzymen, die notwendig sind, um unsere Verdauung zu regeln. ‒ Das Leben erhält uns am Leben: also wir gehören zum Ganzen.[4]

Jetzt haben wir über die Zugehörigkeit nachgedacht, über die Eigenart könnten wir auch nachdenken: Nicht zwei Menschen, nicht einmal Zwillinge haben den gleichen Fingerabdruck. Das heißt aber auch, dass niemand einen Strauß Tulpen so gesehen hat ‒ vorher oder nachher in der Geschichte ‒, wie jede und jeder jetzt diese Tulpen sieht. Denn was wir da sehen, ist ja nicht nur Licht, das unsere Augen trifft: Sehen heißt, es erleben. Und erleben hängt davon ab, wer wir sind. Wir sind so verschieden voneinander, dass nicht zwei Menschen das gleiche erleben können. Das ist auch unser Beitrag zur Menschheitsgeschichte, dass wir das wirklich erleben.

Rilke sagt: ‹Wir sind die Bienen des Unsichtbaren, und wir heimsen den Nektar des Sichtbaren in die große goldene Honigwabe des Unsichtbaren›.[5] Das ist unsere Aufgabe im Leben. Und das mit allen Sinnen zu machen. Und jede und jeder von uns kann das nur ganz anders machen wie alle andern. Wir unterscheiden uns so voneinander.

Dann unsere einzigartigen Begabungen: Wir können uns fragen: Was mache ich gerne, was mache ich gut? Und das ein bisschen unterstreichen: das ist wichtig! Uns immer wieder fragen: Was mache ich gerne ‒, was mache ich ein bisschen besser? Wie kann ich mich selber übertreffen darin?

Und auch unsere Behinderungen, unsere Fehler: Unsere Behinderungen sind auch etwas, was zu unserer Einzigartigkeit beiträgt, und zwar positiv! Helen Keller (1880-1968): blind, taub, stumm, ist eine der großen Erzieherinnen der Menschheit geworden. Wenn sie nicht ganz früh taub und stumm geworden wäre, wäre sie wahrscheinlich auch eine große Frau geworden, aber es war durch ihre Behinderungen, dass sie diesen Beitrag zur Welt geleistet hat.[6]

Also zusammenfassend: Ich bin in das Geheimnis des Lebens eingebettet, engstens verschlungen, verwoben: wir können gar keinen genügend starken Ausdruck finden, wie eng wir in das Leben eingebunden sind.[7]

Und offensichtlich will das Leben mich so, als mich entfaltend in meiner Eigenart, weil: dieses so ist nicht statisch, es will mich so in meiner Eigenart, die bis zum letzten Augenblick noch nicht völlig entfaltet ist.

Rumi sagt: ‹Niemand wird meinen wirklichen Namen kennen› ‒ das heißt, niemand wird wissen, wer ich wirklich bin ‒, ‹bevor mein letzter Atemzug ausgegangen ist›, weil ich es selber nicht weiß; und alles das gilt auch von allen anderen Lebewesen.»

________________

[1] Sicherheit schaffen ‒ SVP-Plakat 2007

[2] Siehe auch Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Erstes Kamin-Gespräch mit Bruder David und die Übersicht über das Gespräch mit Kurzvortrag von Bruder David: Anm. 7, mit Zitaten aus dem Buch Würde (2018) von Gerald Hüther.

[3] Siehe den Film Wir sind daheim in dieser Welt (1975)

[4] Dankbarkeit ‒ alles ist Gelegenheit (2013): Interview von Rudolf Walter mit Bruder David:

«‹Das Selbst› ‒ das bin ich letztlich wirklich. Um das zu verstehen, ist ein Ansatzpunkt, zu fragen: Du lebst ‒ was heißt das? Unzählige Lebensprozesse gehen in deinem Körper vor sich. Wer kontrolliert die denn? Bist  d u  das? Kannst  d u  jetzt dein Frühstück verdauen? Versuch's einmal. Das musst du etwas anderem überlassen, eben dieser Kraft in dir, die du selbst bist und die du mit allen anderen teilst. Und die sich nicht trennen lässt von der Kraft, die Bäume wachsen lässt und den Regen sendet und die Erde um die Sonne kreisen lässt und die Sonne in ihrer Bahn führt: Das alles ist eine Kraft, die auch in dir wirkt.»

[5] Das Zitat von Rilke in Rühmen, Er-innern, Aufheben

[6] Siehe dazu Berufung

[7] Auf dem Weg der Stille (2016), 72; siehe ausführlicher in Zugehörigkeit: Ergänzend: 2.:

«Aber das eine, was du nicht unterlassen solltest, ist, dass du dich fragst: ‹Wo ist mir schon einmal für den Bruchteil einer Sekunde aufgegangen, dass ich dazugehörte, und ich das bis in meine Knochen hinein empfand, und dass ich mit allem eins war und alles mit mir eins war›?

Das ist das Wesentliche, und das ist eine Art des Erkennens, und zwar die größtmögliche Art des Erkennens, die nicht auf Gedanken beschränkt ist, nicht auf Gefühle und nicht auf irgendeine andere Art des Erkennens. Und das ist Gemeinsam-Sinn (common sense) in der tiefsten Bedeutung dieses Wortes.

Es ist ein Wissen, das so tief geht, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen seines Gemeinsam-Seins hat.

Darin ist alles beschlossen: Mittels deiner eigenen Glückseligkeit kennst du die Glückseligkeit von allem und jedem, was es in der Welt gibt, denn in diesem Augenblick der Glückseligkeit hast du sozusagen ans Herz der Welt ‒ die spirituelle Erkenntnis ‒ gerührt, an das Wissen, dass alles ‹zusammen sinnt› (commonsense knowledge).»

Die Würde des Menschen (2019)
Mitschrift des gleichnamigen Audios,[1]
identisch mit dem Vortrag Menschenwürde (2019) (45:52-56:16),
Audio und Mitschrift bearbeitet von Hans Businger


«Und da kommen wir zu einer Definition von Würde, da könnte man sagen: Würde ist der unbedingte Wert jedes einzelnen Menschen als Repräsentant des großen Geheimnisses; so stellt sich das große Geheimnis dar.

Und was meine ich mit Geheimnis? Das ist gar kein so geheimnisvoller Begriff, das lässt sich ganz klar sagen: Unter Geheimnis verstehen wir eine Wirklichkeit, die wir nicht begrifflich erfassen können, wohl aber durch ihre Wirkkraft auf uns verstehen können. Das große Geheimnis können wir verstehen, wenn es  u n s  ergreift.[2]

Bernhard von Clairvaux sagt: ‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise.›[3] Und wir wissen alle zum Beispiel, dass man Musik nicht analytisch begreifen kann, aber man kann sie verstehen, wenn sie einen ergreift. Und das ist ein Beispiel vom großen Geheimnis, das uns ergreift und unsere Beziehung zu diesem großen Geheimnis.

Und wir sind Repräsentanten dieses großen Geheimnisses, denn wir sind uns selber ja Geheimnis. Wir können uns selber nicht ausloten: du kannst dich verstehen, aber nicht begreifen. Also bist du dir selber Geheimnis und die ganze Umwelt und die ganze Mitwelt.

Und vor diesem großen Geheimnis des Lebens tragen wir Verantwortung. Das gehört unbedingt zur Würde dazu. Wir haben unbedingten Wert, weil wir Repräsentanten dieses großen Geheimnisses sind, und haben davor Verantwortung. Da kommen alle andern Menschen, alle andern Bereiche dazu; diese Verantwortung lässt sich nicht trennen von der Würde. Wer Würde hat, der hat Verantwortung, ist sich verantwortungsbewusst.

Verantwortung bedeutet, dass wir so leben, dass wir jeden Augenblick ‒ idealerweise ‒ den Anruf des Lebens hören. Denn das Leben gibt uns jeden Augenblick etwas Neues, das kann man als einen Anruf verstehen, weil es auch etwas von uns will. Meistens ist es sehr angenehm: es will nur, dass wir uns daran freuen ‒ meistens ‒, hie und da auch sehr schwierige Dinge, und wir müssen antworten. Und das ist Verantwortung im letzten Sinn.

Der große russische Philosoph Ende des 19. Jh., Wladimir Solowjow,[4] spricht von drei Haltungen, die uns wirklich zu Menschen machen, und das hat sehr mit der Würde zu tun.[5]

Das Erste ist: Die Ehrfurcht vor dem großen Geheimnis. Wir erleben das meistens in unseren besten und lebendigsten Augenblicken, in unseren Gipfelerlebnissen, zugleich mit Furcht und Begeisterung. Wir sind zugleich angezogen und erschrocken in diesem Doppelereignis, wenn wir in einem großen Gewitter sind oder in den Bergen.[6] Diese Ehrfurcht ist nicht Furcht.[7]

Das Zweite, was uns zu Menschen macht ‒ gegenüber der Umwelt und Mitwelt ‒, ist Mitgefühl: ‹Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu›.[8]

Und das Dritte ‒ uns selbst gegenüber ‒, sagt Solowjow, ist Scham. Das ist ein erstaunliches Wort, das er hier verwendet: es schützt unsern Intimbereich. Es hat mit unserer Würde zu tun, indem ich mich schäme, mich unwürdig zu benehmen. Die Scham behütet meine Einzigartigkeit, während das Mitgefühl meine Zugehörigkeit betont. Und die Ehrfurcht ist die Grundlage für Mitgefühl und Scham.

In unserer Gesellschaft ist das Bewusstsein der Würde weitgehend verlorengegangen. Das sagen alle, die sich mit diesem Begriff der Würde beschäftigen, und warum? Es gibt sicher viele Gründe; einer, der mir in die Augen sticht, ist unsere Vereinzelung. Die Vereinzelung ist das Gegenteil vom Bewusstsein der Zugehörigkeit. Viele Menschen erleben das als Einsamkeit, man kann es aber in diesem Zusammenhang als etwas sehr Positives sehen: Wir haben unsere Eigenständigkeit gefunden: das war ungeheuer schwierig, dafür haben Generationen unserer Vorfahren viel bezahlt an Energie und Leid, dass wir nicht einfach Teile der Gesellschaft sind, sondern eigenständige Wesen. Das ist etwas sehr Wichtiges. Aber wir haben das soweit getrieben, dass unsere Verbundenheit zu den andern verlorengegangen ist.

Und jetzt stehen wir vor dem nächsten Schritt, dass wir alles das Positive, das durch unsere Eigenständigkeit erworben wurde, mitnehmen und die Verbundenheit wieder erleben und diese Verbundenheit  l e b e n. Das ist die große Aufgabe.

Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der jeder Mensch gewürdigt wird, und zwar als Person, nicht als Nummer oder Fall.[9] Und Person ‒ das Wort kommt vom lateinischen Wort ‹persona›, der Maske, die die Schauspieler in Athen und Rom getragen haben, und heißt eigentlich ‹das Durchtönende›: ‹per-sonare› heißt durch-tönen.[10] Wir sind Person, weil durch uns das große Geheimnis sich ausdrückt und wir aufeinander horchen und das Geheimnis durchtönt durch uns.

Und C. F. Lewis schreibt einmal: Wenn wir wirklich einen andern Menschen sehen könnten mit offenen und gesunden Augen, wären wir so hingerissen, dass wir niederfallen würden und anbeten ‒ irgendeinen Menschen. Weil eben das große Geheimnis durch  j e d e n  Menschen durchtönt. Und das ist letztlich Grund unserer Würde.»

Am Schluss des Vortrags ermutigt Bruder David alle, die zuhörten, einen Entschluss und Vorsatz zu fassen, und «der Entschluss kann nicht kräftig genug sein, und der Vorsatz kann nicht spezifisch genug sein:  d a s  werde ich tun ‒, etwas ganz Kleines, zum Beispiel: Ich werde die andern anders anschauen und sie anlächeln.»

_______________

[1] Siehe diese Mitschrift auch in Würde, Rückgrat, Scham im Abschnitt: Ehrfurcht und Scham

[2] Siehe in Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 42

[3] Siehe auch Andreas Salcher im Gespräch mit Bruder David (2018), Anm. 6

[4] Wladimir Sergejewitsch Solowjow (1853-1900); ältere Schreibweise: Wladimir Sergejewitsch Solowjew

[5] Siehe Jean-Claude Wolf: Humanismus oder warum wir keine Tiere sind: Überlegungen im Ausgang von Wladimir Solowjew

[6] Orientierung finden (2021), 63; siehe auch Religiosität ‒ Staunen und Ehrfurcht:

«Rudolf Otto (1869-1937) hat die Begegnung mit dem Geheimnis unter dem Aspekt des ‹Heiligen› gründlich untersucht. Er beschreibt die beiden Gefühle, die das Heilige in uns auslöst, als «tremendum» ‒ das heißt, es lässt uns ehrfürchtig erschaudern ‒ und ‹fascinans› ‒ das heißt, es löst begeistertes Entzücken aus.»

[7] EHRFURCHT in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 133:

«Nach allem, was wir über Furcht und Angst geschrieben haben, verlangt der zweite Teil dieses Wortes nach einer Erklärung. Die Ehrfurcht weigert sich ‒ denn Weigerung ist die Haltung der Furcht ‒, Ehre anzutasten. Ehrfurcht ist ein Erkennungsmerkmal eines spirituell wachen Menschen. Dieses Wachsein ist verlangt, um die Gegenwart des Geheimnisses zu spüren. Da das Geheimnis in allem, was uns begegnet, gegenwärtig ist, ist Ehrfurcht eine Lebenshaltung spiritueller Menschen. Diese Ehrfurcht zeigt sich in der Begegnung mit allen Lebewesen als Anerkennung der Würde, die ihnen zukommt. Von größter Bedeutung ist heute Ehrfurcht vor der Menschenwürde.»

[8] Diese Haltung ist auch als Goldene Regel bekannt, siehe Gespräche im Lehrgang «Geistliche Begleitung» (2018): Zweites Kamin-Gespräch mit Bruder David
(30:26) Wann ist Ethik ethisch? und Liebe ‒ die Antwort auf die Krisen unserer Zeit (2017)

[9] Ich bin durch Dich so ich (2016): ‹9 Doppelbereich ‒ 9. Dialog›, 188; siehe auch Sterben und Angst

«Wir wissen, dass es um den Tod herum sehr häufig Krankheiten, Leiden und Schmerzen gibt. Das allein genügt, mir Angst zu machen, wenn ich es mir ausmale. Hinzu kommt, dass man heutzutage früher oder später nur mehr ein Fall oder eine Nummer wird in einem Krankenhaus. Diese Entpersönlichung macht mir ebenfalls Angst. Aber das Leben macht uns, abgesehen von Alter und Sterben, immer wieder auf die eine oder andere Weise Angst. Wir brauchen Mut.»

[10] Die Rolle ist das Ich, der Schauspieler ist das Selbst (2011)
Zum Film::
    Das Ich als Maske und das Selbst ‒ kurzer Ausschnitt aus ‹Ich und Selbst› im Zentrum Buddhas Weg im Odenwald (DE); siehe auch Ich-Selbst: Ergänzend: 1.2.

«Würde  was wären wir ohne sie?» (2018)
Übersicht über die Themen des Gesprächs von Heiner Schmidt mit Helmut von Loebell und Bruder David Steindl-Rast 
Transkription© von Hans Businger (2024)


Einführung in das Gespräch

Beginn mit Musik(03:10) Heiner Schmidt (HS) leitet das Podiumsgespräch ein:

«In Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes heißt es, die Würde des Menschen ist unantastbar, doch was genau ist Würde, was bedeutet es, wenn unsere Würde verletzt wird?»

Der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther sagt: «Das Bewusstsein unserer Würde ist so etwas wie ein innerer Kompass, den jeder Mensch im Lauf seines Lebens entwickelt und der ihm hilft, sich nicht in der Vielfalt der von außen an ihn herangetragenen und auf ihn einstürmenden Anforderungen und Angebote zu verlieren.»[1]

Er meint, es sei wichtig, dass wir lernen, die Wahrnehmung der eigenen Würde zu stärken; wer sich seiner Würde bewusst wird, geht aufrechter, lebt authentischer und ist auch nicht mehr verführbar.

Wir wollen heute Abend überprüfen: ist das so, hat er recht, und wenn ja, wie macht man das, die eigene und die Würde anderer stärken?

(05:14) Musik(06:25) HS stellt uns Helmut von Loebell (HL) und Bruder David (BD) vor und sagt, wo und wie sie einander begegneten.[2]

Teil 1: Würde erleben in der eigenen Kindheit

(14:36) Unsere Würde entsteht sehr früh und wesentlich ist, dass wir gesehen werden, dass wir wahrgenommen werden, dass wir Zugehörigkeit erleben, dass sich jemand freut über uns, dass wir Spielraum haben, uns zu entfalten. (Gerald Hüther)[3]

HS geht auf die Kindheit von Helmut von Loebell ein und fragt ihn: Was hat dir in den Jahren deiner Kindheit geholfen, dass du so etwas wie Geborgenheit erlebt hast oder die Möglichkeit, trotzdem Ja zum Leben zu sagen (Viktor Frankl), obwohl du gespürt hast, ich bin in Wirklichkeit nicht willkommen, sondern meinen Eltern eine Last?

(16:48) Helmut von Loebell blickt zurück auf sein Leben und gesteht innerlich bewegt, wie ihm die Erfahrung von Würde und Geborgenheit als Kind und als Geschäftsmann versagt blieb; er erlebte Geborgenheit erst in seiner Familie, die an diesem Abend vor ihm sitzt: Man kann entweder zu Grunde gehen oder sich aufraffen und sagt sich schon als 6, 8, 10jähriger: Das mache ich jetzt anders. Das kleine Kind in mir hat gesagt, das musst du anders regeln: Wenn ich einer Familie nicht mehr passte, dann habe ich einen solchen Zirkus gemacht, dass meine Mutter mich abgeholt und zur nächsten gebracht hat. Das war natürlich eine tolle Sache: Ich konnte über mein eigenes Leben entscheiden. Die letzte Entscheidung, die meine Mutter getroffen hatte, war, dass sie mich nach Kolumbien schickte. Ich wollte nicht nach Kolumbien, ich wollte Dirigent, Anwalt werden. Seitdem ‒ ich war damals 18½ Jahre alt ‒ habe ich allein über mein Leben entschieden.

(19:57) BD: Ich bin ungeheuer dankbar, weil alles, was dir in deiner Kindheit nicht geschenkt wurde, mir trotz der schwierigen Umstände ‒ Depression und Kriegszeit ‒ geschenkt wurde.

Es waren äußerlich immer große Schwierigkeiten, aber mir wurde immer das Bewusstsein geschenkt, ich werde geliebt ganz gleich, was ich tue. Natürlich wusste ich auch ganz genau, was ich tun darf und was ich nicht tun darf. Aber ich wusste auch, wenn ich das tue, was ich nicht tun darf, dass ich dann nicht weniger geliebt werde von meinen Eltern. Das war nicht ausgesprochen, das war einfach ein Bewusstsein.

Und außerdem wurde meine Eigenartigkeit völlig anerkannt, wir waren drei Brüder und wir waren ganz verschieden voneinander, doch unsere Verschiedenheit wurde völlig gefördert mit großen Kosten. Ich wollte Florettfechten lernen und meine Mutter musste dafür zusätzlich Nachhilfestunden geben in Englisch, damit wir uns das leisten konnten. Sie hat ausdrücklich gesagt: Was ihr lernen wollt, ‒ wenn ihr dabeibleibt ‒, dürft ihr machen. Wir werden das Geld irgendwie aufbringen.

(23:09) Bruder David fragt Helmut von Loebell, wie er in seiner Kindheit, in der er weder fraglose Zugehörigkeit erleben durfte, noch in seiner Eigenart anerkannt wurde, durchgekommen ist: Wie lebte er das trotzdem?

HL: Ich hatte erst einmal die Notwendigkeit zu überleben. Man muss nicht mehr wissen, man muss nicht mehr sein wollen als man mitgekriegt hat, was einem auch pränatal in die Wiege gelegt wurde.

BD: Natürlich hast du versucht, den Kindern zu geben, was du selber nicht bekommen hast.

HL: Das habe ich vorher nicht gewusst, mir ist erst vor 10 oder 15 Jahren bewusst geworden, was ich bereits 40 oder 50 Jahre mache. Statt wie andere Golf spielen, wollte ich mich in Bogotá um Kinder kümmern.

HS: Zum Stehaufmann gehören Niederlagen und die Härte des Geschäftslebens, in der ein Großkaufmann die Würde anderer verletzt.

(27:03) HL: Geschäfte, wenn man sie groß machen will, sind eine Sache, dass man durch die Wand geht. Das ist purer Kapitalismus. Entweder ist man affiliiert dazu oder man wird Künstler, Lehrer oder Pfarrer. Der Stehaufmann ist ein Abenteurer, der durch die Wand geht, so wie mein Großvater vor 120 Jahren in Kolumbien. Den habe ich nachgemacht, jedenfalls zum Teil.

Geschäftemachen in Südamerika, große Geschäfte, Staatsgeschäfte, das macht man nicht nur mit Liebenswürdigkeit, da muss man ab und zu den Fuß hineinstellen, dass es würdelos ist. Ich würde mich nicht als würdelos bezeichnen, aber einige Taten, die ich gemacht habe, sind ohne Zweifel würdelos.

Ich kann ja meine Würde gar nicht verlieren. Die habe ich ja geerbt. Mit der bin ich auf die Welt gekommen: pränatal und postnatal. Aber ich kann würdelose Taten tun, und zwar eine ganze Menge. Wenn man würdevolle Taten tut, wie Kinderdörfer organisieren, dann muss man auch ab und zu eine würdelose Tat machen. Aber wenn man etwas tun will, dann muss man es tun und nicht nur darüber reden: sechs Schritte voraus und fünf zurück.

Teil 2: Würde ‒ was meinen wir damit?

(30:51) Musik(34:31) HS: Der Begriff ‹Würde› ist vielschichtig.

BD: Mir hat es geholfen, eine große Klarheit zu finden in dem, was über Würde geschrieben wird, dass es immer wieder auf zwei Dinge ankommt: auf Zugehörigkeit und auf Eigenständigkeit.

Damit Kinder das Bewusstsein ihrer menschlichen Würde erlangen, muss man ihnen das Bewusstsein der unbedingten Zugehörigkeit ohne Wenn und Aber schenken, und zweitens: Du bist ganz etwas Besonderes und hast ein Recht, ganz besonders zu sein, zunächst in der Familie.

Der nächste Schritt ist, dass das eigentlich auch in der Schule sein sollte. Bei allen wichtigen Schulreformen ‒ hier in Deutschland und Österreich: Schule im Aufbruch und eine große Schulreform in Argentinien ‒ geht es darum, den Kindern Zugehörigkeitsgefühl zu geben zur Schule, zu den anderen Mitschülern und zu allen, die in der Schule arbeiten, und ihnen zu vermitteln: jede und jeder von uns ist einzigartig und unersetzlich und wird gerade geschätzt, weil sie oder er so verschieden ist von den anderen.

Das ist wirklich eine Frage der Schulreform, denn in der typischen Schule gehörst du nur dazu, wenn du dich anpasst. Der Lehrplan ist nicht auf diesen oder jenen Studenten zugeschnitten, sondern du musst genau hineinpassen.

Wir wissen aus der Geschichte, dass oft Kinder, die in der Schule Versager waren, später als Genies der Menschheit viel geschenkt haben.

(39:25) Für Menschen, die ohne dieses Gefühl der Zugehörigkeit aufgewachsen sind, ist es schwierig, aber nicht unmöglich, einen Zugang zu finden: Ich gehöre dem Ganzen der Welt an, diesem großen Kosmos ‒ religiös ausgedrückt: Ich bin ein Kind Gottes, wir alle sind Kinder Gottes in einer großen Familie ‒, und ich habe meine eigene Rolle hier zu spielen, die kein anderer Mensch genau so spielen kann.

Unsere Verschiedenheiten sind ja unglaublich groß, wenn man einmal beginnt, darüber nachzudenken. Und wenn diese beiden zusammenkommen: fraglose Zugehörigkeit und Würdigung der Eigenart, dann kann jemand seine Würde leben. Das gilt für die Erziehung der Kinder und für die Würdigung anderer. Es fühlt sich so an, als ob man fest  s t e h t, man ist irgendwie gesichert in Würde. Es gibt einem eine Sicherheit. Wenn man die hat, kann man auch andere würdigen und andere würdig behandeln.

Das heißt: Wie immer die verschiedenen Situationen sind, man gibt den andern das Gefühl: Du bist ganz anders, doch wir gehören zusammen, wir haben gemeinsame Interessen ‒ alle Menschen haben gemeinsame Interessen ganz tief irgendwo ‒, und ich erkenne dich in deiner Andersartigkeit an. Ich weiß das zu würdigen. Nicht Gleichmacherei.

Verlust der Würde und Scham

(41:56) BD: Und das ist halt leider in unserer Gesellschaft verloren gegangen. Und es ist in unserer Lebenszeit verlorengegangen. In meiner Kindheit hat die Gesellschaft Menschenwürde als einen großen Wert angesehen. Und heute wird sie nicht mehr als großer Wert angesehen. Sie steht vielleicht noch in den Gesetzbüchern, aber man will ganz allein sein, das Ideal ist der Einzelgänger, der nicht aus Zugehörigkeitsgefühl handelt, und seine Einzigartigkeit auf Kosten der andern auslebt.

(43:37) HS erlebt, wie junge Menschen warme, mit Körperkontakt spürbare Wertschätzung ausdrücken und spricht HL auf die Waldorfschulen an.

HL: In den Waldorfschulen nehmen wir das Kind als eine geistige Entelechie wahr, wir nehmen das Kind wahr, wir haben nicht 35 Kinder, wir haben 35 Schicksale.

Die Würde ist das Treffen der geistigen Welt in mir. Ich muss eine Beziehung zu ihr aufbauen. Ganz praktisch, Wolkenkuckucksheime gibt’s genug. Das höhere Ich hat eine Beziehung zu der geistigen Welt und diese geistige Welt wird in mir durch die Würde vertreten, sie ist ein Kontrollorgan im positiven Sinn des Wortes, ein Organ der Liebe.

(48:10) BD: Zu der Eigenständigkeit, die heute betont wird, gehört als Gegengewicht die Zugehörigkeit dazu: beides muss gegenseitig ausgewogen sein, und zudem das Bewusstsein, dass ich meinen Teil tue. Ich habe eine Begabung und ich schulde der Gesellschaft, dass ich, was immer meine Aufgabe ist, so gut wie möglich tue.

Daran sieht man den Verlust der Menschenwürde in der Gesellschaft: Vor nicht allzu langer Zeit konnte man sicher sein, wenn man einen Mechaniker gebraucht hat oder einen Installateur im Haus oder einen Elektriker, dass man sich verlassen konnte, dass die das so gut wie möglich machen. Und ich fürchte, man kann das nicht mehr heutzutage. Es ist nicht mehr das Ideal. Ein Installateur hätte sich geschämt, nicht sein Bestes zu geben, wenn er irgendwo hinkommt, und man hat es unverschämt genannt, wenn jemand das nicht gemacht hat. Scham und Unverschämtheit, das gehört auch sehr zu dieser Würde dazu.

Die Würde eines Menschen, das Bewusstsein seiner Würde zeigt sich darin, dass man sich schämen würde, etwas zu tun, was unter seiner Würde ist.

HS: Das Gewissen in uns ist auch ein Gradmesser, was würdig und unwürdig ist.

HL: Die Würde könnte eine Art der Geborgenheit der Gesellschaft sein gegenüber der geistigen Welt. Ich fühle mich geborgen, indem ich mit meiner Würde würdevoll umgehe.

HS: Jeder Mensch ‒ egal seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seines religiösen Hintergrunds ‒ hat den Hl. Geist in sich, das göttlich Ja.

Die eigene Würde leben

(51:31) HS: Wo lebt ihr Eure eigene Würde am stärksten? Kann man Würde festmachen an einem Gefühl, an einem inneren Zustand? Habt ihr Methoden, die eigene Würde zu leben?

HL: Wenn ich mir des Geistigen in mir bewusstwerde, dann ist das ein Glücksgefühl, ein Akt der Liebe. Das Geistige ist, wenn ich mir bewusstwerde, dass ich ein geistiges Wesen bin. Situationen, in denen das kleine Kind in mir angefacht wird. Und das kleine Kind möchte, dass ich die Sachen würdevoll mache.

HS: Mit deiner Geschichte, den kleinen Helmut in dir zu lieben, der ganz viel entbehrt hat.

(54:35) BD: Die Zugehörigkeit erlebe ich in zwei Situationen: Im Chorgebet ‒ das gemeinsame Singen, die Gemeinsamkeit im Kloster ‒ und in der Natur. Ich glaube, dass viele Menschen, die ihre Religiosität in der Natur ausleben, eben dort dieses Zugehörigkeitsgefühl haben.

Und meine Eigenständigkeit erlebe ich am meisten in dem, was ich schon gesagt habe: Ich will meinen Teil ‒ etwa beim Schreiben oder Abwaschen ‒ so gut wie möglich machen. Das kann auch ein bisschen eine Art Besessenheit sein, da muss man sich hüten.

(56:00) Und dann kommt natürlich in meinem Alter dazu: Die Frage vom würdigen Sterben. Und das hängt nicht so sehr von einem selber ab, da muss man hoffen, dass man selber nicht eine Nummer wird oder ein Fall. Ich muss ehrlich sagen, davor habe ich eigentlich Angst. Ich stelle mir vor, ich bin irgendwo in einem Spital, ich kann nicht mehr reden, und werde so als Ding behandelt. Ich würde versuchen, das anzunehmen als Zugehörigkeit zu allen andern, die selber auch in einer solchen Lage sind ‒ hunderttausende Menschen sind in einer solchen Situation. Es gehört im Leiden dazu, sich immer wieder daran zu erinnern, wie viele andere dasselbe erleiden.

Und ich bemühe mich, wenn ich Menschen sehe, die mir so ganz fremd sind, in ihnen Menschenkinder ‒ Gotteskinder ‒ zu sehen, wir alle sind ganz verschieden, aber wir gehören zusammen: Bettler, die am Rand sitzen. Manchmal ist es viel einfacher, sich eins zu fühlen mit dem Bettler, der bei der Felsenreitschule sitzt als mit den Politikern, die man auf der Leinwand sieht.

Ich habe vor ein paar Tagen geträumt, dass ich bei Donald Trump zu Hause war. Ich war sein Hausgast und er war ganz nett. Und in meinem Traum ist mir das gar nicht aufgefallen, wie sonderbar das war.

Teil 3: Würde stärken

(58:58) Musik(01:02:37) HS leitet das Stichwort Verantwortung ein: Helmut, du hast in Kolumbien initiiert, dass Kinder Würde empfangen, dass sie Zugehörigkeit erleben, dass sie in ihrer Individualität gesehen werden, dass sie gefördert werden in ihren Begabungen: Was können wir heute tun, um die eigene Würde zu stärken, aber auch die Würde anderer, aber speziell bei den jungen Menschen?

HL: Ich kann als erstes schauen, wer bin ich eigentlich? Was hat Würde mit mir zu tun? Ich schaue mal nach, was ich in 50 oder 60 Jahren würdeloses gemacht habe, und wie ich damit umgegangen bin und wie ich das heute sehen würde.

Ich verabrede etwas mit mir selber, und handle dann, wenn ich die Möglichkeiten dazu habe. Ich bin in keiner Weise etwas Besonderes. Was ich gemacht habe, habe ich automatisch, aus dem Stegreif, gemacht. Ich habe nicht darüber nachgedacht.

Also man kann etwas tun, auch wenn man noch nicht genau weiß, warum man das tut. Ich habe eine Kaufmannsseele, das hat manchmal sehr gut funktioniert und manchmal überhaupt nicht. Deswegen gibt es auch die Auf- und Abfahrten, die sind manchmal unglaublich oder gefährlich an der Grenze des Loyalen. Das ist Kolumbien, das ist Südamerika. Ich habe Geld verdient und das Geld wohin gesteckt, ich habe keine Autos gekauft, ich habe Kinder unterrichtet, das ist für mich etwas ganz Logisches, in keiner Weise etwas Besonderes. Wenn ich die Kinder sehe, dann sehe ich die Würde in ihnen.

(01: 10:35) BD: Mir scheint, dass wir unsere eigene Würde am besten stärken, indem wir andere würdigen. Es ist eine Beziehungsangelegenheit, und das Gegenteil davon ist heutzutage das Mobbing: In Amerika ist Mobbing eine Epidemie in den Schulen, es führt zu Selbstmord. Ein Student wird ausgesondert und die Mobber sagen ihm, du bist immer schlecht angezogen oder du bist hässlich oder irgendetwas, was deine Eigenart ausmacht, wird als schlecht angesehen und du gehörst nicht zu uns dazu.

Wenn es einem gelingt, Mobbingopfern ihre Würde zurückzugeben, das Gefühl: Wir gehören zusammen und du bist etwas ganz Besonderes in irgendeiner Weise, dann hat man wirklich diesen Erdrutsch des Verlustes der Menschenwürde ein bisschen aufgehalten. Ich glaube, dazu hat jeder irgendwo und irgendwann mal Gelegenheit.

(01:14:27) HL: Einer unserer Buben in Bogotá ‒ in unseren Projekten sind Binnenflüchtlinge, also Opfer, die vor der Guerrilla flüchteten ‒ hat zu mir gesagt vor zwei Jahren: Weißt du, dieser ganze Waldorfzirkus, den ihr da macht, das ist o.k. Aber was wirklich o.k. ist: Ich habe bei euch gelernt, dass ich nicht mehr Menschen umbringen muss, um selber zu leben. Er hat kapiert, dass er nicht böse sein muss, um selber zu überleben.

HS: Wenn ich heute den Straßenzeitungsverkäufer vor der Billa einlade, weil ihm so kalt ist, dass er am Nachmittag vorbeischaut zu einem Tee, dann runzeln die Nachbarn die Stirn. Das tut weh. Wir sind keine Gesellschaft des Willkommens von Flüchtlingen und wir schauen weg bei Menschen, die wirklich Schwierigkeiten haben im Leben.

Was wir tun können, ist, auch wenn es sich kitschig anhört: dem Herzen folgen. Die Menschen, die ausgegrenzt werden, wahrnehmen und auf sie zugehen und Beziehung zu beginnen, ohne etwas Großes. Da sind die spirituellen Traditionen eine große Hilfe. Ob jetzt Menschen meditieren, ob sie im Spazieren beten, ob sie religiöse Texte lesen oder sonstige Rituale haben, am Berg, in der Natur ‒ du, Helmut, hast es Geist genannt. Wenn ich unrund bin, und eckig und borstig: in dem Moment, wo ich wieder Zeit finde, im Spazieren, in der Natur zu beten und still zu werden und wirklich leer zu werden, dann habe ich das Gefühl, jetzt kriege ich gerade wieder Würde. Und mit diesem aufgefüllten sich würdig fühlen, lebt es sich wieder besser.

(01:18:48) BD: Es ist schön, dass du so betonst, dass die Religion, besonders für uns das Christentum unsere Würde stärkt. Und es ist schon auch wahr, wenn es gut geht. Aber man muss leider auch sagen, dass vielen Menschen geschadet worden ist, dass ihre Würde heruntergedrückt wurde, gerade im religiösen Kontext. Heute sind viele katholische Christen sehr sensibel dafür. In der Liturgie beten wir vor der Kommunion: ‹Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach›. Da muss man sich dazu denken: ‹Du aber machst mich würdig›, wie in der Deutschen Messe von Johann Michael Haydn.[4]

Es ist die Geste des Vaters, der den verlorenen Sohn schon von weitem sieht, und einfach in die Arme schließt. In dem Bild ‹Die Rückkehr des verlorenen Sohnes›, das Rembrandt gemalt hat, steht der Vater da und umarmt ihn, und eine Hand ist männlich und die andere Hand ist weiblich: das gibt uns letztlich die Würde.

Und da gehört schon etwas dazu, dass man sieht: Auch die Würde ist mir geschenkt. Das ist das Schöne. Man würdigt es mehr, wenn es einem geschenkt wird, wenn man sieht: es ist Geschenk. Ob man da jetzt sagt, es ist ein Geschenk Gottes oder Geschenk des großen Geheimnisses der Natur, dass ich dazugehören darf zu dem Ganzen: es als Geschenk anzusehen ist sehr hilfreich. Und dann wird man wieder bereit, es andern zu schenken.

Teil 4: Fragen und Anregungen aus dem Publikum

(01:22:26): Wie Berühren und Umarmen Zugehörigkeit vermitteln kann. ‒ Die Individualität von Schülern fördern, ohne auf ein Schulprojekt zu warten.

(01:27:55) HL: Würde und Vertrauen: Würde hat zu tun mit dem Geistigen und dem Geistigen muss ich vertrauen. Ich bin ein geistiges Wesen und muss mich mit dem Geistigen vertrauensvoll verbinden.

BD: Wie verhält man sich Menschen gegenüber, denen man nicht vertraut, weil sie Böses tut? Man kann sie ausgrenzen: Wir sind die Guten, das sind die Bösen. Das führt zu nichts. Oder man kann sie anschauen, so wie eine Mutter ein Kind anschaut, das sich schlecht benimmt: Du wirst aus diesem Verhalten herauswachsen.

Die Haltung, das Böse als das noch nicht Gute anzuschauen, macht einen enormen Unterschied aus. Das darf man nicht beschönigen: du tust etwas, das dem Leben schadet, gegen den Strich des Lebens geht, aber du kannst es besser machen.

Üben, lange genug hinschauen, bis man auch beim unsympathischsten Menschen etwas Positives findet. BD endet mit einer witzigen Anekdote aus seinem Kloster.

Video zum Projekt CES Waldorf in Bogotá

(01:39:00-01:44:08), anschließend spricht HL über die soziale Situation in Kolumbien, die sich weiter verschlechtert hat. Er zeigt zwei Fotos: ein Mädchen mit einem Gewehr und eines mit einer Guerilla Mütze und drückt seine Überzeugung aus: Auch diese Kinder haben Würde!

(01:47:28) Dankesworte von HS.

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[1] Gerald Hüther: Würde: Was uns stark macht ‒ als Einzelne und als Gesellschaft; mit Uli Hauser, München, Albrecht Knaus Verlag 62018: ‹Worum es geht›, 19

[2] Das erste deutschsprachige Buch von Bruder David Fülle und Nichts (1985) erschien im Dianus-Trikont-Verlag und Helmut von Loebell hat den Aufbau dieses Verlages kaufmännisch unterstützt und viel Geld in diese Unternehmung gesteckt. Er schreibt in seinem Buch Der Stehaufmann (2016): ‹Mein ‚Nebenjob‘ als Verleger›, 121f.:

«So kam es, dass ich, der ich damals durch meine ‹halbe› Ausbildung und die fast dreißig Jahre des Aufenthaltes in Kolumbien in Kulturfragen noch sehr unerfahren war, als Autoren des Dianus-Trikont-Verlags Persönlichkeiten wie David Steindl-Rast, Fritjof Capra, Johan Galtung, Jakob von Uexküll, Carl Friederich von Weizsäcker oder S. H. den Dalai Lama kennenlernte ‒ Letzteren im Rahmen eines internationalen Treffens im Mai des Jahres 1986 in einem Hotel am Eibsee in Oberbayern, am Fuße der Zugspitze. Zu diesem Treffen hatte der Dianus Trikont-Verlag und die Gesellschaft zur Förderung Tibetischer Kultur geladen: Sowohl der Dalai Lama als religiöse Autorität als auch der Philosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker hielten dabei Vorträge unter dem Motto ‹Zeit und Raum›.»

«David Steindl-Rast, ein großer Geist des 20. und 21. Jahrhunderts war ebenfalls ein Autor des Dianus-Trikont-Verlages, den ich persönlich kennengelernt habe. Er wuchs mir durch seine spirituellen Texte, die mich bis heute begleiten, besonders ans Herz. Zuletzt sprach ich mit ihm im April 2016 in Bogotá, wo er bei der Jesuiten-Universität vor vielen tausend Menschen seine spirituellen Ideen und Wünsche darlegte.

Bruder David ist eine heute 90-jährige herausragende christliche Persönlichkeit, und ich bin froh, ihn noch einmal erlebt zu haben. Sein Vorwort zu diesem Buch freut mich, und ich bin dankbar dafür.»

[3] Gerald Hüther, Würde, ‹Wie entsteht das Bewusstsein für die eigene Würde›, 120:

«Jedes Kind will dazugehören, es will gesehen werden und es will lernen, wie das Leben geht. Solange Kinder dieses Bedürfnis in sich spüren, finden sie auch Mittel und Wege, es zu verwirklichen. Allerdings haben nicht alle das Glück, ihre eigene Bedeutsamkeit und ihr vorbehaltloses Angenommensein in den strahlenden Augen ihrer Mütter oder Väter auch noch dann zu spüren, wenn deren Anfangsfreude über den Neuankömmling verflogen und der familiäre Alltagstrott wieder eingekehrt ist.

Nicht alle Kinder machen die Erfahrung, bedingungslos und um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Sie wissen noch nicht, weshalb das so ist und was es bedeutet, wenn ihre Würde verletzt wird. Sie können es nur spüren.»

[4] Johann Michael Haydn (1737-1806): Deutsche Messe: ‹O Herr, ich bin nicht würdig, zu deinem Tisch zu gehn. Du aber mach mich würdig, erhör mein kindlich Flehn! (Gesang zur Kommunion)

Helmut von Loebell (1937-2020)
Mann der Tat im Spannungsfeld zur geistigen Welt:
Auszüge aus seinem Buch
Der Stehaufmann (2016),
ausgewählt von Hans Businger

 Kindheit

«Eines Tages stand meine Mutter wieder vor der Tür. Die Koffer wurden gepackt und los ging’s, zur nächsten Station! So wurde ich wie ein ungeliebtes Möbelstück von einer Familie zur anderen gereicht. Spätestens nach dem dritten Mal hinterließ das Spuren ‒ man empfand mich als renitent, frech und zappelig. Obwohl die Menschen dafür Geld bekamen (dass man für mich Geld bekam, machte mich stolz!), wollten sie mich so bald wie möglich wieder loswerden. Regelmäßig wurde meine Mutter gebeten, mich wieder abzuholen. Dann durfte ich zu Hause bleiben, bis sie wieder eine ‹Verwahranstalt› für mich gefunden hatte. An diese Zwischenzeiten kann ich mich nicht mehr erinnern, insgesamt brachte ich es in den ersten acht Lebensjahren aber auf sechs solcher Unterkünfte, an denen man mich selten länger als ein halbes Jahr ertrug.» (‹Heute hier, morgen dort …›, 26f.)

«In meinem Leben habe ich selten Geborgenheit erlebt, die ja mehr ist als nur die Sicherheit äußerer Rahmenbedingungen. Als Kind wurde ich, weil ich mich seelisch nicht geborgen fühlte, immer wieder krank oder überspielte diese Leere, auch noch als Jugendlicher durch Ungezogenheit.

Erst in den letzten Jahren kann ich gelten lassen, dass es in meinem Leben so etwas wie seelischen Schmerz gibt ‒ lange Zeit existierte nur körperlicher Schmerz, den seelischen habe ich verdrängt, und jetzt, im Alter, macht er sich deutlich bemerkbar.

Heute kenne ich aber das Gefühl der Geborgenheit, wenn ich mich im Kreise meiner Familie oder als Teil eines großen Organismus wie der Rudolf-Steiner-Schule oder des CES-Waldorf-Projektes erleben darf.» (‹Und jetzt?›, 195)

«Wenn ich auf meine drei Berufswünsche als Jugendlicher blicke, wollte ich zuerst einmal Dirigent werden. Ich liebe Musik ‒ nicht in erster Linie Mozart, sondern vor allem Wagner (Isoldes Liebestod!) und Richard Strauss (den ‹Rosenkavalier›!), habe sie oft und oft gehört und im Geiste ‹dirigiert›. Daneben wollte ich auch Anwalt oder Pfarrer werden, das Letztere habe ich realisiert, indem ich schon mit dreißig Jahren in Bogotá als Kirchenvorsteher gepredigt habe. Eigentlich habe ich aber wirklich jeden dieser drei Bereiche gelebt: Ich war eine Art Anwalt, der versucht, ausgleichend Gerechtigkeit zu schaffen, ein Dirigent, der viele Einsätze sozialer Art organisiert und koordiniert hat, und auch ein Pfarrer, der das verkündet, wovon er in seiner Seele zutiefst überzeugt ist, und der andere damit ebenfalls überzeugen will.» (‹Und jetzt?›, 191)

Beziehung zur geistigen Welt

Mit dem ‹höheren Ich› drückt Helmut von Loebell in anthroposophischer Sprache aus, was Bruder David das Selbst nennt.

«Waldorfpädagogik bedarf immer wieder der Vertiefung durch spirituelle Grundlagen, sonst droht die Gefahr, oberflächlich zu werden.» (‹Die Bedeutung einer spirituellen Pädagogik›, 133)

«Im Motto der Waldorfpädagogik ‹Werde, der du bist, oder werde, der du dir vorgeburtlich vornahmst, sein zu wollen› erkenne ich ein großes Potenzial für die Schule, zu einer wirklichen Lebensschule zu werden, sofern Lehrer, Eltern und Schüler bereit sind, immer neue Impulse aus dem Geistigen heraus aufzugreifen.» (‹Die Bedeutung einer spirituellen Pädagogik›, 133f.)

«Ich schätze die Spiritualität der Anthroposophie. Sie ist offen für eine nicht sinnliche Wirklichkeit zwischen Himmel und Erde, besonders für den Christusimpuls, der menschheitlich wirkend unsere Zukunft bedeutet. Er lebt in dem weltethischen Grundimpuls der Nächstenliebe, der mich anspricht. Dieser ist für mich die Basis der anthroposophischen Geisteswissenschaft.

Bei der Lektüre von Steiners Schriften begann ich zu staunen, wie anders man die Welt und den Menschen sehen konnte, als ich es gewohnt war. Bis dahin war ich philosophischen Inhalten gegenüber wenig aufgeschlossen gewesen. Was die Religion betraf, war ich zwar evangelisch getauft und seit 1963 Mitglied im evangelischen Johanniterorden, davon aber damals im Inneren nicht wesentlich geprägt. Die anthroposophischen Inhalte jedoch zogen mich sofort in ihren Bann: Darüber wollte ich mehr erfahren, das wollte ich mir aneignen. Bis heute ist es aber wahrscheinlich doch so, dass ich den wirklichen Zugang zur Anthroposophie über das Tun in der Welt gefunden habe und finde.» (‹Frischer Wind in den 80er Jahren ‒ Waldorfkindergarten und Waldorfschule Salzburg›, 123)

«Tatsächlich erfahre ich an jedem Tag, den ich bei CES Waldorf verbringe, eine weit über das normale Maß hinausgehende Motivation unserer Mitarbeiter. Sie beruht größtenteils auf der Tatsache, dass hier etwas Geistiges existiert, das über uns allen steht und woraus wir Kraft schöpfen können. Es ist wie eine Art Schutz, die es ermöglicht, dass das Projekt an diesem Ort weiterexistiert und noch nicht von kriminellen Kräften angegangen wurde. Denn wir leben ja mitten in einem von Gewalt, Tod und Verzweiflung geprägten Umfeld. Ohne die Mitwirkung dieser Geistigkeit könnte CES Waldorf nicht bestehen, davon bin ich absolut überzeugt. Dieser geistige Schutzmantel ist vielleicht nicht unbedingt sichtbar, aber er lässt sich erspüren. Jeder Besucher, der das ‹bunte Haus› betritt, spürt es sofort: Eine von Liebe und Aufmerksamkeit getragene menschliche Wärme strömt jedem entgegen, der dafür offen ist.

So möchte ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von CES Waldorf auch nicht vorrangig als Lehrer (sprich: ‹profes›) bezeichnen, sondern vielmehr als Menschen, die jeden Tag ihren persönlichen Beitrag dazu leisten, gemeinsam einen hohen sozialen Impuls zu entwickeln, ein soziales Gesamtkunstwerk zu erschaffen. Dies erfordert eine besondere Wachheit und Präsenz im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen, eine Bewusstseinskraft, die immer wieder neu geschult werden muss und dadurch wachsen kann. Sie hält ständig offen dafür, dass auch eine übersinnliche Wirklichkeit hereinleuchten kann. Durch dieses höhere Bewusstsein fühlen sich die Menschen begleitet und beschützt. Und das verleiht ihnen die Fähigkeit, die erlebte Würde des eigenen Menschseins an die Kinder und deren Eltern weiterzugeben.» (‹Ein Traumatisierter hilft Traumatisierten›, 175f.)

Unsere Botschaft

«Diesen Menschen, die für sich keinen Platz in der Welt sehen, versuchen wir Impulse zu geben, indem wir im liebevollen Umgang miteinander Aggressionen abbauen und den Willen schulen. Das bedeutet unendlich viel tägliche soziale Arbeit, bei der auch der Aspekt des Schenkens eine gewisse Rolle spielt.

Mir ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür anzuregen, wie wichtig es ist, sich gegenseitig zu beschenken. Soziale Arbeit kann nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn sie aus diesem Bewusstsein heraus praktiziert wird. Schenken hat ja nicht nur mit Geldmitteln zu tun, sondern viel mehr mit Anteilnahme, mit einem Hindenken, Hinfühlen auf einem auf den Nächsten ausgerichteten Handeln. Genau das ist es, was Rudolf Steiner in seiner allgemeinen Menschkunde vertritt. Eine Pädagogik, die im Menschen nicht nur den äußeren Körper sieht, sondern die ihn als geistig-seelisches Wesen begreift und die damit einhergehende Entwicklungsfähigkeit jedes einzelnen dieser uns anvertrauten jungen Menschen wahrnimmt und fördert.

Ganz konkret äußert sich das in unserem Bemühen, das Selbstgefühl dieser oftmals seelisch gebrochenen Kinder und Jugendlichen wiederherzustellen und ihnen die Einsicht zu vermitteln: ‹Ich bin jemand! Ich lerne etwas, das sinnvoll ist, und ich kann etwas erreichen: Darum bin ich da.›

Und meine Botschaft an diese jungen Menschen lautet stets: ‹Wenn ihr wollt, dann könnt ihr in euerem Leben etwas erreichen. Widerstände sind dazu da, um überwunden zu werden. Widrige Voraussetzungen ‒ na und?›» (‹Unsere Botschaft›, 178f.)

Motivation

«Die jungen Menschen haben einen biographischen Aspekt in mir angerührt und ich in ihnen ‒ eine Art schicksalshafte Verknüpfung in beide Richtungen. Man könnte es auf die Formel bringen: Das ehemals traumatisierte Kind hilft anderen traumatisierten Kindern.

Diese meine ureigenste Motivation ist mir erst vor ein paar Jahren bewusst geworden. Mir war und ist es ein Anliegen, dass das, was ich in Berlin während der Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt habe, diese Kinder und Jugendlichen heute nicht mehr erleben müssen. Das ging nur, indem ich die Ärmel hochkrempelte und zur Tat schritt.» (‹Ein Traumatisierter hilft Traumatisierten›, 174)

«Wir waren getrieben von der Erkenntnis, dass jedes Kind, jeder Jugendliche ebenso wie jeder Erwachsene ein individuelles Wesen ist und als solches ein Recht hat auf ein würdiges Leben. Darum bestand unser Ansatz von Anfang an darin, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass möglichst viele junge Menschen in unserem Stadtteil ihr Leben nach ihren eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten gestalten können. Dazu gehören so selbstverständliche Werte wie Verständnis für den anderen, Liebe, menschliche Wärme und Nähe. Es geht uns weniger um die Vermittlung von Wissen als vielmehr darum, eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung anzuregen, um sozusagen so weit wie möglich auch Gestalter der eigenen Biographie werden zu können.» (‹Ein Traumatisierter hilft Traumatisierten›, 175)

«Ich wollte eine Kultur der gegenseitigen Wertschätzung etablieren und die Menschen auf ihre Kräfte zur Gestaltung der Zukunft hinweisen. Meine drei Ds kamen in meinen Reden immer wieder vor: Disziplin, Dankbarkeit und Demut. Demut gegenüber dem Höheren, Dankbarkeit im Miteinander, Disziplin im Umgang mit sich selbst.

Demut ist eine Art Gehorsam gegenüber dem Geistigen im Sinne des ‹Dein Wille geschehe› des Vaterunsers ‒ Vertrauen, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit gegenüber einem höheren Willen. Als Organisator eines Projekts wie CES Waldorf, auf das ich später noch eingehen werde, fühlte ich mich nicht als zentrale Figur, sondern als demütiger Vermittler zwischen ‹Oben und Unten›.

Dankbarkeit ist im täglichen Miteinander eine zentrale Tugend, die man leider leicht vergisst: Den Menschen gegenüber, mit denen man arbeitet, aber auch gegenüber der Welt, die man als geistige oder Engelwelt bezeichnen kann ‒ ohne deren Hilfe ein Projekt wie CES Waldorf nicht möglich ist.

Um die dritte Tugend im Bunde, die Disziplin im Umgang mit sich selbst, musste ich mich eigentlich nie besonders bemühen ‒ die war mir durch meine preußischen Vorfahren wohl angeboren.» ‹Die Jahre als Obmann der Rudolf-Steiner-Schule Salzburg›, 130f.)

«Sehr eindrücklich wird diese Kombination von Armut und Gewalt vom neunjährigen Carlos beschrieben, dessen Geschichte hier exemplarisch für die vieler anderer Kinder steht:

‹… Aus der Schule komme ich raus … einfach kaputt, laufe nach Hause, als mich die Polizei und ein Rettungsauto mit Sirene überholen und mir einen kalten Schauder einjagen ‒ bei unserer Bretterbude angekommen, sehe ich meinen Onkel tot auf der Erde liegen, mit allerlei Box- und Schnittwunden, und sehe auch meinen Vater, wie er mit blutgetränkten Händen in der Luft rumfuchtelt … kurz danach führt ihn die Polizei in Handschellen einfach ab …›

Geschichten wie diese sind mir immer wieder ein Ansporn, mich weiter für diese Kinder und die Einrichtung CES Waldorf einzusetzen, die ihnen Halt und Kraft für ihr Leben gibt.» (‹Carlos, neun Jahre, beschreibt sein Leben›, 161f.)

Meine größte Herzensangelegenheit: CES Waldorf

«Meine größte Herzensangelegenheit bis heute ist CES Waldorf, Centro Educativo y Social Waldorf, in Bogotá, über das im Jahr 2014 das Buch ‹Zukunft für Zukunftslose› in Zusammenarbeit mit Peter Daniell Porsche erschienen ist. Seit der Gründung dieser Einrichtung konnten wir mehr als 1900 Kindern und deren Familien helfen. Täglich betreuen wir mehr als 200 Kinder und deren Angehörige.

Die Gründung dieser Einrichtung verlief aufregend. 1990 hatte eine Gruppe von rund 70 landflüchtigen, obdachlosen Familien ein Gelände entlang der Eisenbahnschienen besetzt, die durch Bogotá führen. Sie lebten in einfachsten, selbstgebauten Slumhütten unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Die Stadt Bogotá drohte nun im Jahr 1997 damit, die Siedlung gewaltsam zu räumen. Das Gebiet war schon von 300 Polizisten einer Antiterror-Einheit umzingelt, die Bulldozer standen bereit, da gelang es uns gerade noch rechtzeitig, eine Verschiebung der Räumung um eine paar Monate zu erwirken ‒ unter diesen Umständen ein kleines Wunder. Wir nutzten die uns verbliebene Frist, um eine gewaltlose Umsiedlung der Bewohner nach Sierra Morena, im Süden von Bogotá zu bewerkstelligen, und erwirkten für die Familien das Recht auf Wohnraum. Damit war uns die erste und bisher wohl einzige gewaltfreie Umsiedlung in diesem Land gelungen!» ‹Meine größte Herzensangelegenheit: CES Waldorf›, 156f.)

«Überall herrscht Angst. Besonders junge Frauen sind gefährdet ‒ sie versuchen nicht aufzufallen und verlassen ungern ihre Behausung. Es ist die Angst, entführt, bedroht und geschlagen zu werden, keine Arbeit zu finden, die Kinder nicht ernähren zu können; Angst, den Blick zu heben, und Angst, zu verlangen, was einem von Rechts wegen zusteht; Angst, vom eigenen Ehemann verprügelt zu werden oder den eigenen Namen zu sagen, denn er könnte von falscher Seite gehört werden; Angst, wegen fehlender Schulbildung nicht richtig sprechen zu können etc. Die Stimmung der Menschen in Sierra Morena pendelt ständig zwischen Furcht und Resignation. Kaum jemand glaubt, sein Schicksal selbst an die Hand zu nehmen.

Das Slumgebiert um CES Waldorf ist ein Auffangbecken für eines der größten Probleme Kolumbiens: die Landflucht im Zuge des Bürgerkrieges, der ständigen Kämpfe zwischen illegalen bewaffneten Gruppen und staatlichen Sicherheitskräften. Es ist nicht so sehr die Armut, die die Menschen quält, als die Kombination aus Armut und Gewalt, die das Leben aussichtslos erscheinen lässt.» (‹Meine größte Herzensangelegenheit: CES Waldorf›, 159f.)

Andreas Salcher im Gespräch mit Bruder David (2021)
Übersicht über die Themen des Gesprächs
zusammengestellt von Hans Businger

(02:17) Nach einleitenden Worten von Andreas Salcher[1] hören wir von Bruder David, dass die 80er Jahre die glücklichste Zeit in seinem Leben waren und er allen, die auch in dieses Alter kommen, Mut machen will für dieses Jahrzehnt. In den 90er Jahren spürt er das Altern Tag für Tag:

(03:56) Ich kann jedem Menschen nur empfehlen, sich an dem zu freuen, was es noch gibt und das ist immer noch sehr viel, wofür man dankbar sein kann. Und ich denke halt nicht an alt werden ‒ das ist für mich nicht ein angenehmer Begriff, ich denke an den Heimweg. Dieses Bild gefällt mir und spricht mich an: «Jede Traurigkeit des Menschen ist eigentlich Heimweh nach dem Himmel» (Lon Bloy); und was man sich dabei vorstellen kann ‒ man stellt sich besser nichts vor, weil wir eben nichts wissen ‒, aber die Idee von heimgehen ‒ man hört ja immer wieder dieses Wort ‹heimgegangen› ‒, ‹heimgehen›: was immer das bedeutet für einen, das gefällt mir. Das fühlt sich auch richtig an und positiv.

(05:24) Andreas Salcher fragt Bruder David, welche Aufgabe er in Argentinien wahrgenommen hat, und Bruder David teilt mit, wie seine Gastgeber Lizzie und  Alberto Rizzo mit www.viviragradecidos.org die spanische Dankbar-leben-Webseite aufbauten mit der Intention, das Bewusstsein in der Gesellschaft zu verändern.

Die Gesellschaft in Argentinien ist total korrupt, das geben sie selber zu, und das einzige Mittel gegen Korruption ist das Bewusstsein der Menschenwürde. Wer das Bewusstsein der eigenen Würde hat, sagt: «Auch wenn es alle anderen machen, ich mache nicht mit.» Das brauchen wir.

Und das Bewusstsein der eigenen Würde wächst in einem Kind heran, wenn es bedingungslos angenommen ist in seiner Einzigartigkeit.

(08:49) Lizzie und Alberto Rizzo entwickelten im Anschluss an die Webseite das Ausbildungsprojekt Programa Presencia mit dem Ziel, die Lehrer glücklich zu machen, denn glückliche Lehrer werden glückliche Eltern und Kinder heranziehen. Hunderttausende von Studenten sind bereits ausgebildet von zehntausenden von Lehrern, die diese Ausbildung gemacht haben; das Projekt wächst in diesem riesigen Land weiter. Bruder David begleitet die Verantwortlichen täglich.[2]

(11:04) Andreas Salcher: Wie bringt man die Themen Herzensbildung[3], Achtsamkeit, Dankbarkeit[4] in ein Schulsystem hinein?

Bruder David: Mit gegenseitiger Dankbarkeit der Schüler und gegenseitigem Respekt aller gegenüber allen, wie es in Schule im Aufbruch in Deutschland bereits praktiziert wird; eine gründliche Ausbildung der Lehrer gehört dazu.

(12:57) Immer wieder innehalten, immer wieder schauen: was verlangt das Leben jetzt von mir? Was für eine Gelegenheit gibt mir jetzt das Leben? Und dann: tu’s! David ist tief berührt, wenn er auf Skype eine indigene Lehrerin trifft, die in einem ganz kleinen Winkel in den Anden mit Kindern den Dreischritt Stop ‒ Look ‒ Go übt.[5]

(13:51) Andreas Salcher stellt sein Projekt vor: Aufbruch zu einer LERNENDEN NATION für Österreich auf der Basis der 21st Century Skills, erweitert zu LERNENDE GEMEINDE.

(17:30) Bruder David: Was mir sehr gut gefällt an der Idee ist die Einschließlichkeit. Lernende Gemeinde sind wir alle, alle sind eingeladen. Ein Beispiel ist Findhorn, ein Kloster idealerweise.

(21:03) Es gilt in Analogie zu Klöstern das Ziel klar vor Augen haben, dass Strukturen und Vorgaben dem Freiraum dienen und nicht Selbstzweck sind.

(22:52) Lernen ist ein Wiedererinnern (Plato): Lernen bedeutet, aus sich heraus die eigenen Einsichten entfalten. Ein Lernen, das eintrichtert, ist kein Lernen. Lernen ist Selbstentfaltung, mit großer Betonung darauf, dass die einzelnen Talente und Schwächen, die auch zum Lernen dazugehören, sehr fruchtbar werden können. Um wirklich zu lernen, muss man einen Lehrer haben, der die Stärken und Schwächen eines Schülers kennt und ihnen gestattet, sich von innen her zu entfalten. Das kann natürlich nur in einem verhältnismäßig intimen Rahmen geschehen

(25:35) Andreas Salcher spricht von der Würde, die jeder Lehrende jedem Lernenden zuerst zusprechen muss, der Resonanzbeziehung (Hartmut Rose) zwischen ihnen und der Ignoranz der einfachen Wirklichkeit der Körper der Schüler: Ein ganz wichtiges Anliegen von Andreas Salcher ist, den Körper der Schüler einzubeziehen und nicht nur den Kopf. Bruder David erinnert sich an die lauten Schreie, wenn der Schulwart jeweils das Tor öffnete und an ein ganz anderes Erlebnis in Australien, an das gemeinsame Singen, und er erwähnt die Montessori Schulen und später auch die Waldorf Schulen.

(33:17) Die persönliche Beziehung zur Lehrperson ist grundlegend für das Lernen von Schülern. Das Gespräch geht auf die Hindernisse ein, dieses Ideal im Schulalltag zu verwirklichen.

(37:41) Wir hören, wie Bruder David seine Schulzeit erlebte und später mit Freude seinen Begabungen und Interessen ‒ seiner Berufung ‒ folgte.

(42:02) Bruder David: Da war ich selbständig, war auch von Haus aus dazu angeregt, selbständig zu sein ‒ auch das ist ein großes Geschenk ‒, und es ist uns geschenkt worden: meine Brüder und ich sind zu Hause bedingungslos geliebt worden, und es war uns erlaubt, unsere Eigenständigkeit zu entfalten. Wir durften ganz verschieden sein. Die Direktorin der Neulandschule hat einmal zu meiner Mutter gesagt, sie hätte noch nie drei Kinder von derselbe Familie gesehen, die so verschieden waren wie wir.

Bruder David erzählt, wie er die Treppen hoch in die Albertina ging und in die Nationalbibliothek. Er hat dort den Hohelied-Kommentar von Bernhard von Clairvaux (1090-1153) ausgeliehen, auf den ihn Pater Walter Schücker (1913-1977), ein Zisterzienser aus der Abtei Heiligenkreuz im Wienerwald aufmerksam gemacht hat, mit dem bedeutungsvollen Satz:

«Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise.»[6]

Weisheit ist, wenn man das Leben nicht in den Griff bekommen will, sondern sich dem Leben stellt und mitspielt im Leben. Das kann jeder tun: jeden Augenblick einfach die Gewohnheit pflegen, hinzuhorchen: was will jetzt das Leben von mir? Und meistens ist es einfach, dass wir uns freuen. Wenn man sich zu Tisch setzt ‒ im Tischgebet sich erinnern, jetzt innezuhalten und bewusst zu tun, was das Leben von mir will: es will, dass ich mich an der Suppe freue.

(45:15) Andreas Salcher spricht von Menschen, die dieses Erfahrungslernen nicht kennen, die in ihrer Komfortzone gefangen sind und sich nicht auf Neues einlassen.

Bruder David: Wir brauchen Anregung, Kostproben ‒ Pater Walter hat uns zuerst Kostproben gegeben aus dem Kommentar zum Hohelied ‒, Ermutigung. Mich begeistert bis heute, wieviel in Büchern und im Internet zu finden ist zu Themen, die mich interessieren. Begeisterung bringt uns über unsere Komfortzone hinaus.

(47:34) Andreas Salcher: Ein Fünftel der Menschen können auch am Ende der Schule nicht sinnerfassend lesen oder sie können einfachste mathematische Operationen nicht durchführen.

Bruder David: Diese Schüler haben vielleicht ganz große Begabungen auf ganz anderen Gebieten.

Andreas Salcher macht sich große Sorgen, was man für Menschen tun kann, die dann keinen Job, keine Erfüllung, kein selbstbestimmtes Leben führen können.

(48:58) Bruder David teilt seine Sorgen: Man kann davon ausgehen, dass die meisten Elternhäuser nicht günstig sind für die Entwicklung der Schüler. Um so wichtiger ist es, dass die Lehrer das dann nachholen.

Und wenn jemand schon über die Schule hinaus ist, dann ist die schwierige Frage: Wo bekommt man noch dieses Selbstbewusstsein und dieses Bewusstsein der eigenen Würde?[7]

Wahrscheinlich ist es nur möglich, wenn ein Freund oder eine Freundin dieses Bewusstsein in dir weckt und dieses Zugehörigkeitsgefühl schenkt und zugleich die Freiheit, du selber zu sein, aber letztlich ist es das Leben, das uns dieses Bewusstsein immer wieder schenkt. Wir gehören zum Leben dazu, ob wir wollen oder nicht. Und uns bewusst zu machen, dass das Leben Ja zu uns sagt, obwohl wir ganz verschieden sind von allen andern.

(50:50) Andreas Salcher nennt ein weiteres Thema: Der Einfluss der Politik und die Trägheit der Schulsysteme; es gelingt bis heute nicht, die gültigen pädagogischen Erkenntnisse im Alltag umzusetzen. Bruder David ist mit ihm einig, dass Parteipolitik in der Führung von Schulen keinen Platz haben darf.

(56:34) Bruder David: Was ich gerne von Kindern immer wieder lernen möchte: einfach da zu sein, einfach gegenwärtig zu sein, einfach zu leben. Das können die Kinder. «Werdet wie die Kinder» verstehe ich auch so. Auch Lebensvertrauen können wir von den Kindern lernen ‒ ohne dass sie das Wort je gebrauchen würden.

Was ich den Kindern gerne weitergebe, und wofür sie auch sehr empfänglich sind, ist dieser Dreischritt Stop ‒ Look ‒ Go, ursprünglich der Merksatz für Kinder, die die Straße überqueren. Diesen Merksatz kann man auf alles anwenden: Innehalten, wenn man an Blumen, Bäumen und den Käfern vorbeigeht ‒, stehen bleiben und sich Zeit nehmen, diesen Käfer anzuschauen, dieses Blatt ‒, und sich daran freuen: das Go ist ja meistens die Freude dran.

Bruder David wünscht Andreas Salcher und seinen Mitarbeitern alles Gute für die anstehende Etappe, die Ziele ihres Projektes in die Praxis umzusetzen.

__________________

[1] Andreas Salcher: Die grosse Erschöpfung und die Quellen der Kraft (2022): «Meine persönliche Beziehung zu Bruder David», siehe Kapitel 11 + 12, 15:

«Im November 2021 durfte ich Bruder David wieder im Kloster Gut Aich treffen, um mir seinen Rat für mein Projekt ‹Österreichs Aufbruch zu einer lernenden Nation› zu holen. Er war mittlerweile 95 Jahre alt geworden, trotzdem geistig hellwach und rüstig genug, um mich und meinen Begleiter, den Kulturmanager Guido Reimitz, an der Klosterpforte zu empfangen. Gleich am Anfang erzählte er uns, dass die Achtziger die besten Jahre in seinem Leben waren. Seit den Neunzigern spüre er das Alter dann doch sehr, er versuche aber trotzdem noch, neugierig und dankbar zu sein. Ich weiß nicht, wie Bruder David es macht, aber nach unseren persönlichen Begegnungen empfinde ich einfach immer den Wunsch, ein etwas besserer Mensch zu werden.»

[2] Ebd. 15: «Während der Pandemie unterstützte er das Bildungsprojekt Presencia in Argentinien. Dessen Ziel bestand darin, glückliche Lehrer für das Schulsystem zu schaffen, weil glückliche Lehrerinnen und Lehrer in der Folge glückliche Kinder und Eltern bedeuten. Dieses Konzept hat so gut gegriffen, dass mittlerweile bereits Zehntausende argentinische Lehrpersonen entsprechend ausgebildet wurden und diese Geisteshaltung an ihren Schulen etablieren.»

[3] Ebd. 10: «Das Gegenteil von Dankbarkeit ist, alles als selbstverständlich zu betrachten»:

«Für den Theologen und Psychotherapeuten Arnold Mettnitzer verbindet ein einzigartiges anatomisches Phänomen den Kehlkopf, der unsere Stimme ertönen lässt, mit unserem Herz. Gewöhnlich nehmen alle vom Gehirn ausgehenden, sogenannten ‹effektiven› Nervenbahnen den kürzesten Weg hin zu jenen Muskelregionen, die eine bestimmte Bewegung ausführen sollen. Bei jenen Nerven jedoch, die die Bewegungen der Kehlkopfmuskulatur und damit den Klang der Stimme formen, gibt es einen Strang, der sonderbarerweise zunächst bis zum Herz verläuft und dann erst weiter zum Kehlkopf. Mettnitzer erkennt darin eine fantastische Chiffre der Natur: ohne Herz keine Stimme, kein Klang. In jedem durch den ausströmenden Luftzug erklingenden Ton, in jedem Klang der Stimme schwingt und wirkt unser Herz auf wundersame Weise mit.»

[4] Ebd. 3f.: «Die Weisheit des Benediktinermönchs David Steindl-Rast ‒ wie können wir für den aktuellen Zustand der Welt dankbar sein?»:

«Bruder David schlägt fünf kleine Gesten vor, die er selbst erprobt hat. Sie sind klein, aber gerade deshalb wirkungsvoll und sie können einen Welleneffekt auslösen, um der Gewalt entgegenzuwirken.

Alle Dankbarkeit drückt Vertrauen aus. Misstrauen wird ein Geschenk nicht einmal als Geschenk erkennen. Wer kann beweisen, dass es nicht ein Köder, eine Bestechung oder Falle ist? Dankbarkeit hat den Mut, zu vertrauen, und damit wird die Angst überwunden. Die ganze Luft wurde dieser Tage durch Ängstlichkeit aufgeladen, eine durch Politiker und Medien geförderte Ängstlichkeit. Hier liegt unsere größte Gefahr: Angst erhält Gewalt aufrecht. Biete allen Mut deines Herzens auf: Sag heute einem ängstlichen Menschen ein Wort, das ihm Mut gibt.»

[5] Ebd. 10f.: «Mit dem Dreischritt ‹Stop. Look. Go› unsere Sinne schärfen»:

«Innehalten, dann schauen, welche Gelegenheiten das Leben anbietet, und es dann wirklich tun, schlägt Bruder David vor. Es ist so leicht, sich unverzüglich mitten in irgendwas hineinzustürzen, das man sich vorgenommen hat, ohne bewusst damit zu beginnen. Jeder bewusste Anfang beginnt mit einem Innehalten, auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde ist. Tun wir das nicht, werden wir einfach mitgerissen. Statt achtlos und eilig an Blumen oder Bäumen vorbeizugehen, sollten wir stehen bleiben, uns Zeit nehmen und uns daran erfreuen.

Der zweite Schritt ist das Hinschauen. Wenn wir nicht hinschauen, dann nützt uns auch das Anhalten nichts. Es heißt, der Narr macht immer wieder denselben Fehler, ein Weiser hingegen jedes Mal einen neuen. Wir können Fehler nicht gänzlich verhindern, aber wir können diejenigen vermeiden, die wir schon einmal begangen haben. Dummerweise neigen wir dazu, genau das zu übersehen, was wir nicht sehen wollen. Ehrliches Hinschauen kann gelernt werden.

Drittens müssen wir weitergehen. Es hilft uns nichts, anzuhalten, wenn wir nicht hinschauen, und es nützt nichts, hinzuschauen, wenn wir dann nicht auch gehen. Das ‹Go› ist die Freude daran. Und schlussendlich müssen wir handeln.

Dieser Dreischritt aus ‹Stop. Look. Go.› erlaubt uns, vertrauensvoll aufs Leben zuzugehen, mit dem Leben zusammenzuarbeiten, statt uns dagegen aufzulehnen»

[6] «Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise», ist Leit- und zugleich Schlüsselwort, auf das Bruder David immer wieder zurückkommt in seinen Vorträgen und Büchern; siehe Orientierung finden (2021), 42:

«Nur durch Ergriffenheit verstehen wir Musik, und auch das Geheimnis verstehen wir nur in Augenblicken von Ergriffenheit. Beides wird uns geschenkt: Wir müssen uns nur willig ergreifen lassen.

‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise›,

sagt der große mittelalterliche Mystiker Bernhard von Clairvaux (1090-1153). Weisheit ist das Ziel unsrer Bemühungen um Orientierung. Dabei wird es also letztlich um unsre Beziehung zum Geheimnis gehen.»

ERGRIFFENHEIT, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 135:

«Ergriffenheit ist zunächst ein Zustand, den wir fühlen.

Das schließt aber nicht aus, dass sie auch eine höchst wichtige intellektuelle Komponente hat.

Begreifen und ergriffen werden sind einander entgegengesetzte Bewegungen.

Wie Begriffe zum Begreifen führen, so führt Ergriffenheit zum Verstehen.

‹Begriffe machen wissend, Ergriffenheit macht weise›, schreibt Bernhard von Clairvaux (1090-1153) in seinem Kommentar zum Hohen Lied.

Ergriffenheit geht über das Begreifliche hinaus, indem sie auch das Unbegreifliche versteht.

Darin besteht Weisheit.

Ergriffenheit und Begreifen dürfen keinesfalls gegeneinander ausgespielt werden.

Sie ergänzen einander, so wie Emotionen und Intellekt nur gemeinsam unsrer Welterfahrung gerecht werden.

Wo eine anti-intellektuelle Atmosphäre vorherrscht, besteht immer die Gefahr, klares Denken durch sentimentale Schwärmerei ersetzen zu wollen.

Ergriffenheit aber ist, auch wenn sie bis zum Gefühlssturm ansteigen kann, klar und nüchtern.»

[7] WÜRDE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 164f.:

«‹Würde› ist mit dem Wort ‹Wert› wurzelverwandt. Dingen, die nur vereinzelt vorkommen, messen wir Seltenheitswert bei. Wer erkennt, dass jedes Ding, jedes Lebewesen, jedes Ereignis nicht nur selten, sondern einzigartig ist, wird sich der Würde bewusst, die allem, was es gibt, zukommt und wird ehrfürchtig durch das Leben gehen. Auch jedem Menschen steht diese Grundwürde zu. Wer dies erst einmal entdeckt, wird sich seiner eigenen Würde bewusst und weiß, dass sie nicht von der Anerkennung anderer abhängt. Ein solcher Mensch hat Rückgrat, geht aufrecht und weiß, was unter seiner Würde ist.»

«Lebendig bleiben mit Bruder David Steindl-Rast» (2023)
Ein THEATERPROJEKT von Bettina Buchholz und Johannes Neuhauser 
Transkription© von Hans Businger (2024)

(00:45) Bettina Buchholz: «Es kam alles ganz anders als geplant. Ursprünglich wollten wir eine szenische Lesung über die Klimakrise machen mit Videoeinspielungen vom Amazonasbischof Dom Erwin Kräutler und Bruder David Steindl-Rast. Mein Mann hatte sogar schon die ersten Seiten geschrieben und mit Erwin Kräutler und Bruder David Kontakt aufgenommen. Aber dann kam es zu einer Verschlechterung meiner Krebserkrankung und es war ziemlich schnell klar, dass ich mich einer mehrmonatigen Chemotherapie unterziehen musste mit anschließender Stammzellentransplantation. Dies bedeutete natürlich das AUS für unsere Pläne.

Wenn du Krebs hast, dann nimmst du die Welt plötzlich wie durch eine Lupe, einem Vergrößerungsglas wahr: Alles tritt größer, klarer und schärfer hervor. Die sonst glatt erscheinenden Oberflächen wirken auf einmal porös, die Kanten schärfer, die Risse bedrohlicher.

Du kannst diese Lupe natürlich auch anders herumhalten und dann siehst du alles viel, viel kleiner. Du verdrängst die Probleme und konzentrierst dich ausschließlich auf dich selbst, deine Krankheit und deine kleine Welt; schottest dich ab gegen alles Verwirrende, Komplexe und Bedrohliche. Meist ist es dann auch natürlich das Einfallstor in die Welt der Esoterik mit ihren Vereinfachungen und Versprechungen wie: Heilung, ist jederzeit möglich, ja, Wunder sind jederzeit möglich. Du musst es nur wollen. Lass deine Ängste los, blende alles aus, was dich belastet, die Welt da draußen ist nicht mehr wichtig, schau nur mehr auf dich selbst.

Ich bin jedoch von Natur aus so gestrickt, dass meine innere Lupe leider immer vergrößert und nicht verkleinert. Seit meiner Erkrankung ist diese Tendenz sogar noch stärker geworden. Aus einer einfachen Gedanken-Landstraße kann da schnell mal eine vierspurige Grübel-Autobahn werden.

Was will ich damit sagen? Dass ich unsere Welt jetzt noch komplexer, ambivalenter und noch vielschichtiger wahrnehme? Und dass meine innere Welt gleichzeitig reifer und tiefer wird? Reicher an Empfindungen, an Offenheit und auch an Dankbarkeit?

Aber hey, Moment: Ich will nichts beschönigen. Auch meine inneren Dämonen sind viel, viel stärker geworden. Meine Ängste, meine Unruhe und meine Erschöpfung.

Warum ich als Schauspielerin nicht frei spreche, sondern den Text ablese, den mein Mann für mich aufschrieb, da mir die Kraft dazu fehlte: Weil bei einer intensiven Chemotherapie auch die Merkfähigkeit leidet, dies betrifft vor allem das Kurzzeitgedächtnis. Das kommt zwar langsam wieder, aber das dauert. Das ist für mich als Schauspielerin, die sich früher 80 Seiten Text merken konnte, besonders schwer. Übrigens die Fotos machten mein Mann und ich mit dem Handy. Wir wollten diese Zeit auch bildlich dokumentieren und nicht einfach verdrängen.

Während einer Chemotherapie Pause führten mein Mann und ich ein Zoom-Interview mit Bruder David Steindl-Rast, der sich damals gerade in Frankreich aufhielt. Wir hatten den Interview-Termin schon vor längerer Zeit vereinbart und wollten wegen meiner Behandlung nicht einfach alles absagen. Ich kannte Bruder David ja bereits. Er war bei unserem Stück über die Jüdin Etty Hilesum zu Gast gewesen. Im Anschluss an die Vorstellung gab es eine spannende Podiumsdiskussion mit ihm. Die Tribüne Linz war damals bis zum letzten Platz gefüllt. Und das Publikum war begeistert von Bruder David.

Jetzt ‒ unter der Lupe meiner Erkrankung ‒ nahm ich Bruder Davids Persönlichkeit, seine Ausstrahlung und seine Aussagen noch einmal anders und vor allem tiefer wahr. Ich stellte ihm gleich am Beginn die Frage, ob es in unserer von Krisen geschüttelten Welt überhaupt noch möglich sei, DANKBAR zu leben? Ob dies nicht eine Beschönigung sei angesichts des Ukraine-Kriegs, der Klimakrise und nicht zuletzt auch meiner persönlichen Situation?

Wie Bruder David darauf antwortete, beeindruckte und berührte mich sehr.»

(06:06) Bruder David: «Letztlich hat Dankbarkeit ‒ und zwar nicht die oberflächliche Dankbarkeit, wo man halt danke sagt, wenn einem was nettes zustößt; wenn man glücklich ist, sondern eine Dankbarkeit als Lebenshaltung ‒ eine ganz wichtige Voraussetzung und das ist Lebensvertrauen.

Wenn man nicht auf’s Leben vertraut und auf dieses Herz des Lebens, das große Geheimnis, das manche Gott nennen: wenn wir nicht auf’s Leben vertrauen, dann können wir nicht dankbar sein.

Wenn wir aber auf’s Leben vertrauen, dann können wir jeden Augenblick ‒ ganz gleich, was uns zustößt ‒, dankbar sein. Denn auch wenn uns etwas zustößt, was lebensverneinend ist, gibt es uns eine Gelegenheit, und die Dankbarkeit richtet sich immer auf die Gelegenheit, die uns gegeben wird. Meistens ist es die Gelegenheit, uns zu freuen und dankbar mit dem Geschenk etwas zu tun. Häufig ist es aber auch die Gelegenheit zu protestieren, etwas dagegen zu sagen oder daran zu lernen, am Leid zu lernen, am Schmerz zu lernen, reif zu werden: das sind alles große Aufgaben für die wir dankbar sein können. Und so können wir auch in dieser Lage dankbar sein, was immer der Augenblick für uns bringt. Das heißt Ja sagen und daraus etwas machen.»

(08:17) Bettina Buchholz: «Ich begann langsam zu verstehen, dass sich echte und tiefe Dankbarkeit immer auf die Gelegenheit bezieht und nicht auf das Ereignis. Und dass jede Gelegenheit, also auch schwerste Herausforderungen wie die Klimakrise, der Ukraine Krieg oder meine Erkrankung gleichzeitig auch Möglichkeiten beinhalten, daran zu wachsen oder sich für andere einzusetzen. Eine Grundvoraussetzung ist jedoch, dass wir dem Leben vertrauen.»

Bettinas ältere Tochter Helene (20): «Liebe Mama, ich hab dich gern, ich hab dich lieb, denn du bist einzigartig …»

Bettina Buchhoz: «Ich wurde in der ehemaligen DDR geboren und kam bereits als ganz kleines Kind in eine sogenannte Wochenkrippe, da meine junge Mutter noch studierte. Montag bis Samstag, also sechs Tage die Woche musste ich Tag und Nacht in dieser Krippe bleiben. Meine geliebte Oma erzählte mir einmal, dass die Betreuerinnen oft überfordert waren: ‹Dieses Kind ist so anstrengend und will immer auf den Arm genommen werden: das ist uns zu viel!›

Als ich einmal sehr krank wurde, schob man mein Bettchen in ein kahles krankenhausähnliches Zimmer und schloss die Tür, da die Betreuerinnen mein Schreien und Wimmern nicht mitanhören wollten. Das passierte leider öfter. Krankenhausaufenthalte waren von da an ein Gräuel für mich und jetzt zwang mich der Scheisskrebs dazu.

Um den anstehenden längeren Krankenhausaufenthalt besser überstehen zu können, begann ich bei Harry Merl eine Psychotherapie. Ich kannte Harry ja bereits, da ich seine dramatische Lebensgeschichte hier in der Tribüne-Linz vorstellen durfte. Als jüdisches Kind überlebte er nur ganz knapp die mörderische NS-Zeit. Zuletzt mussten sich er und seine Eltern monatelang in einem kalten Kohlenkeller verstecken. Nach dem Krieg wurde Harry Merl Psychiater und gilt heute als der Pionier der Familientherapie in Österreich. Als ich ihn bat, mich therapeutisch zu begleiten, war er bereits über 80 Jahre alt. Aber er sagte sofort ja. Woche für Woche ging ich nun zu ihm in Psychotherapie und wir arbeiteten ‒ meistens übrigens ohne viel Worte ‒ mit farbigen Kärtchen an meiner Angst, aber auch an meiner Hoffnung, die Harry so schön als ‹den Traum vom gelungenen Selbst› bezeichnete.»

(11:51) Harry Merl: «Der Traum vom gelungenen Selbst ist der Traum jedes Menschen, jemand zu sein, etwas zu können und anerkannt zu sein. Und das Ziel ist immer das gleiche: Jemand zu sein, etwas zu können, geschätzt zu werden und dadurch als Mensch wieder hergestellt zu sein.»

Bettina Buchholz: «Harry Merl hat während seiner jahrzehntelangen Arbeit eine sehr kreative Methode entwickelt, mit deren Hilfe traumatisierte Menschen sich selbst und ihren Körper wieder besser spüren können. Er gab seiner Methode den schlichten Namen ‹das Gesundheitsbild›. Der Klient arbeitet mit farbigen Kärtchen, die er im Raum auflegt, um so seine Blockaden und Traumata zu erkennen und um sie dann Schritt für Schritt auflösen zu können. Erst danach treten die eigenen Stärken klarer hervor und es können wirklich überraschende Lösungsschritte entwickelt werden. Mir persönlich liegt die Arbeit mit den farbigen Kärtchen sehr, da ich als Schauspielerin diese Mischung aus therapeutischem Gespräch einerseits und kreativem Arbeiten andererseits sehr schätze. Ich bin Harry zutiefst dankbar, dass er mir diesen ganzheitlichen Zugang zu meiner Gesundheit ermöglicht hat trotz Krebs und Kindheitstraumata. Meinen ganz eigenen Traum vom gelungenen Selbst

(13:43) Harry Merl: «Und natürlich ist der Traum vom gelungenen Selbst, und das Gesundheitsbild ‒ das hängt ja zusammen ‒, so eine angenehme und elegante Möglichkeit, Menschen dorthin zu führen, in dem sie selber merken, was alles möglich ist. Ich hab’s von den Patienten gelernt, denen ich die Frage gestellt habe: ‹Angenommen Sie sind ganz gesund: wie werden Sie ausschauen›? Und dann ist schlagartig gekommen: ‹Ja da stehe ich gerade da und da schaue ich ganz anders›, und mir geht’s nur dann, wenn Sie das erlebt haben, dass Sie drauf zugehen auf dieses Bild, denn das ist ja ein wichtiger Teil: der Weg dorthin, dass Sie sich sagen: Aha, da geht es mir gut.

Sie haben plötzlich gemerkt: die Gesundheit ist nicht weg, sie ist nur versteckt. Mir gefallen die farbigen Karten, das war der Grund, warum ich auf diese Methode gekommen bin. Die Farben sind schön und vor allem, sie sind aussagekräftiger für den, der es macht, weil jede Farbe natürlich für jemanden, der das Bild macht, sofort Bedeutung hat. Das geht schlagartig. Ich muss das gar nicht wissen, was das für eine Bedeutung hat, die Menschen haben sofort ihre Bedeutung. Und so stellen sie mit Farben halt ihre Situationen da: das Schwarze für Unglück, das Rote für Trauer oder für Aufregung und das Gelbe ist immer etwas Luft: Freiheit, Erleichterung. Das sind so die typischen Zeichen, die sich so ergeben. Ich bin immer vorwärtsorientiert.»

(16:02) Bettinas jüngere Tochter Hannah (14): «Mein Name ist Hannah. Natürlich beschäftigt mich der blöde Krebs von Mama. Bevor die Stammzellentransplantation durchgeführt wurde, durfte ich Mama nur noch im Garten des Krankenhauses besuchen. Und auch dort mussten wir 2 Meter Abstand halten. Das war komisch. Danach sandte ich ihr kleine selbstgebastelte Karten ins Krankenhaus wie diese hier: ‹Liebe Mama, danke, dass du immer für mich da bist. Aber jetzt musst du dich um dich selbst kümmern. Sei stark. Doch wenn du mal Hilfe benötigen solltest, sind wir deine stützende Pinguin-Flosse. Wir kuscheln mit dir, wenn dir kalt ist und wir füttern dich im Notfall wie es eine Pinguin-Kolonie auch tun würde. Alles Liebe ‒ deine Hannah.›

Aber mich beschäftigt nicht nur Mamas Krebs, sondern auch der Ukraine Krieg. Gleichzeitig mit Mamas Chemo begann dieser schreckliche Krieg. Mama musste zwei Mal pro Woche ins Krankenhaus. Und zur selben Zeit sah ich im Fernsehen die Bilder von Raketenangriffen auf Wohnblocks in Kiew. Besonders schlimm fand ich die überfüllten Züge mit den flüchtenden Frauen und ihren Kindern. Mich interessiert es nämlich sehr, was in der Welt geschieht. Früher schaute ich täglich auf KIKA die Nachrichtensendung ‹Logo› und ich lese den Kinderspiegel. Und den von der ersten bis zur letzten Seite. Ich wollte jedoch nicht nur darüber lesen, sondern ich wollte vor allem auch helfen. Einmal durfte ich mit Monika ‒ Monika ist Pfarrassistentin in der Kirche am Froschberg ‒, ins Aufnahmequartier am Linzer Bahnhof. Ich spielte bis zum Abend mit den Flüchtlingskindern. Wir sprachen miteinander ein paar Brocken deutsch. Das meiste lief jedoch über Zeichensprache. Es macht mir große Freude mit ihnen zu spielen.

Ein anderes Mal hatten ich und meine Freundin Amira die Idee, Kuchen zu backen und diesen vor dem neuen Dom zu verkaufen. Obwohl es in Strömen regnete, hatten wir am Ende 142 € eingenommen. Ein amerikanischer Tourist spendete uns sogar einen 5 Dollar Schein. Am Abend war ich so durchnässt und mir war so kalt, dass ich richtig krank wurde und die nächsten zwei Tage mit einer Erkältung und Fieber im Bett lag. Das gesammelte Geld überwiesen wir an eine christliche Hilfsorganisation in Kiew.

Ich weiß, dass Bruder Steindl-Rast gegen den Krieg ist. Ich kenne ihn ja von früher. Als ich klein war, durfte ich dabei sein, wenn er Bücher signierte. Jetzt, einige Jahre später, interessierte mich, was Bruder David denn zu diesem schrecklichen Krieg in der Ukraine sagen würde. Und wie man vielleicht mithelfen könnte, den Krieg zu beenden, damit endlich wieder Frieden ist und es uns allen besser geht.»

(19:25) Bruder David: «Und mir scheint, dass in diesem schrecklichen, entsetzlichen Krieg etwas ganz Wichtiges ist, wozu wir immer wieder Gelegenheit haben, wenn das Gespräch darauf kommt, und das ist: der Polarisierung entgegenzuwirken. Also versöhnlich zu sein. Und daraus ergibt sich dann auch schon wieder, was wir tun können, nämlich: jeder versöhnliche Akt im täglichen Leben, der überhaupt nichts zu tun haben scheint mit dem Krieg oder sonst irgendetwas, jeder persönliche Akt ist ein Beitrag zum Frieden in der Welt. Und darum kann man zum Beispiel auch ganz ausdrücklich diese Situation zum Anlass nehmen, sich zu fragen, wo sind da noch in meinem Leben Schwierigkeiten, die nicht gelöst wurden: die in Angriff nehmen, die schon bald vergessen sind. Das will ich jetzt in Angriff nehmen und ich schreibe diesen Brief, der schon seit Jahren vielleicht hätte geschrieben werden sollen. Oder ich mache diesen Telefonanruf, ich setze mich in Verbindung. Das alles ist Beitrag zum Frieden auf Erden. Friede den Menschen auf Erden: das ist die große Botschaft der Engel zu Weihnachten und das ist ja nicht ein Versprechen, sondern es ist ein Auftrag zugleich für alle, die es hören.»

(21:43) Bettina Buchholz: «Dieses Plakat hängt bei uns zu Hause, auf dem Bruder David, Thich Nhat Hanh und der Zenmeister Richard Baker Roshi zu sehen sind. Die drei hatten sich damals einer großen Anti-Atomwaffen-Demo in New York angeschlossen. Sie engagierten sich leidenschaftlich für eine friedliche Welt ohne Atomwaffen.

Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine schien es undenkbar, dass Präsident Putin mit einem Atomschlag drohen könnte. Aber in den vergangenen Monaten ist dies leider alles in den Bereich des Möglichen gerückt. Es fühlt sich schrecklich an, wenn du durch die Chemo geschwächt, aber trotzdem schlaflos im Bett liegst und in den Nachrichten von der atomaren Bedrohung hörst. Du denkst: Wenn das Schlimmste eintreten würde, wie könntest du deine Kinder und dich wenigstens ein bisschen schützen? Wenn ein dritter Weltkrieg kommen würde, gäbe es dann noch eine Chance deine Familie in Sicherheit zu bringen? Wenn der eiserne Vorhang wie damals vor dem Fall der Mauer wieder bis an Österreichs Grenzen heranreichen würde, wie würdest du dich dann verhalten? Das alles fragte ich jetzt Bruder David.»

(23:07) Bruder David: «Ich habe eine Schwierigkeit mit dieser Frage. Es sind zu viele ‹wenn› darin. Wenn wir im Augenblick leben und nicht spekulieren, was sein könnte, was kommen könnte: Wenn wir anfangen zu spekulieren, wächst uns alles über den Kopf. Wenn wir aber im Augenblick leben, dann ist, was uns gegeben wird, immer zur Hand, wir können immer damit umgehen, wir können immer daraus etwas machen. Aber aus unsern Vorstellungen, was geschehen könnte, können wir nichts machen.

Drum würde ich sagen: Wenn solche Fragen auftauchen, ist es wohl am besten, zu sagen, das sind halt Möglichkeiten, das zeigt, wie gefährlich das Leben ist, das zeigt, wie groß die Aufgabe ist, vor der wir stehen, aber ich möchte mich nicht ablenken lassen, ich möchte hier und jetzt mit den Menschen, mit denen ich jetzt zusammenlebe, denen gegenüber friedlich sein, besonders friedlich sein in dieser Hinsicht. So würde ich es sehen.»

Bettina Buchholz: «Ja, es geht also darum im Hier und Jetzt möglichst friedlich und verständnisvoll mit den Menschen um einen herum zusammenzuleben. Dass dies natürlich alles andere als leicht ist, haben auch die vergangenen Corona Jahre und die dabei entstandenen Spaltungen und Polarisierungen gezeigt. Es gibt jedoch keine Alternative zum täglichen aufeinander zugehen. Wir müssen jeden Tag unsere Frustrationen, unseren Ärger und unsere Wut überwinden.

(26:16) Ich kam in der KARL-MARX-STADT, dem heutigen Chemnitz, zur Welt und wuchs, wie in der DDR üblich, weitestgehend ohne Religion auf. Meine Mutter war eine glühende Atheistin und mein Vater interessierte sich einfach nicht für Religion. Aber bei meinem Großvater fand ich eine zerschlissene alte Kinderbibel. Besonders die Geschichten aus dem Alten Testament beeindruckten mich sehr. Die Erzählung vom kleinen Hirtenjungen David und dem furchteinflößenden Goliath. Und natürlich auch von Daniel in der Löwengrube.

Ich wusste damals noch nicht, dass mein geliebter Opa, der leider viel zu früh verstarb, ein kleines schwarz eingebundenes Neues Testament besaß und heimlich darin las. Auch die Psalmen befinden sich in diesem unscheinbaren Büchlein. Heute gehört diese kleine Bibel mir. Und ich habe sie ganz bewusst ins Krankenhaus mitgenommen.

Als wir vor einigen Jahren im Musiktheater Linz unser Stück über die Jüdin Etty Hilesum spielten, die in Auschwitz ermordet wurde, begann ich mich mehr und intensiver mit Spiritualität zu beschäftigen. Etty beschrieb in ihrem Tagebuch ihre, auch für sie gänzlich überraschende, Hinwendung zur Spiritualität ‒ und ja ‒ auch zu Gott.[1]

‹In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden. Mein Heilmittel kenne ich jetzt. Ich brauche mich nur in einer Ecke auf dem Boden zu hocken und zusammengekauert in mich hineinhorchen. Mit Denken komme ich da nicht weiter. Denken ist eine schöne und stolze Beschäftigung, aber aus schwierigen Gemütszuständen kann man sich nicht ‹herausdenken›. Dazu muss man anders vorgehen. Man muss sich passiv verhalten und horchen.›

Mir ging es da ähnlich wie Etty. Während meiner unzähligen Kontrolluntersuchungen besuchte ich öfter die Krankenhauskapelle. Ich bemerkte, dass in der Stille dieses Raumes mein Stress nachließ und ich langsam ruhiger wurde. Sogar meine Ängste gingen etwas zurück.

(29:34) Etty fand im Gebet eine Quelle der Ruhe, der inneren Freiheit und der Inspiration. Je öfter ich ‹Etty› spielte, desto tiefer drangen ihre Einsichten in mich ein. So etwas hatte ich vorher noch nie empfunden.

‹Und dann Gott. Ich ‒ Etty, das Mädchen, das nicht knien konnte und es dann doch lernte auf einer rauhen Kokosmatte in einem unordentlichen Badezimmer. Aber diese Dinge sind fast noch intimer als die sexuellen. Ich knie, die Hände vor dem Gesicht und spüre: Die einzige Gewissheit, wie du leben sollst und was du tun musst, kann nur aus dem Brunnen aufsteigen, der aus deiner eigenen Tiefe quillt. Ich werde durch etwas zu Boden gezwungen, das stärker ist als ich selbst. Ich übe mich im Knien. Ich geniere mich noch zu sehr wegen dieser Gebärde, die ebenso intim ist wie die Gebärden der Liebe, über die man auch nicht sprechen kann, wenn man kein Dichter ist.›

Auch ich entdeckte, dass das Niederknien eine besondere Wirkung auf mich hatte, mich beruhigte. Das erinnerte mich sehr an Etty: ‹Ich übe mich im Knien.›

Als ich bei einer der nächsten Untersuchungen die Kapelle aufsuchen wollte, war sie versperrt, da sie gerade renoviert wurde. Ich konnte nur von außen durch die Glastür hineinschauen. Aber mir gefiel der plastikverpackte Christus. Zu meiner Überraschung beruhigte mich auch dieser Anblick, als würde mein eigener Stress und meine Angst auch ein Stück weit eingepackt.

(32:52) Wenn du nach einer so krassen Chemo und der anschließenden Stammzellentransplantation wochenlang auf der Isolierstation liegst, dann kannst du kaum mehr noch etwas essen, ohne dich zu übergeben. Du wirst künstlich ernährt. Deine Schleimhäute und dein ganzer Körper tun so weh, als hätte man dich mit Säure verätzt. In dir ist nur Schmerz, Übelkeit und tiefe Erschöpfung.

In dieser absoluten Ohnmacht begann ich zu beten. Ja, ich versuchte wie Etty zu beten. Natürlich weiß ich, dass das schöne schlichte Wort ‹beten› ziemlich aus der Mode gekommen ist. Ja, dass es sogar seit den unerträglichen Missbrauchsskandalen der Kirche geradezu verpönt ist. Viele Menschen verwenden deshalb heute lieber Bezeichnungen wie meditieren oder in Stille sein. Ich möchte jedoch beim alten schlichten Wort ‹Beten› bleiben. In meinem Schmerz, in meiner Ohnmacht, in meiner Wut und in meiner Verzweiflung versuchte ich zu beten. Oft war es auch ein Beten jenseits der Worte. Ein Stillwerden angesichts meiner Kraftlosigkeit und Erschöpfung. Auch das erinnerte mich an Etty.

‹Wörter wie Gott, Tod, Leiden und Ewigkeit muss man wieder vergessen. Man muss wieder so einfach und wortlos werden wie das wachsende Korn oder der fallende Regen. Ausschließlich nur noch sein.›

In denen sich hinziehenden Nächten auf der Isolierstation erlebte ich das Gebet als etwas sehr Persönliches. Als ein sehr intimes Gespräch mit dem großen Du. Oft fühlte ich mich dann leichter, ruhiger und in manch schwerer Nacht auch ein Stück weit getragen. Aber es kamen auch Zweifel in mir hoch. Und so stellte ich Bruder David die Frage, ob es angesichts des unendlichen Leidens auf dieser Welt überhaupt Sinn macht zu beten?»

(35:48) Bruder David: «Nichts anderes hat Sinn, als zu beten. Aber ich würde gerne beten vielleicht anders ausdrücken oder zusätzlich noch etwas sagen, damit es auch Menschen zugänglich wird, für die beten ein schwieriges Wort ist. ‹Beten› kann man auch in anderen Worten ausdrücken, die vielleicht verständlicher und zugänglicher sind für Menschen, denen das Wort beten nicht so richtig passt. Wir alle kennen das Erlebnis, dass wir eines Tages in der Früh besonders freudig aufwachen, es ist ein schöner Tag, und unsere eigene Freude schenken wir weiter an andere. Ganz spontan. Wir können das aber auch üben und an Tagen, an denen wir uns nicht so besonders gut fühlen, auch bedenken, dass auch heute das Leben uns einen ganzen Strom von guten Dingen schenkt, sonst können wir nicht einmal atmen, wir können nicht einmal gehen oder sehen oder hören. Es sind alles Geschenke des Lebens. Und bewusst dieses Geschenk weiterschenken. Und das ist Segnung. Der Segen, den kann man sich vorstellen wie den Blutstrom des Universums. Er fließt durch uns durch. Wir können ihn weitergeben. Und wenn man das für jemanden kurz sagen will, der diese Sprache versteht, dann sagt man einfach: Ich bin dankbar für Gottes Gaben und schenke sie weiter. Und das braucht man nicht nur in der Gegenwart von andern, sondern in meinem Herzen kann ich allen Menschen in der Ukraine Liebe und Zuversicht und Lebenskraft und Mut und Ausdauer schicken. Das Leben schenkt es mir und ich lasse es weiterfließen in dieser Richtung. Dankbar für das Herz des Lebens. Das göttliche Herz des Universums, das mir das alles schenkt.»

(38:43) Bettina Buchholz: «Wenn deine Leukozyten und Thrombozyten durch die Chemo und die Stammzellentransplantation verrücktspielen, dann nimmst du Bruder Davids Satz vom Segen, der durch dich hindurchströmt wie der Blutstrom des Universums noch einmal viel tiefer und deutlicher wahr.

Überraschenderweise sprach auch mein Therapeut Harry Merl mit mir über die Möglichkeit des Betens. Er machte mich darauf aufmerksam, dass auch ich beten könnte, wenn mich die Todesangst oder die Ohnmacht zu überwältigen drohen.»

Harry Merl: «Es gibt Situationen, wo man nichts anderes mehr kann als beten. Und man kann’s ja probieren. Es ist ja keine Verpflichtung, es ist ja keine Bindung, aber es ist eine Möglichkeit, weil: Gott ist immer zur Verfügung, wenn man niemanden mehr hat, dann ist er da.»

(39:52) Bettina Buchholz: «Es fiel mir anfangs sehr schwer, den Ärzten im Krankenhaus auf Augenhöhe zu begegnen. Das Machtgefälle zwischen mir als Krebspatientin und meiner Onkologin schien mir oft unüberwindbar zu sein. Mir schwirrte jedes Mal buchstäblich der Kopf von den vielen medizinischen Fachausdrücken und den Namen der verschiedenen Zytostatika. Und dann sollst du auch noch in Minutenschnelle die richtigen Fragen stellen und vor allem die richtigen Entscheidungen treffen. Ich wollte ja nicht, dass meine Onkologin im Alleingang über meine Therapie entscheidet, sondern dass es ein gemeinsames Abwägen und vor allem Hinhören wird. Ja, in solchen Situationen fühlte ich mich schnell ohnmächtig, und ja, auch klein, schwach und hilflos. Mein ‹sogenannter› Selbstwert schrumpfte zusammen wie eine verschrumpelte Zitrone. Und ich spürte leider sehr deutlich, dass ich an meiner Durchsetzungskraft arbeiten musste, um im ärztlichen Gespräch überhaupt gehört zu werden, und um zu mir und meinen eigenen Entscheidungen stehen zu können.

Geholfen hat mir da ein Seminar des Psychotherapeuten Alois Saurugg mit dem passenden Titel «Kommunikation und Selbstwert». Alois ist ja leider im vergangenen Frühjahr gestorben. Aber sein Seminar wirkt immer noch in mir nach. Alois machte mir bewusst, wie wichtig ein höherer Selbstwert für jeden Menschen ist.»

Alois Saurugg: «Insofern ist mir so wichtig, Menschen wirklich zu unterstützen auf der Suche ihrer eigenen Wichtigkeit eigentlich und auch ihrer eigenen Würde. So….., wie ist es möglich, dass Sie Zugang finden zur Wahrheit ihres Herzens, ja, um dann zu wissen, das und das würde mir wirklich gut tun und das ist auch so. Je mehr Bewusstsein von Würde im Menschen ist, umso mehr kann er auch in der Kommunikation viel kreativer und erfolgreicher damit leben.»

Alois schenkte mir zum Abschied einen Text von Virginia Satir. Sie ist die Begründerin der Familientherapie. Auch Virginia wurde lange Zeit von ihren männlichen Kollegen, die allesamt Professoren und Doktoren waren, nicht für voll genommen und geringgeschätzt. Dabei war sie es, die den Zusammenhang zwischen der Kommunikationsfähigkeit eines jeden und seinem Selbstwert klar erkannte. Der Text von Virginia Satir trägt den schlichten Titel: ‹Wie ich dir begegnen möchte›:

‹Wie ich dir begegnen möchte:

Ich möchte mit Dir in Beziehung treten, ohne Dich einzuengen.

Dich wertschätzen, ohne Dich zu bewerten.

Dich ernst nehmen, ohne Dich auf etwas festzulegen.

Auf Dich zukommen, ohne mich Dir aufzudrängen.

Dir meine Gefühle mitteilen, ohne Dich dafür verantwortlich zu machen.

Dich informieren, ohne Dich zu belehren.

Mich von Dir verabschieden, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Mich an Dir freuen ‒ so wie Du bist.

Wenn ich von Dir das Gleiche bekommen kann,
dann können wir uns wirklich begegnen und uns gegenseitig bereichern.›

Das wäre doch schön, wenn Ärzte und Patienten so miteinander umgehen würden, oder? Dies würde doch die Arzt-Patient-Beziehung fundamental und nachhaltig verändern und wir hätten endlich eine Medizin, die sich am konkreten Menschen und seinen Bedürfnissen orientiert.»

(45:00) Hannah: «Ich fahre jeden Tag mit einem Bus der Linie 27 zur Schule. Manchmal belausche ich die Gespräche der Erwachsenen. Immer öfter höre ich, wie sie darüber sprechen, dass wir eh nichts gegen die Umweltzerstörung und den Klimawandel ausrichten können. Das regt mich jedes Mal furchtbar auf. Ich traue mich jedoch nicht, sie anzusprechen. Am liebsten würde ich ihnen ins Gesicht schreien: ‹Ich bin 14 Jahre alt und ich möchte genauso wie ihr, als ihr jung wart, in einer intakten Natur leben und nicht mit so vielen schlimmen Klimakatastrophen. Ich möchte, dass alle mithelfen, diese Welt zu retten. Jeder kann etwas dafür tun. Auch ihr! ›

Mama stellte Bruder David die Frage, wieso Erwachsene dennoch so passiv sein können? Und wie man sie doch noch dazu bringen könnte, mehr an den Klimaschutz zu denken und so die Klimakatstrophe zu verhindern oder wenigstens zu verringern.»

(46:07) Bruder David: «Die Aufgaben, die vor uns stehen heute, sind so groß, dass es recht verständlich ist, wenn jemand fast verzweifelt und meint, ich kann einfach nichts dazu beitragen, persönlich. Aber jede und jeder von uns kann ein bisschen beitragen und zwar schon überhaupt die Frage zu stellen und immer wieder darauf zurückzukommen und immer wieder mit andern darüber zu sprechen. Schon das hält das Problem im Bewusstsein, und bevor wir das Problem in die Augen fassen, können wir ja gar nicht damit umgehen. Also das erste ist schon einmal Fragen zu stellen und andere immer wieder darauf aufmerksam zu machen.»

(47:07) Hannah: «Ich will versuchen, mutiger zu werden und mich mehr und mehr trauen, den Menschen Fragen zu stellen. So wie es Bruder David vorgeschlagen hat. Aber ehrlich gesagt, war ich doch etwas enttäuscht. Konnte Bruder David nicht doch etwas Konkreteres vorschlagen, was die Menschen wirklich jetzt, gleich, tun können? Ich will, dass Veränderungen schnell stattfinden. Und warten zählt nicht gerade zu meinen Stärken. Aber unsere Erde hat keine Zeit mehr zum Warten.»

Bruder David: «Wir wissen alle, dass zum Beispiel Fleischgenuss sehr viel zum Klimawandel beiträgt. Die Abgase von den Zuchttieren verschmutzen die Atmosphäre viel mehr als alle benzinverbrauchenden Fahrzeuge, also Autos und Flugzeuge usw.. Also wir wissen, wenn wir den Fleischgenuss ein bisschen zurückschrauben ‒ man muss ja nicht plötzlich Vegetarier werden ‒, aber etwas zurückschrauben, kann ich mir sagen: Heute habe ich etwas gegen den Klimawandel getan. Und wir können uns ein bisschen auf die Schulter klopfen.»

(48:54) Bettina Buchholz: «Bruder David wurde ja in eine jüdische Familie hineingeboren, die aus religiöser Überzeugung zum Christentum übergetreten war. Das hinderte jedoch die Nazis keineswegs daran, seine Familie zu verfolgen. Zum Glück konnte sich seine geliebte jüdische Großmutter rechtzeitig in die USA absetzen. Er, seine Mutter und seine Brüder überlebten, nach der Scheidung seiner Eltern, in einem kleinen Dorf hier in Österreich. Aber auch sie bekamen ‹Besuch› von den Nazis. Die Sache ging gottseidank glimpflich aus.

Nach dem Krieg emigrierte auch die restliche Familie in die USA. Dort trat Bruder David in ein Benediktinerkloster ein. Einige Jahre später übertrug ihm sein Abt die Aufgabe, einen echten und glaubwürdigen Dialog mit den Buddhisten und anderen spirituellen Traditionen Asiens aufzubauen. Heute ist Bruder David ein enger Freund S.H. des Dalai Lama. Er war auch mit Thich Nhat Hanh, dem Begründer des sozialen Buddhismus, sehr befreundet. Bruder David wurde für sein Engagement im Dialog der Religionen mit dem renommierten Martin Buber Award ausgezeichnet. Auch hier in Linz begegne ich Juden, Christen, Muslimen, Hindus und Buddhisten.

(51:16) Ich stellte Bruder David die Frage, ob spirituelle Menschen in besonderer Weise dem Klimawandel entgegenwirken können, da ihnen ja die Bewahrung der Schöpfung besonders viel bedeuten müsste?»

Bruder David: «Alle Menschen, die der Klimakrise entgegenwirken, sind spirituelle Menschen. Die spirituellen Menschen sind nicht eine besondere Sorte von Menschen. Spirituell kommt von spiritus das heißt Lebenshauch, Lebendigkeit. Im Lateinischen spiritus ist es der Lebensatem, und je lebendiger wir werden, um so mehr werden wir uns der Gefährdungen des Lebens bewusst. Also sind alle Menschen, die sich bewusst sind, dass wir vor solchen großen Gefahren stehen, spirituelle Menschen. Und je spiritueller wir werden, das heißt je lebendiger wir werden, um so mehr werden wir tun, um der Klimakrise entgegenzuwirken. Je mehr wir tun, um der Klimakrise entgegenzuwirken, um so mehr verdienen wir spirituell genannt zu werden.»

(52:46) Musik ‒ Gemälde der älteren Tochter Helene: ‹Meine Tochter Helene versuchte meine Krebserkrankung mit Malen zu bewältigen.›

(53:44) Bettina Buchholz: «Nach einundzwanzig mir unendlich lang erschienenen Tagen durfte ich endlich die Isolierstation verlassen. Mein Körper hatte Gottseidank eine Mindestanzahl an gesunden Zellen gebildet. Ich musste jedoch die nächsten acht Wochen zu Hause weiter in vollkommener Abgeschiedenheit leben und spezielle Hygienevorschriften einhalten.

In dieser Zeit las ich Rilke. Auch Bruder David liebt Rilke über alles. Es ist für mich als Schauspielerin jedes Mal eine Freude, ihn Gedichte von Rilke rezitieren zu hören. Du kannst spüren, wie sehr er jedes Wort durchdringt. Meiner Meinung nach ist Bruder David auch ein echter Künstler. Ich lese jetzt einfach mal jene Rilke Stelle vor, die mich in den Wochen der Isolation am meisten ansprach:

Wir wissens ja oft nicht, die wir im Schweren sind,
bis über’s Knie, bis an die Brust, bis an’s Kinn.

Aber sind wir denn im Leichten froh?
Sind wir nicht fast verlegen im Leichten?

Unser Herz ist tief,
aber wenn wir nicht hineingedrückt werden,
gehen wir nie bis auf den Grund.

Und doch,
man muss auf dem Grund gewesen sein.
Darum handelt sich
s.[2]

(56:16) Wenn du so viele Wochen abgetrennt bist von fast allem und jedem, dann stellst du dir die Frage, ob es für dich ein gutes Leben überhaupt noch geben kann? Und falls dies doch noch möglich wäre, wie denn so ein erfülltes Leben ausschauen könnte trotz der Isolation der Krankheit und den vielen Krisen, die es gegenwärtig auf dieser Welt gibt?»

Bruder David: «Wie kann ein erfülltes Leben ausschauen? Das ist eine sehr schöne Frage. Ich glaube, das deutsche Wort erfülltes Leben legt die Antwort schon nahe. Sehr oft im Leben haben wir das Gefühl der Leere. Da ist nichts, da fehlt etwas. Und wenn wir krank sind, dann sagen wir: Es fehlt uns etwas. Wenn nichts mehr fehlt, dann ist das Leben erfüllt. Dann ist es voll ‒ die Schale ist voll. Dann will sie überfließen. Und dieses Überfließen ist die Dankbarkeit.»

(57:35) Bettina Buchholz: «Für mich ist das ein sehr schönes Bild, das Bruder David hier in den Raum stellt. Ich wäre gerne öfter so eine volle Schale, die nichts zurückhält, sondern dankbar überfließt. Wahrscheinlich geht es vielen von uns so.

Wenn du so eine anstrengende Krebsbehandlung erlebst, dann ist die Müdigkeit dein ständiger Begleiter. Doch ich wollte Bruder David noch eine allerletzte Frage stellen, obwohl ich ahnte, dass seine Antwort länger und vielschichtiger ausfallen könnte.

Ich hatte sein neuestes Buch mit dem Titel Orientierung finden mit großem Interesse gelesen, aber ich hatte es auf Grund seiner Komplexität nicht ganz verstanden, nicht ganz erfassen können. Also stellte ich ihm zum Schluss die Frage, ob er nicht für mich in ein paar Sätzen zusammenfassen könnte, wie man heute, in dieser so widersprüchlichen Welt, doch noch so etwas wie Orientierung und Erfüllung finden könnte?»

(58:37) Bruder David: «Ich habe ein ganzes Buch schreiben müssen, um das auszudrücken. Aber wenn ich’s in einem Satz zusammenfassen soll, ist: Lebensvertrauen ‒ dem Leben vertrauen. Das Leben ist vertrauenswürdig. Wenn wir dem Leben ‒ das heißt, dem großen Du, dem wir in jedem Augenblick des Lebens gegenüberstehen ‒, wenn wir dem vertrauen, erweist es sich vertrauenswürdig.

Das kann man leicht sagen, glauben kann man es nur, wenn man es ausprobiert. Auch in den schwierigsten Situationen immer wieder dem Leben vertrauen und hinhorchen: Was will jetzt das Leben von mir? Was schenkt mir das Leben? In jedem Augenblick schenkt uns das Leben etwas. Aber diese Gabe ist zugleich Aufgabe. Und das zu üben, immer wieder zu üben, das ist worauf es ankommt im Leben, scheint mir. Man kann es natürlich auch Liebe nennen, aber Liebe ist so ein schwieriges Wort, weil es so viel missbraucht und missverstanden wird. Aber wenn man unter Liebe das gelebte Ja zur Zugehörigkeit versteht ‒

Liebe ist das gelebte Ja zur Zugehörigkeit. Und Liebe ist dann, worauf es im Leben ankommt. Und Liebe bezieht sich auf jeden Menschen, jedes Tier, jede Pflanze, den ganzen Kosmos und letztlich auf das Herz des Ganzen. Denn das Ganze hat ein Herz. Und das erlebt man eben auch nur, wenn man sich darauf verlässt. Aber wenn man sich darauf verlässt, fühlt man den Herzschlag des Universums in unserem eigenen Herzen.»

(01:01:06) Nach dieser intensiven Stunde mit Bruder David verspürte ich trotz meiner Müdigkeit so etwas wie eine aufkeimende Zuversicht, einen wachsenden Mut und ja ‒ auch wieder Lebensfreude. Und ich spürte wirklich so etwas wie den Herzschlag des Universums in mir. Dies alles möchte ich in mir bewahren trotz der Scheißkrankheit, der voranschreitenden Klimakrise und des furchtbaren Krieges. Ich wollte mich gerade bei Bruder David herzlich und inniglich bedanken, aber da hatte bereits er das Wort ergriffen:»

Bruder David: «Ich wollte gerade noch sagen: Erstens danke ich euch für das wunderbare Werk, das ihr da tut, weiterhin, trotz dieser Behinderung. Und ich wollte dir sagen, dass ich für dich bete ‒ schon seit ich davon von dir gehört habe, und es auch weiterhin gerne tue. Und jetzt weißt du auch wie: Recht viel Lebenskraft schicke ich dir zu. Und Mut und Vertrauen. Und ich weiß, wie schwer das sein kann. Ich wünsche dir alles, alles Gute.»

Bettina Buchholz: «Danke, lieber Bruder David. Und Danke auch allen hier, die ihr zugehört habt. Versuchen wir alle, gut auf uns selber zu schauen. Und schauen wir gleichzeitig auf die Menschen um uns herum, die unsere Hilfe brauchen. Und noch etwas: Schauen wir doch gemeinsam auf diese so verletzliche und zugleich so wunderbare Erde. Sie ist unsere Mutter. Und sie ist das Zuhause unserer Kinder und Kindeskinder.»

 ________________

[1] Etty Hillesum: ‹Das denkende Herz: die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943›, hrsg. und eingeleitet von J. G. Gaarlandt; aus dem Niederländischen von Maria Csollány (= rororo, Bd. 15575), Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 282018

[2] R. M. Rilke im Brief an den Schriftsteller Arthur Holitscher vom 13. Dezember 1905

«Wir sind daheim in dieser Welt» (1975)
 Transkription© von Hans Businger (2023)

Eine Betrachtung über die Sinne als Wege zum Sinn mit David Steindl-Rast

(00:24) Lebendig sein: darauf kommt’s schließlich im Letzen an. Das geistliche Leben heißt ja, ein überaus lebendiges Leben führen. Dass wir noch nicht gestorben sind, bedeutet nicht, dass wir wirklich lebendig sind. Wir leben oft so halbtot dahin. Der Geist ist der Lebensatem Gottes in unserer christlichen Tradition, in der ganzen biblischen Tradition. Daher bedeutet ein geistliches Leben führen, völlig lebendig zu sein. Mit allen Sinnen. Und darauf kommt es schließlich im Letzten an: Lebendigkeit.

(01:16) Wenn ich vom mönchischen Leben spreche, so baue ich dabei einerseits auf meiner Erfahrung als Benediktinermönch auf ‒ ich bin jetzt schon über 30 Jahre Benediktiner ‒ und auch auf meiner Erfahrung in buddhistischen Klöstern. Ich habe einige Zeit in buddhistischen Klöstern verbracht, besonders Zen-Klöstern, und in beiden Traditionen ist das Wesentliche der Askese, dass man im Augenblick offen ist mit ganzer Lebendigkeit für alles, was der Augenblick bringt.

(02:40) Diese Hütte hier, diese Almhütte im Pinzgau, ist eine meiner liebsten Plätze in Österreich. Sie erinnert mich so an die Einsiedelei in Kalifornien, in der ich jetzt schon seit einigen Jahren die meiste Zeit verbringen darf, wenn ich nicht auf Reisen bin. Das eigentlich Wesentliche dran ist ja nicht die Abgeschlossenheit, sondern die Möglichkeit, aus dem Zweckstreben, aus dem Eingespanntsein in das Zweckstreben herauszukommen und wirklich Sinn finden zu können. Dazu brauchen wir Zeit. Das sind nämlich zwei ganz verschiedene Dinge: Sinn und Zweck. Dem Zweck, dem gehen wir nach, da müssen wir etwas ergreifen, da müssen wir uns darum bemühen, dem Sinn müssen wir uns hingeben. Und mit dem Herzen Sinn finden ist eigentlich eines der wesentlichen Ziele der Askese. Und darum ist es ein großer Vorteil, wenn man als Mönch eine Einsiedelei hat, aber eigentlich schaffen sich ja die meisten Menschen irgendwo in ihrem Alltag so eine Einsiedelei des Herzens, in der sie Sinn finden dürfen. Darauf kommt es an.

(04:00) Wenn wir vom Sinn finden sprechen, dann kommen natürlich die Sinne in das Spiel. Denn es ist ja kein Zufall, dass Sinn und Sinne dem Wort nach zusammenhängen. Rilke hat das so wunderbar in seinem Gedicht zusammengefasst in einem der Sonette an Orpheus:

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne.
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Sei Sinn! Denn Sinn finden, heißt ja eigentlich Sinn werden. Das heißt so zu leben, dass wir in jedem Augenblick uns dem stellen ‒ mit allen unsern Sinnen ‒, was uns entgegenkommt.

Uns ansprechen lassen und von ganzem Herzen antworten.

(05:13) Ellinor Jensen (Sprecherin):

Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
lass dich läuten. Das, was an dir zehrt,

wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidendste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.

R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 2. Teil, XXIX[[1]]

(06.45) Wenn es darum geht, sich in jedem Augenblick völlig von dem ansprechen zu lassen, was der gegebene Augenblick enthält, dann kommt im geistlichen Leben eigentlich alles darauf an, mit dem Herzen zu horchen und von ganzem Herzen zu antworten.

Und das ist in der biblischen Tradition ganz fest verankert, denn dort läuft alles darauf hinaus, dass wir unser tiefstes Leben als Zwiegespräch mit der göttlichen Gegenwart erleben.

Ursprünglich in unserer natürlichen Frömmigkeit denken wir noch nicht notwendigerweise an einen persönlichen Gott. Sondern wir erleben in unsern besten, lebendigsten Augenblicken eine tiefe Geborgenheit, ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Daheimsein in der Welt. Wir sind hier nicht verweist, wir wurden erwartet, wir sind eingebettet, die Welt ist für uns vorbereitet, wir sind hier zu Hause.

Und von diesem Zugehörigkeitsgefühl ist kein sehr weiter Weg zu der Gegenseitigkeit der Zugehörigkeit. Und da kommt dann die persönliche Bezogenheit zum Göttlichen herein, und das ist der Gesichtspunkt des Religiösen, der in der biblischen Tradition besonders unterstrichen wird, auf den die biblischen Autoren besonders ansprechen.

Wenn es zum Beispiel heißt in der Schöpfungsgeschichte: «Gott sprach und es ward Licht.» Und «Gott sprach», und da war ein Firmament», und «Gott sprach», und er schafft so ein Ding nach dem andern …, dann heißt das in unserer gegenwärtigen Sprache eigentlich, dass wir dann Sinn finden im Leben, wenn wir alles, was es gibt, als Wort verstehen durch das die göttliche Gegenwart uns anspricht: Also mit allen unsern Sinnen uns darauf einstellen, dass Gott spricht.

(08:59 Ellinor Jensen (Sprecherin):

Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.

Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.

Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,

ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.

R.M. Rilke: Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX[[2]]

(10:01) Dieses Horchen mit dem Herzen ist keineswegs etwas Abstraktes, sondern ist ganz konkret mit dem Horchen mit den Ohren verbunden. Es beginnt mit einem intensiven Horchen lernen. Wie können wir uns denn einbilden, mit dem Herzen horchen zu können, wenn wir nicht einmal mit den Ohren eingeblendet sind auf die vielen wundervollen Geräusche, die uns ständig umgeben. Hier in der Hütte ist es natürlich leicht: der Wind durch die Bäume im Wald, der Regen auf dem Dach, der Bach, die Quelle, das Feuer, das prasselt ‒ ein Geräusch schöner wie das andere.

Es gibt auch im Alltag für die meisten von uns sehr viele wunderschöne Geräusche: das Singen der Vögel, die Stimmen der Kinder ‒ viele wunderschöne Geräusche, auf die wir uns einstellen können, wenn wir dazu wach genug sind.

Aber man muss zugeben, dass es im Alltag für die meisten von uns auch Geräusche gibt, die nicht so angenehm sind und nicht so auf den ersten Anhieb als Wort Gottes erfahren werden können.

Wie sollen wir mit denen umgehen?

Ich muss mich darum selber häufig bemühen, und eines, das mir dabei zu Gute kommt, ist: Nicht ein Geräusch von Vornherein schon mit Wert zu belegen. Nicht von Vornherein es schon schön oder hässlich zu nennen ‒ gut oder schlecht ‒, sondern einfach zu horchen. Und da hört man manchmal in Geräuschen, die man vorher gar nicht hören wollte, sehr schöne Dinge. Am besten ist es, sie überhaupt nicht zu benennen. Wenn wir dem Geräusch einen Namen geben, haben wir es schon irgendwie kategorisiert und auch meistens schon irgendwie abgeschrieben. Aber einfach horchen ohne einen Namen zu geben.

(12:41) Ich habe Glocken ungeheuer gerne, aber in einem gewissen Sinn ist der schönste Klang der Augenblick, in dem die letzte Glocke verstummt. Diese Stille nach dem Glockenläuten, die ist etwas ganz Wunderbares. Und erst wenn wir lernen, auf die Stille zu horchen, die den Ton umgibt, das Schweigen, aus dem der Ton hervorkommt, von dem der Ton sich absetzt, erst wenn wir lernen, mit dem Herzen auf die Stille hinzuhorchen, haben wir wirklich begonnen, mit dem Herzen hören zu lernen.

(13:55) Für jemanden, der wirklich mit dem Herzen fühlen lernt, der wirklich mit dem Herzen der Wirklichkeit begegnet, besteht kein Bruch zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, zwischen dem Sakralen und dem Profanen.

Der Rausch aus dem Räucherstäbchen ist nicht heiliger als der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt. Auch der Rauch, der aus dem Kamin aufsteigt, ist eine Geste des Gebetes.

(14:30) Zu der großen Aufgabe des geistlichen Lebens, durch die Sinne Sinn zu finden, gehört natürlich auch das Riechen und der Geruchsinn. Aber das ist für die meisten von uns ‒ oder zumindest bei sehr vielen Menschen ‒ eine traurige Angelegenheit. Für die gibt es nur zweierlei Gerüche: gut und schlecht. Und das ist eine große Verschwendung unseres Geruchsinns: All diese wunderbaren Gerüche, die es in der Welt gibt. Wenn wir uns einmal darauf eingestellt haben, gar keine Gerüche als schlecht abzuschreiben, sondern uns einmal ihnen auszusetzen, dann finden wir, dass Dinge einen ganz eigenen Geruch haben, denen wir vorher gar keinen Geruch zugeschrieben haben. Holz hat einen ganz eigenen Geruch und verschiedene Holzarten ganz verschiedene Gerüche. Bücher: ein neues Buch, ein altes Buch. Für viele Menschen ist nur das Aufschlagen eines Buches schon mit einem gewissen Geruch verbunden und sogar gewisse Bücher mit der Erinnerung an gewisse Gerüche.

Überhaupt ist ja der Geruchsinn am engsten mit unserer Erinnerung verbunden. Wenn wir nur an die vielen Kindheitserinnerungen denken, die mit Gerüchen verbunden sind: eine Wäschelade, in der Lavendel ist, oder ein Fischmarkt oder das Meer oder Weihrauch: für wie viele Menschen Weihrauch ganz mit dem religiösen Kindheitserleben verbunden ist. Darum soll es uns auch gar nicht wundern, wenn in der Bibel und in vielen andern Traditionen der Geruchsinn eine ganz wichtige Rolle spielt.

(16:57) Sprecher:

Meine Schwester, liebe Braut,
du
bist ein verschlossener Garten,
eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.

Deine Gewächse sind wie ein Lustgarten von Granatäpfeln
mit edlen Früchten,
Zyperblumen mit Narden,

Narde und Safran, Kalmus und Zimt,
mit allerlei Bäumen des Weihrauchs,
Myrrhen und Aloe
mit allen besten Würzen.

Ein Gartenbrunnen bist du,
ein Born lebendiger Wasser,
die vom Libanon fließen.

Stehe auf, Nordwind, und komm Südwind
und wehe durch meinen Garten,
dass seine Würzen triefen!

(Hohelied 4, 12-16)

(18:34) Der Gesichtssinn ist für die meisten Menschen der am weitesten entwickelte Sinn unserer Sinne. Aber dass jemand ein visueller Typ ist, heißt noch nicht, dass man wirklich gelernt hat mit dem Herzen zu schauen.

Das Wesentliche am mit dem Herzen schauen ist das Staunen: staunen können, so wie Kinder noch staunen können mit ihrer Unbefangenheit. Oder wie Künstler staunend auf die Welt schauen und so die Überraschung geradezu herausfordern. Oder wie Mütter auf ihre Kinder schauen. So sollten wir eigentlich auf alles schauen: auf andere Menschen, auf Tiere, Pflanzen, auf die ganze Welt, mit mütterlichen Augen, die sagen: Überrasch mich! Und so schaffen wir dann einen Raum, in den die Welt hineinwachsen kann, in den auch andere Menschen hineinwachsen können. Wenn wir mit Augen schauen, die ohne Worte sagen: «Überrasche mich!», dann werden wir wirklich unsere Überraschungen erleben.

(19:45) Erst wenn wir Blinde sehen, die uns in ihrer Sensitivität auf dem Gebiet anderer Sinne soviel zu lehren haben, erst dann wird es uns so richtig bewusst, was wir an unserem Gesichtssinn eigentlich haben, was für ein Schatz, was für eine Gabe das ist und mit welcher Dankbarkeit wir damit durchs Leben gehen sollen.

(20:33) In dem lebendig werden, von dem wir hier sprechen, kommt viel darauf an, das Kind in uns zu ermutigen. In jedem von uns lebt dieses Kind und unsere Kindheit ist nicht lang genug, um das vielversprechende Kind wirklich zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Ein ganzes Leben reicht kaum dazu aus. Unsere große Aufgabe ist, Kind zu werden. Nicht kindisch, sondern kindlich. In der ganzen Frische kindlicher Begegnung mit der Welt.

(21:50) Als Kinder hatten wir ein Spielzeug, das Kaleidoskop hieß, diese Röhre, in der verschiedene kleine Glasscherben sich herumbewegten zwischen Spiegeln und immer neue Muster ergaben. Das war schon eine große Überraschung, immer wieder neue Muster zu sehen. Aber heutzutage gibt es eine neue Art von Kaleidoskop, in dem drei Spiegel auf die Wirklichkeit hinzielen und man die verschiedenen Dinge im Raum immer wieder neu gespiegelt sieht. Mir kommt es vor, dass wir uns so ein Kaleidoskop in unser Auge einbauen müssten, um immer wieder überrascht zu werden von der Wirklichkeit, die wir rund um uns sehen. Wir müssten lernen, die Wirklichkeit immer wieder mit neuen Augen zu sehen, mit den Augen eines Kindes.

(23:12) Was es uns so schwer macht, mit kindlicher Frische und Unvoreingenommenheit unsere Welt zu sehen, ist Übersättigung und Gewöhnung. Wir müssten eben lernen, mit ganz frischen Augen wieder zu schauen.

Jede Landschaft hat ihre eigenen besonderen, ganz unverwechselbaren sinnlichen Reize. Wir denken zum Beispiel an eine Berglandschaft. Oder ein Vergleich dazu zur Tiefebene. Wir denken ans Meer, an einen Fluss, aber auch die Stadt: Die Stadt hat einen ganz besonderen Appell an unsere Sinne. Sie überstürzt uns geradezu mit Formen und Farben und Geräuschen, die auf uns einstürzen. Auch die Stadt will etwas zu uns sagen, wenn wir uns nur mit allen Sinnen dafür öffnen.

(25:01) T. S. Eliot spricht von dem ruhenden Punkt im Fluss der Zeit. Wir können uns diesen Punkt vorstellen wie eine einzige Achse, um die sich ein enormes Räderwerk bewegt, das doch immer wieder dort seinen stillen Punkt findet. Und für uns Menschen besteht dann die große Aufgabe darin, auch immer wieder diesen ruhenden Punkt in unserem Leben zu erreichen. Und hier an diesem Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit gilt nicht mehr die Zeit der Uhren, sondern ‒ sagen wir ‒ die Zeit der großen Glocken. Oder die Zeit, die uns bewusst wird, wenn wir die Meereswogen beobachten in Ebbe und Flut, die ihre ganz eigene Zeit, ihren ganz eigenen Rhythmus haben.

(26:00) Reinhard Glemnitz (Sprecher):

An dem ruhenden Punkt der kreisenden Welt.
Weder Körper noch Geist,
Weder Hin noch Her;
Am ruhenden Punkt,
da ist der Tanz,
Weder einhalten noch Bewegung.
Und nenn es nicht Stillstand,
Wo Vergangenes und Künftiges zusammenfallen.
Bewegung weder hin noch her,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende Punkt,
so wäre der Tanz nicht,
und es gibt nichts als den Tanz.

T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, II[[3]]

(27:14) Die Zeit um die es hier geht, ist nicht unsere Zeit, aber eine Zeit, die wir in den großen Rhythmen des Lebens entdecken und der wir uns hingeben können auf unserem Weg zum Sinn.

(27:33) Reinhard Glemnitz (Sprecher):

Die Zeit und die Glocke begruben den Tag,
die schwarze Wolke trug die Sonne zu Grab.
Wenn des Eisvogels Flügel
auf das Licht antwortet mit Licht und schweigt, ist das Licht noch immer
auf dem ruhenden Punkt der kreisenden Welt.

T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, IV[[4]]

(27:56) Der Tastsinn spielt eine ganz wichtige Rolle auf den Höhepunkten, den Durchgangspunkten unseres Lebens: in der Geburt, in der Liebesbegegnung, beim alten Menschen, im Tod, beim Sterbenden. Die Zärtlichkeit der Berührung. Etwas ungeheuer Wichtiges. Wir haben oft so harte Griffe. Wir denken nur ans Angreifen und nicht ans berührt werden.

Rilke weist einmal darauf hin, dass in den attischen Stelen die Menschen so zart einander anfühlen in Begegnung und Abschiednehmen: «So ist es uns gegeben einander zu berühren», sagt er, «anders rühren die Götter uns an.» [[5]]

(28:56 – 31:32) Der Keramiker Heinz Lackinger bei der Arbeit

(31:32) Wir vergessen allzu leicht, dass die Berührung, der Tastsinn, der Sinn ist, der immer gegenseitig ist. Berührung ist immer gegenseitig. Wir können sehen, ohne gesehen zu werden, wir können hören, ohne gehört zu werden usw., aber wir können nie etwas berühren, ohne selbst berührt zu werden.

Und uns so anrühren zu lassen von den Dingen, die wir berühren, das setzt voraus, dass wir es bewusst tun. Und wenn uns dann etwas berührt, dann wird es uns auch anrühren und wird uns auch zu Herzen gehen. Und darin liegt etwas zutiefst Dialogisches in diesem Sinn des Berührens und des berührt werdens. Wir erfassen etwas nur wirklich, wenn wir uns davon auch berühren lassen.

(34:54) Wenn wir Hausarbeit wirklich mit offenem Herzen tun, dann wird das Aufkehren, das Abstauben, das Zusammenräumen eine Art Liebkosung unserer Wohnung.

Wenn wir mit wirklich offenem Herzen das Geschirr berühren, während wir es abwaschen, dann wird uns auch das zu einem ganz tiefen Erlebnis. Bei der Teezeremonie zum Beispiel in Japan werden schwere Geräte aufgehoben wie wenn sie ganz leicht wären und leichte Geräte als ob sie ganz schwer wären. Wenn wir das einmal beim Geschirrabwaschen versuchen, einen kleinen Teelöffel aufzuheben als wäre er ganz schwer ‒ einen schweren Kessel aufzuheben als wäre er ganz leicht, dann wird uns auch das zu einem neuen Erlebnis. Wir sind dann vielleicht ganz anders darauf eingestimmt, dass das warme Wasser wirklich warm ist und das kalte Wasser wirklich kalt. Durch alle diese Erlebnisse spricht uns die Wirklichkeit an und das kann zu einem viel tieferen Bewusstsein führen.

(36:46) Der Geschmacksinn ist eigentlich der innerlichste unserer Sinne. Es ist kein Zufall, dass das lateinische Wort für Weisheit ‒ spientia ‒ eigentlich ein innerliches Schmecken heißt. Wörtlich ist sapientia ein innerliches Schmecken.

Und die tiefste Weisheit des Herzens besteht darin, einen Geschmack für die Welt zu entwickeln.

Und wie sollen wir das tun, wenn wir es nicht auch sinnlich mit unserer Zunge, mit unserm Geschmack lernen? Das ist eine sehr spirituelle Aufgabe wie mit all den andern Sinnen. Es handelt sich einfach darum, wirklich lebendig zu werden, wirklich aufzuwachen zu der Tiefe und Fülle des Lebens.

(38:40) Diese Art der Spiritualität, diese Art wirklich lebendig zu sein, und die Askese der Sinne, die dazu führt, ist im wahrsten Sinne allumfassend und also im echten Sinne katholisch. Sie schließt sich der ganzen Welt auf. Und das ist unsere große Aufgabe.

Das Kind in uns ist immer Dichter, bleibt Dichter. Und es tut das, was der Dichter tut. Es hebt das Sinnliche über den Wandel der Zeit ins Zeitlose hinaus.

(40:09) Das Erlebnis ist nicht vollendet, bevor es nicht in Erinnerung übergeführt wird. Diese Verwandlung von Sinneserfahrung in Erinnerung ist eine Verwandlung aus dem Sichtbaren, Schmeckbaren, Tastbaren, Riechbaren, Hörbaren in einen Bereich des Übersinnlichen.

Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das so schön ausgedrückt. Er vergleicht uns Menschen mit Bienen, die den Nektar des Sichtbaren in die großen goldenen Honigwaben des Unsichtbaren sammeln. Das ist unsere große menschliche Aufgabe.[[6]]

(41:26) Diese Offenheit der Welt gegenüber von der wir hier sprechen, ist etwas so Wunderschönes, so Anziehendes, dass man sich wundern muss, warum wir uns so oft davor verschließen, warum wir nicht so leben, einfach im Alltag, warum man das üben muss. Und die einzige Antwort, die ich finden kann, ist, dass wir uns fürchten. Es kostet uns zu viel, uns dem auszusetzen. Wir wollen auswählen. Wir wollen uns nur dem aussetzen, was uns gut gefällt. Daher verschließen wir uns. Daher engen wir unsern Gesichtskreis ein. Angst verengt uns überhaupt. Angst verengt schon die Blutgefäße. Angst hat zu tun mit Angina, ángina: mit Enge: mit der inneren Enge, mit dem nicht atmen können. Es hat aber auch zu tun mit der Enge des Geburtskanals, durch den wir durchmüssen, um wirklich das Licht der Welt zu sehen, um geboren zu werden. Und das verlangt ungeheuren Mut von uns.[7]

Dieser Mut, dieser Lebensmut, dieses gläubige Vertrauen in das Leben, das heißt im religiösen Sprachgebrauch Glaube. Und der Glaube ist eben einfach diese Offenheit dem Leben gegenüber, diese Bereitschaft für alles, was uns entgegenkommt. Dieses tiefe Vertrauen  in die Welt, in das Leben und in den Urgrund und die Quelle des Lebens: ‹Gott›, wenn wir es so nennen wollen.

(43:41) Das Einzige, das wir wirklich lernen müssen, und das ist sehr einfach, ist aufzuwachen zu den vielen, vielen Geschenken, die wir täglich empfangen und sie dankbar entgegenzunehmen. Wenn wir wirklich dankbar sind, dann nehmen wir schon ganz spontan die Haltung ein, von der hier die Rede ist. Denn in der Dankbarkeit ist schon das Vertrauen beinhaltet dem Geber gegenüber, dem Gegebenen gegenüber, dem Leben, das uns sich gibt. Wenn wir dankbar sind, sind wir offen für dieses Geben, es in Empfang zu nehmen. Wir sind offen für Überraschungen. In der Dankbarkeit freut man sich über Überraschungen. Man weist sie nicht zurück, sie sind einem willkommen, man ist bereit dafür. Und wir sind auch bereit für dieses Geben und Nehmen, das zur Dankbarkeit gehört, das in Empfang nehmen und das Dank sagen. Und in diesem Geben und Nehmen besteht unsere Zugehörigkeit zu der Welt: unser Daheimsein in der Welt.

(45:31) Reinhard Glemnitz (Sprecher):

Wo enden sie die Fischer,
die in den Wind segeln, wo der Nebel lauert?
Nicht auszudenken eine Zeit ohne Meer
oder ein Meer ohne Abfall.
Oder eine Zukunft, nicht in Gefahr,
wie die Vergangenheit ziellos zu versanden.

Unermüdlich hantieren sie, stellen und strecken die Segel,
während der Sturm aufzieht über der Sandbank,
legen ihr Geld ab im Hafen und trocknen die Segel;
nicht aber: Ziehen sie aus auf unentlohnbare Fahrt,
auf einen Fischfang, der nicht standhält der Prüfung.

Das Tönen der Glocke
misst die Zeit, die nicht die unsere ist,
sondern eine, die geläutet wird von der gemessenen Flut,
eine Zeit, älter als die der Uhren,
älter als die Zeit,
wie sorgende Frauen sie zählen,
die wachliegen nachts und die Zukunft berechnen
zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn die Vergangenheit Trug ist
und die Zukunft nicht künftig vor der Morgenwache,
wenn die Zeit einhält und endlos sich dehnt;
und die Flut, die heute wie von jeher anschwillt,
läutet
die Glocke.

T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II und I[[8]]

(47:34) Am Ende unserer Reise, am Ende unseres großen Abenteuers, am Ende dieser unentlohnbaren Fahrt kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, und kennen den Ort zum ersten Mal.[[9]]

Dieses Ankommen am stillen Punkt, ist das Einzige, worauf es letztlich ankommt. Dieser stille Punkt des großen Tanzes ist das einzig Wesentliche.

Wenn wir in diesem stillen Punkt, in diesem Ruhepunkt wurzeln, dann werden wir die Einheit alles Seienden entdecken. Und eine solche Entdeckung ist immer ein großes Geschenk, ein ganz unerwartetes Geschenk, ein Windfall, ein Fischfang, so groß, dass es sich nicht zählen lässt.

Die Sinnoffenheit von der wir hier sprechen: mit dem Herzen fühlen, das ist nicht nur eine sinnliche Angelegenheit. Das hat sehr viel zu tun mit sozialen Problemen. Mit der Ganzheit der Welt. Wir öffnen uns der Welt als Ganzes. Das heißt: Wenn wir wirklich schauen lernen mit dem Herzen, dann schauen wir auf die Welt wie sie ist und schauen nicht weg, wenn es uns nicht gefällt. Wir müssen Dinge ins Auge fassen, die wir eigentlich nicht gerne sehen. Wir werden vielleicht das Weinen der Welt hören. Das Weinen der Unterdrückten. Wir werden vielleicht riechen, dass etwas faul ist im Staate Dänemark. Wir werden, wenn wir uns zu Tisch setzen, das Salz der Tränen kosten, das mit aus der Dritten Welt importiert wird mit unsern Lebensmitteln. Wir werden ‒ wenn wir wirklich ehrfürchtig fühlen lernen, das heißt, uns auch wirklich berühren lassen von dem, was wir berühren ‒, dann werden wir zutiefst berührt werden, von dem Elend der Welt auch. Nicht nur von allem Schönen. Von allem Schönen und von allem Schweren und allem Schrecklichen das es in unserer Welt gibt. Und das fällt uns sehr schwer. Es ist aber eine große Aufgabe für uns alle.

 ______________________

[[1]] Siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 152 und 164

[[2]] Siehe auch Die Achtsamkeit des Herzens: Sinnlichkeit und christliche Askese (2021), 98f.:

«In diesem ‹Lied überm Land› liegt der bleibende Sinn, in den das horchende Herz allen Wandel führt. Unter Tränen lächelnd, willig dieses Lied singen, das heißt durch die Sinne Sinn finden.»

Audio So leben wir und nehmen immer Abschied (2009)
Vortrag
(25:52) ‹Wandelt sich rasch auch die Welt› (Rilke, Sonette an Orpheus 1. Teil, XIX): Bruder David deutet das Sonett mit Blick auf die Zeit und das Jetzt, das kleine Ich und das Selbst, Orpheus und Christus

[[3]] «At the still point oft he turning world. Neither flesh nor fleshless;
Neither from nor towards; at the still point, there the dance is,
But neither arrest nor movement. And do not call it fixity,
Where past and future are gathered. Neither movement from nor towards,
Neither ascent nor decline. Except for the point, the still point,
There would be no dance, and there is only the dance.»

«Am stillen Mittelpunkt der bewegten Welt. Weder Fleisch noch fleischlos;
Weder woher noch wohin; am stillen Mittelpunkt, da ist der Tanz,

Doch weder Hemmung noch Bewegung. Man nenne es nicht Festigkeit,
Wo Vergangenheit und Zukunft eins sind. Keine Bewegung woher noch wohin,
Weder ein Auf- noch ein Abstieg. Ohne den Punkt, den stillen Mittelpunkt,
Wäre kein Tanz, aber Tanz ist alles, was ist.»

T. S. Eliot: Four Quartests: Burnt Norton, II, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, in: Vier Quartette. Four Quartets. Englisch und deutsch, Berlin, Suhrkamp Verlag 2015, 12f.

Siehe auch Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 112:

«Wirklich allein zu sein, bedeutet durchaus nicht, einsam zu sein. Am Grunde meines Herzens, jenem geheimen Ort, an welchem ich am meisten ich selber bin, bin ich paradoxerweise auch mit allen anderen Menschen, mit allen Lebewesen, mit allem, was existiert, vereint. Wirklich allein zu sein, bedeutet, von Zwiespalt geheilt zu sein, eins zu sein mit meinem wahren Selbst, und somit eins mit allem. In diesem Sinn allein zu sein, bedeutet, den Punkt erreicht zu haben, den T. S. Eliot den ‹ruhenden Punkt der sich kreisenden Welt› nennt, den Ruhepunkt des großen Tanzes, den Gipfel ‹wo Vergangenes und Zukunft vereint sind›.

‹Weder Fortgehn noch Hingehn,
Weder Steigen noch Fallen.
Wäre der Punkt nicht, der ruhende,
So wäre der Tanz nicht ‒
und es gibt nichts als den Tanz.›»

[[4]] «Time and the bell have buried the day,
The black cloud carries the sun away.
Will the sunflower turn to us, will the clematis
Stray down, bend to us; tendril and spray
Clutch and cling?
Chill
Fingers of yew be curled
Down on us? After the kingfisher's wing
Has answered light to light, and is silent, the light is still
At the still point of the turning world.»

«Zeit und die Glocke begruben den Tag,
Die Sonne zieht in den Wolkenverschlag.
Wird die Sonnenblume sich uns zeigen, wird die Klematis
Sich niederbeugen, uns neigen, Ranke und Reis
Klettern und klammern?
Kühle
Finger der Eibe sich kräuseln
Nieder auf uns? Nachdem des Eisvogels Schwinge
Licht mit Licht vergalt und nun stillhält, ist Licht noch immer
Am stillen Mittelpunkt der bewegten Welt.»

T. S. Eliot: Four Quartets: Burnt Norton, IV, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, ebd. 20f.

[[5]] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 73:

«Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht
menschlicher Geste? War nicht Liebe und Abschied
so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus anderm
Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände,
wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht.
Diese Beherrschten wussten damit: so weit sind wirs,
d i e s e s   ist unser, uns  s o  zu berühren; stärker
stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter.»

R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die Zweite Elegie

[[6]] Die Achtsamkeit des Herzens: Sinnlichkeit und christliche Askese (2021), 97f.:

«So gilt es, alles Hiesige nicht nur nicht schlecht zu machen und herabzusetzen, sondern gerade, um seiner Vorläufigkeit willen, die es mit uns teilt, sollen diese Erscheinungen und Dinge von uns in einem innigsten Verstande begriffen und verwandelt werden. Verwandelt? Ja, denn unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‹unsichtbar› wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible.»

R. M. Rilke am 13. November 1925 in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz

Siehe auch TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) Teil II, 105-107 mit diesem Schlüsseltext von Rilke im Buch Auf dem Weg der Stille (2016), 95f.

[[7]] Die Achtsamkeit des Herzens: Die Dankbarkeit der fünf Sinne (2021), 56f.

«Wir sind daheim in dieser Welt, und das Kind in uns weiß es. Als Kinder zweifelten wir nicht einen Augenblick daran, dass Liebe diese Welt entwarf. Darum blickten unsere Augen noch ‹mit hellem Mut›. Wir hatten eben noch den Mut, die Welt arglos dankbar als das zu erkennen, was sie ist, als Gabe. Was verdüstert uns dann heute so oft hellen Mut und hellen Blick? Furcht. Wir fürchten, uns auf die Güte des großen Gastgebers zu verlassen; Furcht, uns ehrfürchtig vor dem Geber zu neigen. Wir haben Furcht vor der Ehrfurcht. Und warum? Weil die Ehrfurcht Gott jene Mitte zugesteht, die wir uns so gerne selber anmaßen. Gerhard Terstegen hat mit wenigen Worten zielsicher auf das Entscheidende an der Ehrfurcht hingewiesen: Nicht wir sind in der Mitte, sondern Gott.

‹Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor ihn treten!
Gott ist in der Mitte …›

Wir müssen wählen zwischen Ehrfurcht und Furcht. Wer nicht den Mut zur Ehrfurcht hat, der fällt unweigerlich existentieller Angst zum Opfer. Nur die Ehrfürchtigen sind daheim in dieser Welt und wissen es.»

[[8]] «Where is the end of them, the fishermen sailing
Into the wind's tail, where the fog cowers?
We cannot think of a time that is oceanless
Or of an ocean not littered with wastage
Or of a future that is not liable
Like the past, to have no destination.

We have to think of them as forever bailing,
Setting and hauling, while the North East lowers
Over shallow banks unchanging and erosionless
Or drawing their money, drying sails at dockage;
Not as making a trip that will be unpayable
For a haul that will not bear examination.»

«Wann nimmt es ein Ende, dass Fischer sich wagen
Ins Schlepptau des Winds, wo Nebel kauert?
Wir können uns keine Zeit denken, meerlos
Oder ein Meer, nicht besudelt mit Abfall
Auch keine Zukunft, die nicht zwingend wäre
Wie die Vergangenheit, nämlich ohne Bestimmung.

Wir denken uns, wie sie an allen Tagen
Schöpfen, streichen, Segel stellen, wenn der Nordost abflaut
Über flachen Bänken, unbewegt, erosionslos
Oder Geld abheben, Segel trocknen gegen Kaigebühr;
Nicht, wie sie unentlohnt auf die Fahrt gehen
Für einen Fang, der nicht standhält der Prüfung.»

T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II

«And under the oppression of the silent fog
The tolling bell
Measures time not our time, rung by the unhurried
Ground swell, a time
Older than the time of chronometers, older
Than time counted by anxious worried women
Lying awake, calculating the future,
Trying to unweave, unwind, unravel
And piece together the past and the future,
Between midnight and dawn, when the past is all deception
The future futureless, before the morning watch
When time stops and time is never ending;
And the ground swell, that is and was from the beginning,
Clangs
The bell.»

«Und unter dem Druck des schweigenden Nebels
Läutet die Glocke
Misst Zeit, nicht die unsrige, von der nicht eiligen
Dünung geläutet, Zeit
Älter als die Zeit der Chronometer, älter
Als Zeit, bang gezählt von besorgten Frauen
Die wachliegen und die Zukunft berechnen,
Abzuwickeln und zu entflechten suchen
Vergangenheit, Zukunft zusammenzuflicken,
Zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn Vergangenheit Täuschung ist,
Zukunft ohne Gestalt, vor der Morgenwache
Wenn die Zeit stockt und Zeit niemals endet
Und die Dünung, die ist und vor dem Anfang war,
Die Glocke
Hallt.»

T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, I, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, ebd. 46f.

Siehe auch Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 124-126:

«Das klösterliche Training ist ohne Eile und Hektik, aufs Praktische und Alltägliche ausgerichtet: fegen, kochen, waschen, bei Tisch auftragen oder am Altar dienen, Bücher lesen, Karteikarten einordnen, den Garten umgraben, an der Schreibmaschine sitzen, Heu machen, Rohre reparieren; aber all das mit jener liebevollen Losgelöstheit, die jeden Ort zum Mittelpunkt des Universums wandelt.

Zu diesem monastischen Bewusstsein des Raums gehört ein entsprechendes monastisches Bewusstsein der Zeit.

‹Die Jahreszeiten und die Gezeiten der Sterne,
Die Zeit des Melkens und die Zeit des Erntens.›

T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, I

Die Zeit des ‹unaufhörlichen Angelusläutens der Glockenboje› an der Küste:

‹Die Glocke zur See misst
Zelt, die nicht unsere Zeit ist, geläutet von dem gemessenen Schwall der Dünung: eine Zeit, weit älter
Als die Zeit, wie Uhren sie deuten, weit älter
Als die Zeit, wie wir sie zählen …›

Und dieser ‹gemessene Schwall der Dünung› wird zum Sinnbild jener Erweiterung der Liebe über das Begehren hinaus, innerlich frei, aber nicht gleichgültig, sondern hellwach und verantwortlich ‒ denn die Zeit, welche von der läutenden Glocke gemessen wird, ist ‹nicht unsere Zeit›. Wir werden gerufen. Wir müssen antworten.

‹Und die Dünung, heut wie von jeher,
läutet
Die Glockenboje.›

T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, I

Die Angelusglocke und der Gong, die Holzklöppel und die Trommel ‒ sie alle geben Zeit an, ‹nicht unsere Zeit›. Das ist der entscheidende Punkt: dass es nicht unsere Zeit ist. Die Mönche stehen auf und gehen zu Bett, arbeiten und feiern ‒ wenn es Zeit dazu ist. Sie ‹halten› sich nur an die Zeit, ohne sie zu ‹bestimmen›.

Beim ersten Glockenschlag hat der Mönch in seiner Tätigkeit innezuhalten, was immer es sei, und sich dem zuzuwenden, wofür es Zeit ist. Das Entscheidende ist das Loslassen. Es ist Befreiung. Durch das Loslassen wird die Zeit, welche ‹nicht unsere Zeit› ist, alle Zeit, unser eigen, weil wir uns ihr hingeben. Wenn wir im Rhythmus des Lebens mitschwingen, sind wir im Einklang mit der Welt, und sie gehört ganz uns.»

[[9]] «We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Through the unknown, remembered gate
When the last of earth left to discover
Is that which was the beginning»

«Wir lassen niemals vom Entdecken
Und am Ende allen Entdeckens
Langen wir, wo wir losliefen, an
Und kennen den Ort zum ersten Mal.
Durchs unbekannte, erinnerte Tor
Wenn der letzte unentdeckte Flecken
Der ist, der am Anfang war.»

T. S. Eliot: Four Quartets: Little Gidding, V, in der Übersetzung von Norbert Hummelt, ebd. 80f.

Siehe auch Stillehalten mit dem Text in Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 114f.; bzw. Fülle und Nichts (2015), 114f.:

«Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.»

In Die Achtsamkeit des Herzens: Spiegel des Herzens (2021), 127-129:

«Diese Erfahrung des Einklangs mit sich selbst und mit allem, ein Einklang, im Herzen der Welt gefunden, im ruhenden Punkt, diese Erfahrung ist immer Geschenk. Aber es ist eine Sache, spontan im ‹Augenblick des Glücks, … dem Blitz der Erleuchtung› davon überrascht zu werden, und eine ganz andere, sein ganzes Leben auf diesem Ruhepunkt aufzubauen und es auf ihn auszurichten. Dazu brauchen wir die Unterstützung anderer, die dasselbe Ziel verfolgen. (Selbst der Eremit braucht diese Unterstützung, wenn auch weniger offensichtlich.) Klösterliches Alleinsein muss vom Miteinander getragen werden.

Niemand kommt ohne diese Unterstützung aus. Selbst der im Alleingang vorstoßende Entdecker verlässt sich auf das Team, das hinter ihm steht. Bei dieser Entdeckungsfahrt steht viel auf dem Spiel.

Ein Leben der Ehelosigkeit bedeutet:

‹…ausziehen auf unentlohnbare Fahrt,
Auf einen Fischfang, der sich nicht sehen lassen kann.›

T. S. Eliot: Four Quartets: The Dry Salvages, II

Im Ruhepunkt wurzelnd, müssen wir die Gemeinschafts-Dimension der Einsamkeit erforschen, die All-Einheit des Alleinseins.

‹Wir müssen still sein und dennoch vorangehen,
Mit vertiefter Empfindung
Zu neuer Vermählung, tieferer Vereinigung,
Durch kaltes Dunkel, trostlose Verödung.›

‹Wir werden nicht nachlassen in unserem Kundschaften.
Und das Ende unseres Kundschaftens
Wird es sein, am Ausgangspunkt anzukommen,
Und den Ort zum ersten Mal zu erkennen.›

T. S. Eliot: Four Quartets: East Coker, V, und Little Gidding, V

Wir werden ‹erkennen›; aber Erkennen in diesem Sinne ist ‹ein Fischfang, der sich nicht sehen lassen kann›. Es ist eine Art des Wissens jenseits des Zähl- und Messbaren; kein Erkennen der Erkenntnis, aber ein Erfahren von Erkenntnis.»

Audio Das Leid des Lebens zu Herzen nehmen (1992)
Eröffnungsreferat:
(15:08) Hungern nach Weisheit und Sinn – Unruhig ist unser Herz (Augustinus) – Wir lassen niemals vom Entdecken / Und am Ende allen Entdeckens / Langen wir, wo wir losliefen, an / Und kennen den Ort zum ersten Mal. / Durchs unbekannte, erinnerte Tor (T.S. Eliot)

Erstes Kamingespräch (2018)
Übersicht über das Gespräch mit Kurzvortrag von Bruder David
zusammengestellt von Hans Businger

 

Bruder David weist hin auf das Buch des Neurobiologen Gerald Hüther: Würde, der im ersten Teil aufzeigt, wie das Bewusstsein von Würde im Gehirn verankert ist.[1]

(02:12) Psychologisch gesehen entsteht in einem Kind das Gefühl der Würde, wenn zwei Dinge zusammenkommen:

Erstens: Fraglose Zugehörigkeit ‒ ein Bewusstsein, ein Gefühl fragloser Zugehörigkeit ‒ also nicht unter der Bedingung, dass du das und das tust, sondern fraglos.

Das heißt nicht, dass du alles tun kannst, da werden dir Grenzen gesetzt, aber das betrifft nicht dein Dazugehören zur Familie, zur Schulgemeinschaft, zu deinem Freundeskreis.

Der zweite Bestandteil ist: Freiheit, sich zu entfalten, mehr noch: Unterstützung der eigenen Interessen, der eigenen Kreativität: Ich gehöre dazu ‒ fraglos ‒ und ich werde unterstützt in meiner ganz eigenständigen Entfaltung.

Beides muss zusammenkommen, sonst entsteht so etwas wie ein Bienenschwarm oder ein Ameisenhaufen, in dem die Eigenständigkeit fehlt.

Unsere Individualität haben wir ja sehr schwer und mit großen Opfern über die Jahrtausende und Jahrhunderte erkämpft. Dass wir heute in unserer Kultur so eigenständig sein dürfen, ist ein ganz großes Geschenk. Ich habe noch andere Kulturen kennengelernt, wo das einfach nicht gegeben ist, wo persönliche Entscheidungen unhinterfragt nur mit Einwilligung der Familie möglich sind.

Wir haben unsere Eigenständigkeit sehr teuer erkauft, wenn ich an die Jahrtausende mit Unterdrückung und Ausbeutung denke. Jetzt aber sind wir am andern Extrem angelangt, wo wir vereinzelt sind, in Einsamkeit gefangen.

Und darum ist es heutzutage sehr wichtig, sich in einer Gemeinschaft einzubinden, die das Beste, was die Eigenständigkeit beinhaltet, einschließt.

[Siehe auch Bruder David im Gespräch mit Egbert Amman-Ölz: Vom Ich zum Wir: Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021), 2f.]

(06:26) Gerald Hüter weist mit drastischen Beispielen auf den Verlust der Würde in unserer Zivilisation.[2] Schon dass das Wort Würde bei uns sehr selten verwendet wird, ist ja auch schon sehr kennzeichnend.

Vor hundert Jahren war Würde ein Wort, das jeder ständig im Mund gehabt hat. Und damit hängt zusammen: Scham. Also «unwürdig» und «unverschämt» gehören da zusammen. Und wir haben das Gefühl der Scham völlig verloren.

Ein erster Hinweis auf den Verlust der Würde fand Bruder David schon vor über 30 Jahren in einem kurzen Artikel ‒ er vermutet im Time Magazine ‒ mit dem Titel: «Whatever happened to shame?»:

Wenn man früher ein Auto in die Reparatur gegeben hat, war man sicher, dass man es repariert zurückbekommt, oder der Automechaniker sagt einem, ich konnte es nicht reparieren, aber er hätte sich geschämt, irgendetwas anderes zu tun. Heute schämt sich keiner mehr, der Mann verlangt Geld und hat überhaupt nichts gemacht.

Und nicht nur das: Menschen, die schamlos handeln und sich schamlos bereichern auf Kosten der Armen, sind für die jungen Leute Vorbilder.[3]

Wladimir Solowjow, der große russische Denker des späten 19. Jahrhunderts, schrieb: Was uns als Menschen charakterisiert, was uns vom Tier unterscheidet, ist Ehrfurcht vor dem großen Geheimnis, Mitgefühl ‒ mit allen Menschen, Tieren, Pflanzen, mit dem ganzen Universum ‒, und Scham. Scham, unsere Würde nicht zu verletzen.[4]

Mitgefühl ist in aller Munde und Ehrfurcht ist spirituellen Menschen recht verständlich, aber Scham muss heute wieder sehr unterstrichen werden: davon möchte ich von euch etwas hören. Unsere eigene Würde verlangt sehr viel von uns: zum Beispiel, sich für geistliche Begleitung auszubilden, und offensichtlich: die Würde des andern immer im Auge zu behalten in der Haltung: wir gehören zusammen, aber du bist frei.

Die Themen im Gruppengespräch

(10:20) Aussperrung von Flüchtlingen: für Bruder David der offensichtlichste Verstoß gegen die Menschenwürde und zunächst gegen unsere eigene Würde:

Bruder David: Wenn jemand in seinem Haus sitzt und das Haus wohlbestellt ist, und jemand der völlig unbemittelt ist, ans Tor klopft, kann man sich ja kaum vorstellen, dass jemand so unverschämt handelt, dass er einfach die Tür zumacht und fest zuriegelt. Aber dass ein ganzer Erdteil, der wohlbestellt ist, einfach die Türe zuriegelt ‒ unverschämt ‒, und niemand sagt, das ist doch gegen  u n s e- r e  Würde.[5]

Bruder David erwähnt die zahmen Fürbittgebete im Gottesdienst zum Thema Europa, die Proteste des Papstes gegen die Flüchtlingspolitik und den Hungerstreik eines italienischen Bischofs und spricht vom offensichtlichsten Verstoß gegen die Menschenwürde. Und zunächst einmal gegen unsere eigene.

(12:54) Etwas vom Allerwichtigsten im Schulunterricht ist, den Kindern vom Kindergarten an ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde zu vermitteln.

Gerald Hüter sagt, das ganze Schulsystem ist so eingerichtet, dass es gegen die Würde der Kinder verstößt. Die Kinder werden als Gegenstände betrachtet, aus denen man jetzt etwas machen muss.[6]

Also man müsste schon einmal bei den Lehrern anfangen und ihnen wieder ein Bewusstsein der Würde geben. Dann geht es auch zu den Kindern. Vor hundert Jahren waren die Lehrer arm und nicht so gebildet wie heute, aber sehr geachtet als Lehrer.

Andreas Salcher hat Schulen und Erziehungssysteme der ganzen Welt untersucht, um herauszufinden, was ein gutes Schulsystem auszeichnet, und was fehlt, wenn es schlecht ist. Er kommt zum Schluss, dass es notwendig ist, die Würde der Lehrer zu heben durch eine strenge Auswahl, eine sehr gute Ausbildung und eine gute Bezahlung.

[Siehe auch Andreas Salcher im Gespräch mit Bruder David (2021) und die Übersicht über die Themen des Gesprächs]

(14:41) Weitere Themen: Das Spannungsfeld, das die Lehrer zermürbt. / Bei sich selber anfangen und nicht auf Systemänderungen warten. / Der Zerfall von Gemeinschaft und unsere Vereinzelung.

Bruder David vergleicht unsere Situation mit den Familienbanden in Argentinien und erwähnt eine Studie in Bhutan mit der Rundfrage: Wenn sie in eine Notsituation kommen, auf wie viele Menschen können sie zählen?

In Bhutan haben die meisten Leute gesagt: Unzählige, ich kann auf jeden zählen. Und ähnlich in Argentinien: Die Familien versuchen nicht weit auseinander zu wohnen, sie treffen sich jeden Sonntag zum gemeinsamen Essen; manchmal kommen alle, manchmal nur ein Teil der erwachsenen Kinder und deren Kinder. Mein Cousin trifft sich jeden Donnerstag mit seiner Volksschulklasse und ist fast so alt wie ich.

Ist der Zerfall von Gemeinschaften eine Folge des Wohlstands?

Bruder David: Ich glaube, da ist etwas anderes dahinter: einfach ein stärkeres Gemeinschaftsbewusstsein, andere Werte. In manchen Gesellschaften wird dieses Gemeinschaftsleben als sehr hohen Wert angesehen und bei uns weniger. Wenn man fragt: Was ist dir im Leben wichtig, werden sicher viele Leute auch sagen: Gemeinschaft oder Familie. Aber viele werden sagen: Im Beruf vorankommen …

Eltern haben Angst um die Zukunft ihrer Kinder und sind dankbar für jedes Angebot, das in den Schulen und auch in den Kindergärten gemacht wird, um die Kinder möglichst schnell erfolgreich zu machen, und da werden die Kinder auch verzweckt.

Bruder David: Was heißt schon erfolgreich? Wir müssen uns fragen, was heißt Erfolg? Was ist ein erfolgreiches Leben?

(21:45) Bruder David im Gespräch mit der Gruppe: Wie fühlt sich das an, wenn man sich seiner Würde bewusst ist?

Wenn ich mir meiner Würde bewusst bin, dann lasse ich nicht alles mit mir machen und mache nicht alles mit.[7]

Bruder David: Und woher nehme ich den Maßstab, was ich mitmache und was ich nicht mitmache?

Das ist eine Frage des Gewissens.

Bruder David: Beim Thema Würde kommt sehr viel das Gewissen herein. Aber das ist halt auch ein sehr vager Begriff geworden.

Eine Teilnehmerin spricht von einem Gefühl, das uns sagt, was für uns stimmig ist: Was ist für mich das Richtige? ‒ was fühle ich? Und dann, was ich spüre, nicht anzweifle, mich nicht beeinflussen lasse, vielleicht von dem Gewissen, das anerzogen worden ist, sondern wirklich auf mein Inneres höre und versuche, zu mir zu stehen.[8]

Iwan Hofer: Wir verzwecken alles.

[Dazu ergänzend in Muße:

«Gar zu leicht neigen wir zu der Vorstellung, dass Gott diese Welt aus einem bestimmten Zweck erschuf. Wir sind dermaßen im Zweckdenken verfangen, dass wir uns sogar Gott als zweckgebunden vorstellen. Gott aber spielt. Die Vögel eines einzigen Baumes sind Beweis genug, dass Gott sich nicht mit einer göttlichen No-Nonsense-Haltung daran machte, eine Kreatur zu schaffen, die auf perfekte Weise den Zweck eines Vogels erfüllt. Was könnte dieser Zweck auch sein, frage ich mich. Es gibt Kohlmeisen, Schneefinken und Amseln, Spechte, Rotkehlchen, Stare und Krähen. Der einzige Vogel, den Gott nie geschaffen hat, ist der No-Nonsense-Vogel.»]

Iwan weist auf übertriebene Vorsicht und unnötige Verbote in seiner Schule hin.

(25:02) Bruder David: Wir sind von Furcht beherrscht ‒ die Eltern sind heutzutage so furchtsam ‒, das schadet der Würde, und das andere: Die Kinder sind ja so verschieden, und unsere Verschiedenheit, unsere Einzigartigkeit zu erkennen, das gehört auch, glaube ich, zu unserer Würde dazu.

Und ich glaube, es gehört auch dazu zu wissen, dass man einen Beitrag leistet. Aus heutiger Sicht wurden Hausangestellte und Knechte und Mägde in einem Dorf regelrecht ausgebeutet, aber sehr häufig haben sie eine echte Würde gelebt aus dem Bewusstsein heraus: ich leiste meinen Teil. Es war ganz klar, was man als Herr oder als Frau So und So macht, und das war eine Lebensaufgabe, und die zu erkennen und freudig anzunehmen gehört zur Würde dazu, und das hängt nicht davon ab, ob ‒ objektiv betrachtet ‒, man gewürdigt wird. Darum sagt Gerald Hüter auch richtig: Wer Würde hat, das kann einem niemand nehmen.[9]

(27:18) Teilnehmerin: Für mich gehört zur Würde, dass wir auf einer Ebene sind in dem, was wir gut können ‒ unabhängig von unserer Stellung in der Gesellschaft ‒, dass nicht einer darüber steht.

Bruder David: Wichtig ist, einen Maßstab zu haben für das, was man macht: es muss gut sein. Ich weiß, dass ich’s auch schlampig machen könnte, Schlamperei ist würdelos. Auf Augenhöhe zu sein miteinander, das gehört eigentlich dazu. Der andere macht’s auf andere Weise gut; ob der jetzt ein Arzt ist und ich ein Straßenkehrer: wenn ich Würde habe, bin ich auf Augenhöhe, weil wir eben beide nur versuchen, unser Leben gut zu gestalten.

Iwan: Die Würde darf nicht davon abhängen, was einer kann. Würde muss einen unverfügbaren Grund haben und der verschwindet in unserer Gesellschaft.

Bruder David: Da kommt die Menschenwürde herein: einfach Mensch zu sein, das gibt uns die Würde.[10]

(28:56) Eine Teilnehmerin sieht in den Stufen der Demut in RB 7 einen Weg, die eigene Würde zu entdecken, die unabhängig ist von Leistung und Ansehen und uns von Furcht befreit.

[Siehe dazu Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011, das Audio Vertiefungsseminar mit den 12 Stufen (1-12) der Demut in der Regel des hl. Benedikt (RB 7) ab (34:17).]

Freiheit liegt nicht nur darin, dass wir unsere Talente entfalten können, sondern, dass wir uns auch befreien von unseren eigenen Begrenzungen.

Ein Teilnehmer mit Blick auf das Biophilie-Konzept von Erich Fromm: Würde will leben mehren im Gegensatz zu unserer Gesellschaft, die den Tod verdrängt.

Gerald Hüther sagt: Wir alle wollen mit Würde sterben. Sollten wir nicht vielleicht versuchen, zunächst einmal mit Würde zu leben?[11]

(31:26) Bruder David fasst zusammen: Die Würde darf nicht abhängen davon, ob ich etwas kann oder nicht. Sondern nur davon, ob ich das, was ich kann, wirklich so gut mache, wie ich kann.

Sich dessen bewusst sein, wieviel mir geschenkt ist: da hängt dankbar leben mit Würde zusammen. Und das heißt nicht, dass dies nur denen leichtfällt, denen alles geschenkt wird: jedem Menschen, auch dem Ärmsten und Verstossensten wird immer noch so viel geschenkt, wenn man es von innen her betrachtet, und das kann die Würde ausmachen, auch wenn man sehr vernachlässigt ist.

Iwan spricht vom Raum für Kreativität (Beispiel Waldkindergärten) und föderalen Strukturen im Sinne des Subsidiaritätsprinzips.

[Ergänzend in Dankbarkeit ist ein Erfolgsprinzip (2018): Interview von Antje Luz mit Bruder David:

«Was besagt das Prinzip der Subsidiarität?

Jede Entscheidung soll auf der niedrigsten Ebene getroffen werden, die dazu fähig ist. Also eine Strukturierung der Organisation von unten nach oben. Das erlaubt Selbstbestimmung und war wirklich ein ganz wichtiger Impuls, den Papst Leo XIII. da gesetzt hat. Die Tragik ist, dass es weder in der Kirche noch in der Gesellschaft richtig aufgegriffen wurde. Also wenn die Kirche das seit 1891, seit über hundert Jahren, verwirklicht hätte, dann wären wir in der Entwicklung weit voraus.»]

(35:56) Wir hören Beispiele zu Verantwortung und Freiheit / in Würde Sterben / Verlust der Würde aus Mangel an Bewusstsein, wieso ich lebe und arbeite.

Bruder David: Ein gutes Beispiel geben: Vielleicht ist es, was Würde betrifft überhaupt das einzige, das man machen kann: Seine eigene Würde leben, den anderen würdigen, und das kann sich verbreiten.

(41:14) Josef beendet das Gespräch mit Worten von Bruder Thomas:

«Unsere Hände zu einer Schale formen und uns bewusst machen, dass wir eine Aufgabe haben, dass vieles Hingabe ist, dass alles geschenkt ist und alles der Vergänglichkeit unterworfen ist.»

_________________________

[1] Gerald Hüther nennt Würde in seinem Buch Würde einen inneren Kompass, etwas, das in uns wach wird und von innen heraus kräftiger und verhaltensbestimmender wirkt als die von außen auf uns einstürmenden Verlockungen, Angebote und scheinbaren Notwendigkeiten:

«Aus neurobiologischer Sicht handelt es sich dabei um ein inneres Bild, also um ein in dieser Situation aktiv werdendes neuronales Verschaltungsmuster, das sehr eng an die Vorstellungen der eigenen Identität gekoppelt und damit zwangsläufig auch sehr stark mit emotionalen Netzwerken verknüpft ist. Es geht dabei um eine innere Vorstellung davon, was für ein Mensch jemand sein will. Für diese Orientierung bietende, vor jeder Art von Durcheinander im Hirn schützende und deshalb den Energieverbrauch dauerhaft reduzierende Vorstellung gibt es im Deutschen einen wunderbaren, wenngleich fast schon vergessenen Namen: Würde.» (19f.)

«… Und dabei bin ich auf diesen inneren Kompass gestoßen, der uns dabei hilft, nicht nur so zu handeln, dass andere dadurch nicht verletzt werden, sondern wir uns dabei nicht selbst verletzten: unsere Würde.» (44)

«Wer die Vorstellung von einem würdevollen Leben in sein Bewusstsein gehoben hat, kann nicht mehr anders als würdevoll leben.» (45)

«In unserer eigenen Beschaffenheit, oder präziser: in der inneren Organisation muss es also eine Besonderheit geben, die es nicht nur möglich, sondern irgendwann sogar zwingend erforderlich macht, dass wir als Menschen eine Vorstellung unserer eigenen Würde entwickeln … Sie hat etwas mit der enormen Offenheit und der sich daraus ergebenden lebenslangen Formbarkeit des menschlichen Gehirns zu tun.» (68)

[2] Ebd. ausführlich im zweiten Kapitel des Buches: ‹Geht es noch würdeloser?› (23-45)

[3] «In unserer heutigen globalisierten und digitalisierten Welt kann jeder, der sich lautstark genug bemerkbar macht und eine clevere Idee hat, um andere auszutricksen und über den Tisch zu ziehen, zu Ansehen, Macht und Einfluss gelangen. Und diejenigen, die damit besonders erfolgreich sind, werden dafür auch noch bewundert und erlangen eine unwürdige Vorbildfunktion, insbesondere für Heranwachsende, die noch gar keine Gelegenheit hatten, ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde herauszubilden.» (159f.)

[4] Siehe Jean-Claude Wolf: Humanismus oder warum wir keine Tiere sind: Überlegungen im Ausgang von Wladimir Solowjew

[5] Siehe das Leitwort in Gerald Hüthers Buch Würde, 5:

«Verletzt nicht jeder, der die Würde eines anderen Menschen verletzt, in Wirklichkeit seine eigene Würde?»

[6] Ebd.: «Aber auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wir feststellen: Viel zu viele Schulen sind noch immer militärisch organisiert. Sie sind Dressurstätten und dienen der Selektion. Schüler haben sich zu fügen, haben zu gehorchen, es geht hier nicht um ihren Willen. Andere über ihnen haben beschlossen, was sie wann zu lernen haben und in welcher Reihenfolge. Aus einem der schönsten Wörter der deutschen Sprache ist eine Pflicht geworden: Lernen.

Das, was jeder Mensch aus sich heraus gerne tut, sich und die Welt zu begreifen, Fragen zu stellen und wirklich nach einer Antwort zu suchen, hat hier wenig Bedeutung.» (41)

«Vielleicht beginnen Sie jetzt zu ahnen, was mich beim Anschauen der beiden Dokumentarfilme [des österreichischen Filmemacher Erwin Wagenhofer: ‹Lets make money› und ‹We feed the world›] so betroffen gemacht hat. Mir wurde damals schlagartig klar, dass unser Bildungssystem gar nicht darauf ausgerichtet ist, Heranwachsenden dabei zu helfen, ihr Empfinden für das zu stärken, was ihre Würde ausmacht, geschweige denn eine eigene Vorstellung oder gar ein Bewusstsein ihrer Würde zu entwickeln. Noch weitaus irritierender war für mich die sich daraus zwangsläufig ergebende Frage, ob es die für Kitas, Schulen, Berufsschulen und Hochschulen Verantwortlichen überhaupt wichtig finden, Heranwachsenden dabei zu helfen, sich ihrer Würde bewusst zu werden. War das jemals ihr Anliegen? Hat das ihre Herzen bewegt? Weshalb haben sie sich dann nicht auch darum gekümmert? Das hieße ja, dass sie selbst sich ihrer eigenen Würde noch gar nicht bewusst geworden sind. Sonst hätten sie andere Vorschriften erlassen, andere Lehrpläne entwickelt und andere Bedingungen in den Bildungseinrichtungen geschaffen.» (154)

«Noch etwas zynischer formuliert: Heranwachsende können unter diesen Bedingungen nur genauso würdelos werden wie diejenigen, die maßgeblich für das sind, was in diesen Bildungseinrichtungen geschieht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie später, als Erwachsene, den so entstandenen Mangel eines Bewusstseins ihrer Würde in ihrem Denken und Handeln zum Ausdruck bringen, auch dann, wenn sie ihre Ausbildung mit Bestnoten abgeschlossen haben und in Führungspositionen gelandet sind.» (156)

[7] Ebd.: «Die Kernthese dieses Buches lautet: Wer sich seiner eigenen Würde bewusst wird, ist nicht mehr verführbar.» (21)

«Ein Mensch, der sich seiner Würde bewusst geworden ist, braucht weder den Erfolg beim Kampf um begrenzte Ressourcen noch irgendwelche Ersatzbefriedigungen, die ihm von Werbestrategen angeboten werden. Eine solche Person leidet nicht an einem Mangel an Bedeutsamkeit. Sie ist sich ihrer Bedeutung bewusst. Deshalb ist sie nicht mehr verführbar. Weder hat sie einen Gewinn davon noch ein Interesse daran, andere Personen zu Objekten ihrer Absichten und Erwartungen, ihrer Ziele und Maßnahmen oder gar ihrer Verführungskünste und Versprechungen zu machen.

Weil sie sich ihrer eigenen Würde bewusst ist, kann sie die Würde anderer Menschen nicht verletzen. Das wäre unter ihrer Würde.» (130)

«Beispielsweise sind Menschen, die sich ihrer Würde bewusst werden, nicht mehr verführbar. Sie verfügen dann ja über einen inneren Kompass, der ihr Denken und Handeln leitet, und sie passen auf, dass er ihnen nicht abhandenkommt. Solche Personen lassen sich von niemandem einreden, dass sie dies oder das noch brauchen, um glücklich zu sein. Plakate, Werbespots, Ratgeber und Angebote für ein besseres Leben empfinden sie als unwürdige Versuche, sie so zu behandeln, als könnten sie nicht selbst denken und eigene Entscheidungen treffen.» (174)

[8] Ebd. der Schluss des zweiten Kapitels: ‹Geht es noch würdeloser?›:

«Was also müsste einem Menschen widerfahren, der dabei ist, die Vielfalt des Lebens auf dieser Erde zu zerstören oder das im Lebendigen, also auch in jedem Menschen angelegte Entwicklungspotential zu unterdrücken? Er müsste Gelegenheit bekommen, sich zu fragen, ob das, was er tut und wie er lebt, dem entspricht, was er als seine Würde betrachtet. Nicht auf der Ebene ihres Denkens und Handelns müsste sich eine solche Person in Frage gestellt sehen, sondern auf der Ebene ihres Fühlens. Wenn das eigene Handeln in einen Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis gerät, kommt es zu einer inneren Berührung. Nur so kann ihr die Würdelosigkeit ihres Handelns bewusst werden. Wer die Vorstellung von einem würdevollen Leben in sein Bewusstsein gehoben hat, kann nicht mehr anders als würdevoll leben.» (44f.)

[9] Ebd.: «Ich wusste», sagt der Auschwitz-Überlebende Jehuda Bacon, «man kann mich zu Asche machen. Aber ich wusste auch, dass es etwas in mir gibt, das nicht sterben kann» (58)

«Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.» (Grundgesetz Art. 1) (62)

«Wenn also jemand, der sich seiner eigenen Würde bewusst ist, durch das würdelose Verhalten anderer Personen in seiner eigenen Würde gar nicht mehr verletzt werden kann, so ergibt sich daraus eine sehr bemerkenswerte Schlussfolgerung: Seine Würde als Mensch kann man nur selbst verletzen. Oder wie es im ersten Artikel des Grundgesetzes formuliert ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber, so wäre nun noch zu ergänzen, diese Aussage gilt nur für alle jene Menschen, die sich ihrer eigenen Würde auch bewusst geworden sind.» (141)

«Die Vorstellung von der Würde, die jeder Mensch besitzt, ist die entscheidende Voraussetzung jeder demokratischen Gesellschaft.» (65)

[10] WÜRDE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 164f.:

«‹Würde› ist mit dem Wort ‹Wert› wurzelverwandt. Dingen, die nur vereinzelt vorkommen, messen wir Seltenheitswert bei. Wer erkennt, dass jedes Ding, jedes Lebewesen, jedes Ereignis nicht nur selten, sondern einzigartig ist, wird sich der Würde bewusst, die allem, was es gibt, zukommt und wird ehrfürchtig durch das Leben gehen. Auch jedem Menschen steht diese Grundwürde zu. Wer dies erst einmal entdeckt, wird sich seiner eigenen Würde bewusst und weiß, dass sie nicht von der Anerkennung anderer abhängt. Ein solcher Mensch hat Rückgrat, geht aufrecht und weiß, was unter seiner Würde ist.»

[11] Ebd. die Überschrift des letzten Kapitels: ‹Wie wäre es, in Würde zu leben, bevor wir in Würde sterben?› (179)

Credo (2010)
Vortrag Freiburg von Bruder David,
zusammengestellt von Hans Businger

(05:39) «Herzlichen Dank! Ich freu mich wieder in Freiburg zu sein, ich bin sehr dankbar der Gemeinde der Ludwigskirche, der katholischen Akademie und Herrn Dr. Schwab[1] und auch dem Herder Verlag, auch für die Ausstattung des Buches, für die ich sehr dankbar bin.

Zunächst hätte ich auch gedacht, dass ich vielleicht gleich beginnen könnte, über das Buch selbst zu sprechen und über die einzelnen Teile des Buches: Je mehr ich aber darüber nachgedacht habe, um so klarer ist mir geworden, dass wir eigentlich damit auf das Gespräch nach dem Vortrag warten müssen, denn wir müssen zuerst darüber klar sein, was eigentlich ein Glaube ist, der alle verbindet. Und wenn wir uns darüber einmal klar sind, dann können wir auch die verschiedenen Glaubenssätze des Credo [Leseprobe S. 16f..] oder irgend eines anderen Textes nehmen und verstehen. Aber das kann man nicht voraussetzen.

Und so möchte ich zunächst einmal über die Voraussetzungen sprechen, das heißt:

‹Was meinen wir mit einem Glauben, der alle verbindet›?

Das können wir wieder in drei Fragen unterteilen:

‹Was meinen wir, wenn wir vom Glauben sprechen›?

‹Wen meinen wir, wenn wir sagen:  a l l e , die der Glaube verbindet›?

‹Und was können wir tun, um diese gläubige Verbundenheit in uns selbst
zu nähren und überhaupt erst zu finden›?

Wenn wir diese drei Fragen beantworten können, dann wird es uns sehr leichtfallen, Glaubenssätze, auch Glaubenssätze, die uns sonst schwierig und unzugänglich erscheinen, viel besser zu verstehen und, wie gesagt, das möchte ich dann, wenn es Sie interessiert, im Gespräch mit Ihnen versuchen, denn Sie können ja dann ihre Lieblingsglaubenssätze oder die, mit denen Sie die meisten Schwierigkeiten haben, ins Gespräch bringen.

Ich muss Sie also bitten, mitzudenken, aber mehr als mitzudenken: Ich möchte Ihnen hier nicht etwas vorsetzen, sondern es ist mehr eine Einladung zum Mitdenken und darüber hinaus zum Mitnachdenken. Und was wir nachdenken wollen, ist unter anderem die Sprache: Heidegger hat den schönen Ausdruck geprägt:

‹Der Sprache nachdenken›:

So wie man einem Weg nachgeht, so kann man der Sprache nachdenken. Und wir wollen hier unter anderem auch der Sprache nachdenken, vor allem aber Ihrem eigenen Erleben nachdenken: Es kommt alles darauf an, dass wir genügend in Verbundenheit stehen hier heute Abend, dass das, was ich sage, Sie anregt, Ihrem eigenen Erleben, Ihrer eigenen Erfahrung nachzudenken und sich von Ihrer eigenen Erfahrung lenken zu lassen.

Was ich sage, entspringt meiner eigenen Erfahrung, wird aber für Sie erst dann wahr, wenn es auch Ihrer Erfahrung entspricht. Und wenn es Ihrer Erfahrung nicht entspricht, dann haben wir eben im Gespräch Gelegenheit für Sie zu sagen, da hat irgendetwas nicht gestimmt: Entweder habe ich mich dann nicht gut ausgedrückt oder unsere Erfahrungen sind sehr verschieden. Ich hoffe aber, dass ich auf so ganz grundlegende Erfahrungen zu sprechen kommen kann, von denen man voraussetzen darf, dass Sie bei allen Menschen, soweit man verallgemeinern darf, ein Echo finden.

(09:46) Wenn wir also mit der Frage beginnen:

‹Was verstehen wir unter Glauben›? ‒

und ich mich an Ihre eigene Erfahrung dabei wende, dann müssen wir zunächst die Unterscheidung treffen, zwischen Glauben und Für-wahr-halten.

Im alltäglichen Gebrauch des Wortes ‹glauben› machen wir diese Unterscheidung nicht. Jemand fragt: ‹Wird es morgen regnen›? Und jemand anders sagt: ‹Ich glaube›. Das ist nicht das ‹Ich glaube›, das man im Credo ausspricht oder in der Kirche, das ist etwas ganz anderes, das ist ein ‹Für-wahr-halten›: Es kann stimmen, es kann nicht stimmen:

Das Wort ‹Ich glaube› im Credo kommt von dem lateinischen Wort, das aus zwei Wurzeln zusammengesetzt ist: ‹Cor›‹das Herz› und ‹do› / ‹dare›‹ich gebe›: Ich gebe mein Herz, ich setze mein Herz auf etwas, ich spreche hier von etwas, auf das ich mich so tief verlasse, dass ich mein ganzes Herz darauf setze, das heißt ‹Credo›.

Der christliche, der religiöse Glaube, um den es hier geht, ist also nicht ein ‹Für-wahr-halten› im intellektuellen Sinn, sondern alle unsere intellektuellen Kräfte fließen auch darin ein, aber es geht um weit mehr, es geht um ein ‹Sich verpflichten›, ein ‹Sich so hingeben› daran, dass man sich für etwas verpflichtet, was daraus entspringt:

Wenn ich mein Herz auf etwas setze,
dann verpflichte ich mich auch,
etwas zu tun und danach zu handeln,

es geht also um weit mehr.

(11:53) Und wie erleben wir also jetzt am tiefsten, ursprünglichsten dieses ‹glauben›, dieses ‹sich-verlassen›, dieses ganzheitliche Vertrauen, dieses ‹sein Herz auf etwas setzen›? Wie erleben wir das im Leben?

Und jetzt gehe ich eben weit vom Credo weg auf unser allgemein menschliches Erleben, und jemand, der noch nie vom Christentum etwas gehört hat, müsste auch hier jetzt mitkommen: Das ist der Grundsatz, denn das Buch ist ja aus dem interreligiösen Gespräch entstanden und aus meiner Erfahrung, dass wir im interreligiösen Gespräch meistens sehr harmlose Texte heranziehen, mit denen jeder irgendwie übereinstimmen kann, aber man scheut sich, sehr spezifisch christliche Texte mit Buddhisten zu besprechen, weil man glaubt, die können das ja nicht verstehen, und die Buddhisten haben die gleiche Scheu, ihre ganz spezifisch buddhistischen Texte mit uns zu teilen, weil Sie immer glauben, wir verstehen das ja sowieso nicht. Das kann auf einer gewissen Ebene sogar stimmen.

Wenn wir aber wirklich auf ein interreligiöses Gespräch eingehen wollen, dann müssen wir den Glauben finden, der alle verbindet, der uns mit unserem Gesprächspartner verbindet. Und da müssen wir tiefer gehen, da müssen wir auf diesen existenziellen Glauben gehen, der sich dann in den Glaubenssätzen ausdrückt und in verschiedenen Glaubensgemeinschaften ganz verschieden ausdrückt.

Die buddhistische Lehre und Tradition ist in einer ganz andern Welt entstanden als die christliche, und ich nehme jetzt nur zum Beispiel diese beiden Traditionen: Die buddhistische ist in einer ganz andern Welt entstanden, zu einer ganz andern Zeit, in einer ganz andern Kultur, und hat sich auch im Lauf der Jahrhunderte ganz anders weiterentwickelt als die christliche. Daher darf man nicht erwarten, dass die Glaubenssätze einander ähneln.

(14:14) Aber, was jeder Glaubenstradition zu Grunde liegt, ist dieser menschliche Urglaube, ist dieses ‹uns verlassen›, ist dieses ‹unser Herz schenken›.

Und das ist jetzt eben meine These:

‹Wenn wir tief genug in irgendeinen Glaubenssatz
von irgendeiner Tradition eindringen
‒ in unsere eigene, da ist es am leichtesten ‒,
dann kommen wir schließlich zu diesem tiefen Glauben,
der uns alle verbindet›
:

Das ist die grundlegende These und die wollen wir jetzt gemeinsam erarbeiten und der wollen wir gemeinsam nachspüren auf Ihrem eigenen Erleben beruhend.

Darum müssen wir mit der Frage beginnen:

‹Was sind die großen Fragen im Leben,
die unsere Gläubigkeit herausfordern›?
[2]

Und da würde ich für heute Abend nur drei vorschlagen, und die erste ist:

‹Was ist denn der tiefste Grund von allem›?

Wer hat sich das nicht schon einmal gefragt. Besonders Kinder fragen das: Wir müssen oft weit zurückgehen, wir haben das schon längst vergessen, solche Fragen zu stellen, aber Kinder sind tiefe Philosophen und als Kinder haben wir uns meist auch schon diese Frage gestellt:

‹Warum gibt es denn überhaupt etwas und nicht nichts?
Warum ist nicht nichts? Warum ist etwas›?

Solche Fragen ‒ also: ‹Was ist der tiefste Grund von allem›? ‒, das ist eine dieser Fragen. Und ich glaube, dass das eine Frage ist, die Sie sich auch schon selber gestellt haben. Und wenn Sie sich diese Frage nicht so ausdrücklich gestellt haben, so steht sie doch weit hinter vielem in unserm Erleben dahinter ‒ weitgehend ‒, und es ist nicht umsonst, uns diese Frage ausdrücklich zu stellen.

Eine andere Frage, die auch so eine ganz grundlegende ist, ist:

‹Wer bin ich›?

Ja, wenn wir fragen: ‹Wer bin ich›? … Versuchen Sie es einmal. Sagen Sie schnell in ihrer Vorstellung jemandem ‒ sagen Sie mir, nur in ihrer Vorstellung ‒, wer Sie sind.

Auf eines kann man sich dabei immer verlassen: Alle diese Antworten haben eines gemeinsam: Sie drücken eine Beziehung aus, Sie drücken irgendeine Zugehörigkeit aus: Entweder zu einer Familie, zu einem andern Menschen, zu einem Land, zu einer Sprache, zu einer Berufsklasse, Sie drücken immer eine Zugehörigkeit aus. Wir antworten auf die Frage ‹Wer bin ich›? mit einer gewissen Zugehörigkeit. Jedenfalls ist das auch eine der ganz tiefen Fragen, auf die ich gleich zu sprechen kommen möchte.

Und die dritte ist:

‹Worum geht es eigentlich im Leben›?

Ich habe einmal einen gezeichneten Witz gesehen: Da sitzt jemand auf einem kleinen Planeten Erde im Weltall und rundherum sind alle die andern Planeten, und er sagt:

‹I want to know what this whole show
is all about, before it’s out.›

‹Ich möchte wissen, worum es sich bei dieser Show
handelt, bevor sie zu Ende ist.›

Piet Hein (1905-1996)[3]

Das fragen wir uns auch. Wir wollen das auch wissen. Das ist auch eine dieser großen Fragen.

(18:06) Wie kommen wir zu einer Antwort? Nur indem wir uns verlassen, nur indem wir uns auf etwas verlassen. Und das ist das Entscheidende:

Nur durch Gläubigkeit kommen wir zu irgendeiner Antwort
auf diese großen Fragen.

Zunächst:

‹Was ist der tiefste Grund von allem›?

Wir wissen nicht, woher wir kommen ‒ wir wissen es bis zu einem gewissen Grad, und wenn wir ganz weit zurückgehen wollen, wissen wir es vielleicht bis zum Urknall, aber dann vorher auch nicht mehr: Besonders weil es gar kein vorher gibt, wird das sehr problematisch.

Wir wissen nicht, wohin wir gehen. Im Glauben haben manche Menschen eine tiefe gläubige Überzeugung, wohin Sie gehen, und können das sogar in einem Glaubenssatz ausdrücken, und ein Christ wird es in einer andern Weise ausdrücken als ein Buddhist oder ein Hindu ‒ da gibt es ganz verschiedene Ausdrucksweisen dafür ‒, aber letztlich, was immer wir dazu sagen in einem Glaubenssatz, ist

Ausdruck dieser tiefsten Gläubigkeit,
dass wir vertrauen, dass dieser Urgrund
‒ dieser völlig unergründliche Abgrund ‒,
dass wir uns irgendwie auf den verlassen können,
dass darin irgendwie eine Verlässlichkeit liegt.
[4]

Und da sehen Sie schon, dass das ein Akt ist.

Der Glaube ist ein Akt, er ist etwas, was Sie tun müssen.

Sie können diesen Glaubensakt verweigern. Sie können einfach verweigern zu sagen, dass irgendetwas Sinn hat.

Wenn Sie sich aber darauf verlassen, dass dieser Urgrund, diese Unergründlichkeit, aus der wir stammen, auf die wir zugehen, und die ständig unter allem liegt, dass die Sinn hat ‒, wenn wir uns darauf verlassen, dann finden wir Sinn.[5]

Wenn wir uns nicht darauf verlassen, dann können wir nicht Sinn finden. Das heißt nicht, dass es zwingend ist, sich darauf zu verlassen. Aber wenn wir ein sinnvolles Leben leben wollen, müssen wir uns irgendwie darauf verlassen, uns verlassen; und das ist auch so schön wieder in der Sprache ausgedrückt:

Wir müssen uns verlassen auf etwas hin in diesem Vertrauen.

(21:04) Darüber wird noch mehr zu sprechen sein, aber ich möchte zur nächsten Frage übergehen:

‹Wer bin ich›?

Und da finden wir uns jetzt als einen Teil der unbegreiflichen Vielfalt von Dingen, die ebenso unbegreiflich ist: Wir können sie nicht greifen, denn sie ist viel zu viel ‒ sie ist ebenso unbegreiflich wie dieser Urgrund, aus dem wir stammen ‒, unbegreifliche Vielfalt und wir sind ein Teil davon:

Es gibt mich.

Wir finden uns hier vor: Es gibt mich. Wenn wir das einmal wirklich durchdenken, wirklich nachdenken über diesen einen kleinen Satz ‹Es gibt mich› ‒ unzweifelhaft:

Was ist dieses ES, das mich gibt?

Ich finde mich vor und ES gibt mich. Und ES gibt mich jeden Augenblick. Und ES gibt mich jeden Augenblick neu.

Und dieses ES ist dieser unerschöpfliche Urgrund,
aus dem jeden Augenblick die unbegreifliche Vielfalt aller Dinge hervorquillt.

Und auch darauf muss ich mich irgendwie verlassen, denn ES gibt mich. Damit muss ich mich irgendwie abfinden.

Der Glaube, der dem unergründlichen Ursprung entspringt,
ist das Sich-verlassen auf die Verlässlichkeit von allem, was es gibt.
[6]

Dass ES mich gibt, das Erlebnis dieser unbegreiflichen Vielfalt, ist erfassbar im

Glauben als eine ehrfürchtige Begegnung mit dem letzten Du.
Und dieses letzte Du kann dieser Grund sein,
aus dem ich stamme, aus dem ich komme.
Ich kann mich an diesen Grund wenden im Vertrauen.

Dass ES mich gibt, bedeutet, dass ich mich an dieses ES wenden kann, das mich ständig gibt. Ich kann eine persönliche Beziehung haben zu diesem ES, das mich gibt.

Das ist ganz besonders eine christliche Betonung, aber es ist eine Urerfahrung des Menschen, die aber im Christentum ganz besonders stark betont und herausgestellt wurde. Es ist sozusagen einer der ganz großen Beiträge der christlichen Tradition zu diesem menschlichen Urglauben.[7]

Dass es diesen unerschöpflichen Urgrund gibt, dass es diese Vielfalt gibt, das ist unzweifelhaft. Und dass ich mich verlassen kann auf diesen Urgrund, das ist auch noch Glaubensgegebenheit; dass ich aber eine persönliche Beziehung haben kann mit diesem Urgrund, das ist christlich.

Das ist nicht ausschließlich christlich, aber das ist durch Jesus Christus eingeführt worden, der sich an diesen Urgrund wendet und ihn persönlich Vater nennt: Abba sogar, mit einer sehr warmen, persönlichen Beziehung.[8]

Gerade, weil es so ein warmes, persönliches Wort ist, würden wir heute ‒ eben auch wieder kulturell bestimmt ‒ Mutter sagen: ‹mütterlich›.

Dieser Urgrund, dieses Nichts, aus dem alles hervorströmt, kann man als einen mütterlichen Schoß erfahren, einen fruchtbaren Schoß, aus dem alles hervorkommt, und wir können uns liebend an dieses Andere wenden.

Das ES, das mich gibt,
kann erfahren werden im Glauben
als eine mütterliche Wirklichkeit,
an die ich mich wenden kann.

(25:31) Und da sind wir jetzt schon bei dem dritten:

‹Worum geht es letztlich im Leben›?

Um die unerschöpfliche Lebendigkeit. Und die unerschöpfliche Lebendigkeit ist diese dynamische Wirklichkeit.

Wir haben das Nichts, wir haben die Fülle
und wir haben eine dynamische Wirklichkeit,
die die beiden verbindet.
[9]

Und diese dynamische Wirklichkeit drückt sich auch in einer Gläubigkeit aus, und diese Gläubigkeit könnten wir jetzt Dankbarkeit nennen.

Denn ‹ES gibt mich› das ES, die Verlässlichkeit: ich verlasse mich auf dieses ES ‒, das ‹Mich› als einen Teil des Ganzen:

Der Glaube drückt sich hier als Begegnung aus, als ehrfürchtige Begegnung, als Beziehung, Bezogenheit: Ich verstehe mich immer in Bezogenheit auf etwas, in Zugehörigkeit.

Und das Dynamische drückt sich aus als Glaube in Dankbarkeit. Denn wenn ES mich gibt, dann ist die einzige passende Antwort Dankbarkeit.

Ich lebe in einer gegebenen Welt, zu einer gegebenen Zeit, unter gegebenen Umständen,

alles ist gegeben, also ist die einzige passende Antwort Dankbarkeit dafür.

Sehr schwierige Fragen erheben sich da: Kann man wirklich für alles dankbar sein? Meine Antwort ist: Nein. Kann man unter allen Umständen dankbar sein? Die Antwort ist Ja. Das können wir hier im Augenblick nicht ausführen, aber ich bin sehr gerne bereit, das dann mit Ihnen weiter zu besprechen.

Was für uns im Augenblick wichtig ist, ist, dass die Antwort auf ‹Was verstehen wir unter Glauben›? eine dreifache sein kann:

Weil ES mich gibt, können wir sagen:

Unter Glauben können wir verstehen das uns Verlassen
auf die Verlässlichkeit des Urgrundes,

wir können es verstehen als die ehrfürchtige Begegnung
mit allem, was ES gibt,

und als dynamische Dankbarkeit.

Und Dankbarkeit nicht als Danke sagen,
sondern als Danke leben, als Dank werden
:

Die Vögel danken, indem sie singen, und die Blumen, indem sie blühen, und die Menschen, indem sie tun, was immer sie tun. Eine Mutter dadurch, dass sie mütterlich ist für ihre Kinder, und ein Wissenschaftler dadurch, dass er Wissenschaft betreibt, und ein Lehrer dadurch, dass er lehrt, und ein Schuster dadurch, dass er Schuhe macht. Dadurch, was wir tun, zeigen wir unsere Dankbarkeit.

Jedes Ding erweist sich dankbar dadurch, dass es tut, was es ist:
sich selbst verwirklicht.
[10]

Soviel zu der Frage: ‹Was verstehen wir unter Glauben›?

(28:40) ‹Wer sind die Alle,
um die es sich hier handelt›?

Da können wir uns kürzer fassen: Alle, die es gibt. Und alle, die es gibt, sind eben alle, die ‹ES  g i b t ›: Menschen, Tiere, Pflanzen, aber dort müssen wir nicht stehen bleiben, Denkrichtungen, Werte, Religionen: Alles, was es gibt, ist darunter verstanden, das ist alles, wozu wir Beziehung haben, das ist alles, womit uns der Glaube verbindet. Denn

der Glaube ist ja die Antwort darauf, dass  E S  alles gibt.

Und dadurch wird der Glaube auch religiös. Das macht den Glauben religiös im vollen Sinn des Wortes Religion, das von ‹Religio› ‒ ich sage das immer mit Vorsicht, weil die Etymologen nicht sicher sind, das ist jedenfalls nicht die einzige Ableitung des Wortes ‹Religio›, aber es ist die schönste und die passendste, und auch die der Wirklichkeit entsprechende ‒ ‹Religio›, Religion im besten Sinne ist Verbindung von etwas, was zerbrochen und zerrissen war, ein ‹Re-ligare›, ein ‹Wieder-verbinden›.

Dieser Glaube, der uns mit  a l l e n  verbindet,
ist daher der wahrhaft religiöse Glaube.

Religiosität ist aber etwas anderes als die Religionen.

Die Religionen sind kulturelle Formen, in denen sich die Religiosität ausdrückt, und die Religionen sind nicht immer religiös, und sind nicht in allen Teilen religiös.[11] Da muss man dann sehr vorsichtig sein. Wir sprechen hier von Religiosität und wir hoffen und wir bemühen uns darum, wenn wir in einer Religion aufwachsen oder in einer Religion stehen, die Religion auch religiös zu machen. Aber hier sprechen wir von Religiosität, von dem Glauben, der tiefer liegt als die Glaubenssätze und von einer Verbundenheit mit allen, die tiefer liegt als die Verbundenheit sogar mit unsern Glaubensgenossen. Vielleicht gibt es dazu auch noch wichtige Fragen.

(31:12) Und jetzt zur dritten Frage:

‹Wie können wir diese gläubige Verbundenheit in uns selber finden›?
davon haben wir schon gesprochen ‒,
‹und wie können wir sie fördern›?

Aber ich möchte noch einmal einige Punkte geben, die unbedingt nötig sind, damit wir sie finden. Und das erste ist

ein furchtloses Umgehen mit andern.

Denn man sieht immer, dass Menschen, die wirklich eine Verbundenheit mit andern erleben und fühlen, immer die sind, die andern ausgesetzt waren. Und Menschen, die diese Verbundenheit nicht fühlen, sind typisch die, die auch nie andern ausgesetzt waren. Ich habe noch nicht jemanden getroffen, aber ich bin immer offen, dass es diese Möglichkeit gibt, der wirklich andern Ideen, andern Religionen ausgesetzt war, und nicht ein Verständnis für sie aufgebracht hat. Aber ich habe sehr viele Menschen getroffen, bin ihnen schon begegnet, die andern Religionen nicht nur völlig gleichgültig, sondern sogar oft feindlich gegenüberstehen, und noch nie einen Menschen von dieser Religion persönlich kennengelernt haben.

Also, persönlich andere Menschen kennenlernen, ist die erste Grundlage für diese gläubige Verbundenheit, um die es uns geht und um die es der ganzen Welt heute geht. Denn wenn wir die nicht finden, dann gibt es wenig Hoffnung für unsere Zukunft. Wir müssen diese Religionskriege ‒ und viele Kriege sind leider Religionskriege ‒ überwinden lernen.

(33:11) Ein zweiter Punkt, was wir haben müssen, um diese gläubige Verbundenheit zu finden und zu pflegen, ist

ein Verständnis für Dichtung.

Das wird Sie vielleicht überraschen, aber es ist ungeheuer wichtig, denn die wichtigsten Texte aller religiösen Traditionen sind in dichterischer Sprache ausgedrückt, auch unsere eigenen als Christen. Und wir sind uns oft dessen gar nicht bewusst. Und darum fallen wir oft in die Falle und nehmen sie wörtlich. Das wäre so, wie wenn wir ein ganz tiefes Erlebnis haben, dass sich nur in dichterischer Sprache ausdrücken kann, und es dann wörtlich nehmen. Und wenn wir ganz tiefe ‒ nicht nur religiöse ‒, sondern auch tiefe emotionale Erlebnisse haben, drücken wir sie immer ganz spontan dichterisch aus. Jeder Liebende wird sagen: ‹Ich schenke dir mein Herz›. Das hat nichts mit Herzchirurgie zu tun, und das wissen wir, das ist uns völlig offensichtlich. Aber wenn wir zu religiösen Texten kommen, die so etwas ähnliches sagen, dann nehmen wir sie plötzlich wörtlich.

Es ist uns gar nicht bewusst, zum Beispiel im christlichen Bereich: Ich nehme das nur als ein Beispiel hier, weil ich annehmen kann, dass doch die meisten von uns entweder Christen sind oder vertraut sind mit diesen Texten; und es hat wenig damit zu tun: Die Kritiker der Religionen sind ebenso oft Opfer des Wörtlichnehmens von dichterischen Texten wie die Gläubigen selbst.

Christen ist es sehr selten bewusst, dass Vater ‒ das Wort für Gott als Vater ‒ ein dichterisches Wort ist. Das heißt nicht, dass es weniger wahr ist. Es heißt nur, dass es viel mehr wahr ist als wir es anerkennen können, wenn wir es wörtlich nehmen. Oder, dass der Sohn, unsere Sohnschaft, unsere Gotteskindschaft: dass das dichterische Wörter sind. Ja, dass das Wort Gott selbst, ein ‹Wort› ist, ein mit dichterischen Werten völlig angefülltes Wort, aber ein Wort und nicht jemand. Es ist nicht so etwas wie Tisch oder Hund oder Baum, sondern es ist ein dichterisches Wort, das in eine Richtung weist.[12]

Augustinus sagt:

‹Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir o Gott.›

Und das heißt nicht: Ich kenne dich ja, und jetzt weiß ich, dass mein Herz unruhig ist, bis es in dir ruht. Nein, ich weiß nichts als mein Erlebnis, ich kenne nichts als mein Erlebnis, das unruhig ist und in eine Richtung weist, und diese Richtung nenne ich Gott. Und wenn ich etwas finde, weiß ich, das weist in diese Richtung, wenn es meinem Herzen Ruhe gibt.[13] Aber es ist nicht etwas, es ist nicht jemand. Wir sind völlig eingebettet darin.[14]

Also ein Verständnis für Dichtung ist ungeheuer wichtig, ebenso wichtig wie ein furchtloses Umgehen mit andern.

(36:57) Und ein drittes, das ich noch nennen würde, ist Dankbarkeit.

Und zwar deshalb, weil wir durch Dankbarkeit ‒ und zwar nicht nur durch eine gepflegte Dankbarkeit, nicht nur dadurch, dass wir halt dankbar sind, wenn uns was Nettes passiert, und undankbar, wenn es nicht passiert ‒, sondern eine dankbare Haltung dem Leben gegenüber, das, was dem entspricht, wie wir schon gesagt haben, dass alles Gabe ist.

Dass alles, was es gibt, Gegebenheit ist, dass wir in einer gegebenen Welt leben.

Diese Art von dankbarem Leben, die versetzt uns in das Jetzt.

Denn dankbar kann man immer nur im Jetzt sein. Man kann für die Vergangenheit dankbar sein, man kann für die Zukunft dankbar sein, aber man kann nur im Jetzt dankbar sein.

Und wenn wir im Jetzt sind, dann sind wir in unserem Selbst. Dann sind wir mit unserem wahren Selbst verbunden. Und dann müssen wir die Unterscheidung treffen zwischen unserm Selbst und unserm Ich. Nur unterscheiden, nicht trennen: Nicht das eine gut machen und das andere schlecht, aber das Ich ist immer in der Zeit eingebaut. Und wir können uns mit dem Ich identifizieren und dann geht alles schief. Dann stecken wir in der Zeit drinnen, dann sind wir vereinsamt, dann sind wir abgesetzt von andern, die sich auch mit ihrem Ich identifizieren: Im Augenblick, wo wir im Jetzt sind, sind wir mit unserm Selbst verbunden, und dieses Selbst ist eines, das uns alle vereint. Es ist eines für uns alle.

Wir können das auch anders angehen, vielleicht etwas leichter: Wir alle wissen, dass wir unser Denken beobachten können. Wir können sozusagen innerlich einen Schritt zurückmachen und uns beobachten beim Denken und bemerken, dass wir unser Denken gar nicht so im Griff haben, wir können nicht aufhören zu denken: es denkt uns. Wir sollten das Denken als ein Werkzeug verwenden können, aber stattdessen geht es immer vor und wir können dem gar nicht Einhalt gebieten.

Also wir können das beobachten. Trotzdem identifizieren wir uns so leicht mit dem Denken. ‹Ich denke, daher bin ich›: Stimmt! Aber es geht noch einen anderen Schritt zurück: Das Ich, das ich bin, ist nicht nur das denkende Ich, sondern ist das Ich, das das denkende Ich beobachten kann. Und dieser Beobachter, dieser innere Beobachter ‒ da richte ich mich wieder an ihre Erfahrung ‒, den kennen Sie doch, diesen inneren Beobachter ‒, der ist einer für uns alle, das ist unser Selbst, der Beobachter.

Man kann es noch einmal anders sagen: Wir haben alle eine Identifikation. Leider brauchen wir heute bei vielen Anlässen einen Identifikationsschein: irgendeinen Fotoausweis, den wir vorweisen können. Wir haben sogar viele Identifikationen: Eine Frau kann Mutter sein, sie kann zugleich Lehrerin sein, sie kann zugleich Ärztin sein, was immer:

Wir haben viele Identifikationen, aber wir haben nur eine Identität. Und diese eine Identität als Menschen ist uns allen gemeinsam. Wir sind Menschen. Wenn wir den Beobachter finden, dann haben wir das Selbst gefunden, die Identität, die uns mit allen verbindet. Und darum ist das so wichtig, denn die Dankbarkeit führt uns jedes Mal, wenn wir dankbar sind, in das Jetzt, und dadurch in das Selbst, und dadurch in die Verbundenheit.

Das ist ein Weg, und vielleicht der königliche Weg, in dem wir gläubige Verbundenheit mit allem ‒ allem, was es gibt ‒, fördern und pflegen können.

(41:30) Und auf Grund dieser Einsichten nun können wir das Credo durchdenken. Und das möchte ich eben gemeinsam mit Ihnen jetzt tun, aber eben im Gespräch, denn aus der Vielfalt, die uns da zur Verfügung steht, können wir nur das eine oder andere herausgreifen. Aber nur so als Ansatz:

Das Credo ist ursprünglich ein Glaubensbekenntnis der Täuflinge, die vorbereitet wurden für die Taufe, und dabei wurden sie gelehrt, was es heißt, Christ zu sein, worauf man sich einlässt, wenn man Christ wird, und dann vor der Taufe wurden sie gefragt: Was glaubst du jetzt? Was ist dein Glaube?

Die ‹Traditio›, die Übergabe des Glaubens hat feierlich an einem Sonntag stattgefunden, und am nächsten Sonntag die ‹Reditio›, und das Credo ist diese ‹Reditio›, dieses Zurückgeben des Glaubens: Hast du jetzt wirklich verstanden, worum es geht?

Sie wurden getauft im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und das ist jetzt, was sie zurückgeben:

Das Credo ist aufgebaut in diesen drei Teilen, und was wir den unergründlichen Grund genannt haben,

was der Urglaube des Menschen als den unergründlichen Grund erfährt,
wird hier Vater genannt.

Was wir als unbegreifliche Vielfalt allen Seins erfahren haben,
wird hier der kosmische
Christus genannt,
der alles umfasst, der Logos, das Wort.

Die unerschöpfliche Lebendigkeit ist der Heilige Geist,
das Leben, der Geist des Lebens, der Dynamismus.

Wir haben das Unmanifeste, wir haben das Manifeste
und wir haben den Dynamismus.
[15]

(43:41) Und nun, wenn wir nur so viel einmal erfahren haben, nur so viel verstehen vom Credo, dann können wir auch schon sehen, dass ‒ wenn wir mit andern Religionen bekannt werden ‒, im Buddhismus der Schwerpunkt auf dieses Schweigen fällt, auf diesen unergründlichen Grund.

Das Schweigen spielt eine ebenso wichtige Rolle im Buddhismus wie bei uns das Wort.

Ich erinnere mich noch sehr gut, wenn ich mit meinem buddhistischen Lehrer zusammen war und geglaubt habe, jetzt habe ich einmal wirklich verstanden, was er mir erklärt hat, und habe ihm das zurückgegeben und gesagt: ‹Habe ich das jetzt richtig verstanden›? ‒, und habe versucht, es ganz genau wiederzugeben, worauf er gesagt hat: ‹Ganz genau! Aber wie traurig, dass du das in Worte fassen musst›: ‹Was für eine Schande, dass du das in Worte fassen musst.›

Im Buddhismus spielt die Stille, die Leere, das Nichts, dieser unerschöpfliche Urgrund dieselbe Rolle, die bei uns die Fülle spielt.

Und in den Amen-Traditionen, das sind die drei großen westlichen Traditionen, die das Wort Amen gemeinsam haben: Im Judentum, im Christentum und im Islam liegt alle Betonung auf dem Wort:

Es gibt mich, Es gibt das, Es gibt das,[16]

es gibt so vielerlei. Das wird betont.

Und das Wort Amen, das wir gemeinsam haben mit diesen andern Traditionen, ist ja auch kein Zufall. Denn das Wort Amen ist die menschliche Antwort auf die Amunah Gottes, und die Amunah ist die Verlässlichkeit.

Und wenn wir Amen sagen, heißt das einfach:
Ich verlasse mich auf diese letzte Verlässlichkeit.

Wieder:

In einem einzigen Wort ist der ganze Urglaube zusammengefasst
und in der Tradition des Westens ausgedrückt.

(46:06) Und die Dynamik ist, was das Wort und das Schweigen verbindet, und das ist das Verstehen.

Wenn wir wirklich verstehen, dann horchen wir so tief auf das Wort,
dass es uns hinführt in das Schweigen, aus dem es kommt.

Ein wahres, echtes Wort ist ja nicht ein Geplapper,
sondern ist das
Schweigen, das zu Wort kommt.

Und wenn wir so auf dieses Schweigen horchen, dass es uns hinführt, wo es herkommt ‒ in das Schweigen zurück ‒, dann verstehen wir erst richtig.

Und das ist ebenso zentral für den Hinduismus, wie das Schweigen für den Buddhismus und wie das Wort für die westlichen Traditionen, für die Amen-Traditionen.

Ein großer hinduistischer Lehrer, den ich das Glück gehabt habe persönlich zu kennen, Swami Venkatesananda, hat das sehr kurz zusammengefasst: Yoga ‒ das ist ja die Spiritualität des Hinduismus ‒  i s t  Verstehen. Und er hat noch dazu gesagt, dass das Wort Yoga wurzelverwandt ist mit unserem Wort Joch ‒ ein Joch, das zwei Ochsen verbindet ‒, und so verbindet Yoga das Wort und das Schweigen im Verstehen.

(47:32) Und wenn wir das erfahren, dann sehen wir plötzlich: Das ist ja unsere Trinität, das ist Vater, Sohn und Heiliger Geist, völlig anders ausgedrückt in diesen andern Religionen, mit völlig anderer Betonung, aber es ist da, es verbindet uns, es ist nicht etwas, was uns trennt. Und oft ist das so dargestellt worden, als ob gerade unsere größten Geheimnisse die wären, die uns von allen andern trennen.

Je tiefer man geht und je größer das Geheimnis ist,
um so mehr verbindet es uns mit andern.

Wir können also sagen: Es gibt uns, es gibt das, es gibt das, es gibt das. Und wir im Westen betonen immer das: Es gibt das und es gibt das und es gibt uns, und es gibt die andern: Wenn es uns gibt, gibt es auch die andern.

Und dann kommen die Buddhisten und sagen:

ES gibt: ES gibt uns und ES gibt die andern,

aber es ist das eine ES, das alle gibt.

Und dann kommen die Hindus und sagen: Das Wichtigste ist, dass

ES gibt. Versteh doch das: ES gibt. Lass dich darauf ein: ES gibt das alles.

So könnte man fast sagen, dass die einander brauchen: Für das volle Verständnis ‹Es gibt mich› brauchen wir schon die ganze Tradition der Menschheit, alle verschiedenen Formen, Ausformungen dieses einen tiefen menschlichen Glaubens.

Und da möchte ich mit diesem Bild schließen, denn es ist mir persönlich sehr wertvoll und schön, dass man sich die großen Traditionen der Welt ‒ alle die großen religiösen Traditionen ‒ wie in einem Reigentanz vorstellen kann:[17]

Die halten sich alle bei den Händen und tanzen rund herum. Und wir, solange wir außen stehen, sehen immer die uns am nächsten in einer Richtung gehen, und die am fernsten in der genau entgegengesetzten Richtung gehen. Und wo immer man außerhalb dieses Kreises steht, sieht man die einen in einer Richtung gehen und die andern in der entgegengesetzten Richtung.

Im Augenblick, wo man sich dem Kreis anschließt, die Hände fasst und mittanzt, ist es völlig offensichtlich, dass alle in einer Richtung tanzen.

Wenn wir uns auf diesen Glauben einlassen, dann tanzen wir alle in einer Richtung, und dass unser Gespräch heute Abend dazu beitragen wird, auch wenn nur ein kleines bisschen: Das ist mein großer Wunsch, und ich hoffe, er wird in Erfüllung gehen. Danke.»

________________________

[1] Dr. Norbert Schwab, Stellv. Direktor der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg i. Br.

[2] Im Buch Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 43, fasst Bruder David die drei Grundfragen ‹Was ist denn der tiefste Grund von allem›?, ‹Wer bin ich›? und ‹Worum geht es eigentlich im Leben›? in die drei Fragewörter: Warum? Was? Wie?›

«Es gibt drei existenzielle Fragen, um die wir Menschen nicht herumkommen. Früher oder später müssen wir uns ihnen stellen: Warum? Was? Und Wie? Alle drei führen uns ins Geheimnis hinein ‒ in ein Verstehen des Unbegreiflichen.»

Siehe auch das Audio in Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016): Tag 1 ‒ Vormittag: Drei Grundfragen ‹Warum? Was? Wie›? ‒ drei Zugangswege zum dreifaltigen Geheimnis als Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen durch Tun

[3] In Orientierung finden (2021): Vorbemerkungen, 8, siehe Leseprobe, übersetzt Bruder David:

«Wüsst’ ich nur jetzt, um was zuletzt
sich alles dreht, bevor’s vergeht!»

[4] Bruder David am Schluss seines Vortrages ‹Der Weg zu Fülle und Nichts› im Audio 2.1 in Festival «Die Kraft der Visionen» (1991); siehe die Mitschrift:

«Wir sollten uns vielleicht daran erinnern, wenn wir das nächste Mal zu der bitteren Einsicht kommen:

‹Ich kann mich auf nichts verlassen.›

Ein wunderbarer Satz! Er kommt uns auf die Zunge gerade im rechten Augenblick:

‹Ich kann mich auf Nichts verlassen.

Wirklich: Ich kann mich verlassen ‒ auf Nichts … ‹Wir können auf Wasser gehen›. Das Nichts ist auch etwas: die Fülle des Lebens entspringt daraus.»

[5] Vor mehr als 50 Jahren (1972), eröffnete Bruder David die damaligen Salzburger Hochschulwochen mit dem Vortrag Jesus als Wort Gottess, abgedruckt in: Die Frage nach Jesus (1973), 9-67. Im ersten Kapitel: ‹Das Wort und die religiöse Sinnfrage des Menschen› lesen wir:

«Was den Menschen wirklich glücklich macht, ist nur eines: Sinn. Was immer wir aber sinnvoll nennen in diesem oder jenem Zusammenhang, ist nur deshalb für uns sinnvoll, weil wir es letztlich in einem tiefsten Sinnbereich verankert wissen. Diese tiefste Sinngebundenheit der menschlichen Existenz aber ist Religion, ob wir es ausdrücklich so nennen oder nicht. Wenn wir im Folgenden vom religiösen Streben des Menschen sprechen, so soll darunter zunächst ganz allgemein die Suche nach dem Sinngrund menschlicher Existenz verstanden sein, unser Hunger nach letztem Sinn, wie wir ihn erleben in unserem unbestreitbaren Hunger nach Glück.» (10)

[6] Dreifaltigkeit: Anm. 1:

«In Augenblicken, in denen wir wirklich aus unserem Herzen leben, sind wir mit dem Herzen aller Dinge verbunden. Ganz spontan erkennen wir dann ‹die Zuverlässigkeit im Herzen aller Dinge›, wie Reinhold Niebuhr es so schön sagte.» [Dankbarkeit: Das Herz allen Betens (2018), 93; bzw. Fülle und Nichts (2015), 92]

[7] Jesus als Wort Gottes (1972): ‹Vom Worte Gottes leben› als Kern jüdisch-christlicher Mystik, 28-38, siehe auch Vom Worte Gottes leben ‒ Die Versuchung Jesu im Garten (2021); Vom Worte Gottes leben ‒ Vom Festmahl des Lebens zur schmerzlichen Prüfung (2021); Gebet ‒ drei Innenwelten

[8] In Von Eis zu Wasser zu Dampf: im Wandel der Gottesvorstellungen: Was schätze ich am Christentum? (2003) schreibt Bruder David über seinen eigenen Erfahrungsweg, die christliche Gottesidee in ganz neuem Licht zu sehen und zu würdigen; siehe auch Gott: Ergänzend: 3.1.:

«Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er ‒ wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm ‒ aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach: Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig. Dass er von Gott als ‹Vater› spricht, schafft Raum für liebende Beziehung, trennt aber nicht; für semitisches Empfinden sind Vater und Sohn eins. ‒ So unausrottbar war jedoch der Theismus, dass der geistige Durchbruch Jesu wie ein Leck im Boot verstopft wurde, um so schnell wie möglich den Status quo wiederherzustellen. Die Lehre Jesu musste uminterpretiert und dem theistischen Weltbild eingefügt werden. Wir dürfen, was sich da ereignete, als geistesgeschichtliche Katastrophe betrachten, es steht uns aber auch frei, es positiv zu sehen, dass in den Dogmen, die uns die Kirchenväter hinterließen, wirklich die bahnbrechende Gotteserfahrung Jesu enthalten ist, wenn auch in beinahe unkenntlicher Form.»

[9] Im mehrtägigen Flüeli-Retreat Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I, siehe besonders S. 13, 60f., 70, spricht Bruder David von zwei Bezugsachsen und ihrem Kreuzpunkt: Die Frage Warum? und das Geheimnis als unergründlichen Ursprung bilden die senkrechte Bezugsachse, die Frage Was? und das Geheimnis als unbegreifliche Vielfalt bilden die waagrechte Bezugsachse, und die Frage Wie? und die unerschöpfliche Lebendigkeit bilden den Kreuzpunkt.

[10] Bruder David bezieht sich im Credo (2012): ‹Und an Jesus Christus›, 65-69, auf das berühmte Eis-Vogel-Sonett von Gerhard Manley Hopkins (1844-1889),

«in welchem der Dichter für das Selbst-Werden ein neues Wort in der englischen Sprache prägt ‒ ‹to selve›, was man Deutsch mit selbsten wiedergeben kann. Etwas ‹selbstet›, indem es durch sein Tun aussagt, was es ist. … Jede Glocke, jede langezupfte Saite ‹selbstet› so durch ihren ganz eigenen Ton.» (66)

Siehe auch Geheimnis: Anm. 12 und Christuswirklichkeit: Anm. 2:

Im Buch Orientierung finden (2021): Geheimnis ‒ wenn uns die Wirklichkeit ‹ergreift›, 44, übersetzt Bruder David:

«Jedes vergänglich’ Ding tut eins nur und dasselbe:
stellt, was zutiefst ihm innewohnt, zur Schau:
es selbstet ‒ nennt sich, drückt sich selber aus,
es ruft, ich bin ich selbst: Nur dazu bin ich da.»

«Auf unsre Frage ‹Was›? ruft uns jedes Ding sozusagen seinen einzigartigen Namen zu und wartet nicht darauf, dass wir ihm einen geben. ‹Es selbstet.› Hopkins musste ein neues Wort prägen, um dies auszudrücken. Die Dinge ‹buchstabieren› ihr Selbst, wie er sagt, sie rufen es uns zu mit ihrem ganzen Sein, aber wir können das Wort, das jedes Ding im Innersten ist, nicht begreifen. Es entzieht sich dem Zugriff jeglichen Begriffes. Nur wenn wir uns davon ergreifen lassen, können wir es verstehen.»

[11] Siehe auch Religiosität ‒ Urquelle aller Religionen besonders in Ergänzend: 3.2.: ‹Die Religion religiös machen›, im Buch Verbunden trotz Abstand (2021), 43-64; und derselbe Beitrag: Die Religion religiös machen im Buch Andere Wirklichkeiten (1984), 195-204

[12] Siehe in Gott ‒ ‹mein Gott›: Ergänzend: 2.1., den Abschnitt aus Orientierung finden (2021): Gott ‒ das geheimnisvolle ‹Mehr-und-immer-mehr, 54:

«Das Wort ‹Gott› entstand früh in der Geschichte unsrer Sprache und geht auf die indogermanische Wurzel ‹gheu› mit der Grundbedeutung ‹rufen› zurück. Unter ‹Gott› wurde also ursprünglich ‹Das Angerufene› verstanden, vielleicht auch ‹Das uns Anrufende›. Jedenfalls schwingt bei dem Wort ‹Gott› von Anfang an die Gegenseitigkeit einer Ich-Du-Beziehung mit. Gleichzeitig war das grammatische Geschlecht des Wortes ursprünglich sächlich und so wurde die Gefahr vermindert, Gott ‒ das große Geheimnis ‒ zu vermenschlichen. Noch heute gibt es Völker und Stämme, die religiöse Vorstellungen bewahrt haben, welche in prähistorischen Kulturen verbreitet waren. Anthropologische Feldforschung zeigt, dass sie häufig Personifikationen natürlicher Kräfte wie Sturm oder Blitz verehren und dennoch, diesen ‹Göttern› übergeordnet, eine höchste Kraft anerkennen, von der sie weniger bildhaft sprechen.

So zum Beispiel Chief Luther Standing Bear (1868-1,939), wenn er sagt: ‹Aus Wakan Tanka, oft als großes Geheimnis übersetzt, kam eine mächtige vereinigende Lebenskraft, die in und durch alle Dinge floss.›

Black Elk (1863-1950) sprach von unsrer Beziehung zu dieser Kraft und von dem großen inneren ‹Frieden, der in den Seelen der Menschen herrscht, wenn sie ihre Beziehung, ihre Einheit mit dem Universum und all seinen Kräften erkennen›.

Aber er ging noch einen Schritt weiter und sprach von dieser Beziehung zugleich als einer persönlichen. Er betonte den Frieden, den die Menschen erleben, ‹wenn sie erkennen, dass im Zentrum des Universums der große Geist wohnt; und ‒ da dieses Zentrum überall ist ‒ wohnt er auch in uns.› Die Einsicht, dass wir mit dieser Lebenskraft in persönlicher Beziehung stehen, entspricht der bedeutsamen Entdeckung, dass das große Geheimnis unser großes DU ist.»

[13] im Credo (2012): ‹Ich glaube an Gott›: Was heißt das eigentlich? S. 25f.:

«Das Glaubensbekenntnis ist erst in zweiter Linie die Aufzählung verschiedener Glaubenswahrheiten; in erster Linie ist es eben persönliches Bekenntnis einer einzigen Wahrheit, nämlich, dass ich glaube. Das bedeutet, dass mein Vertrauen auf etwas stark genug ist, um mein Herz darauf zu setzen. Und was immer das ist, nennen wir Gott. In diesem ersten Satz des Credos bedeutet Gott noch nicht mehr ‒ allerdings auch nicht weniger ‒ als das, worauf ich mein äußerstes Vertrauen setze. Weitgehend noch inhaltslos, ist das Wort Gott hier einfach Wegweiser in die Richtung jener vertrauensvollen Zugehörigkeit, die allein dem Leben Sinn schenkt.

Hier am Beginn des Glaubensbekenntnisses ist uns noch kein Bild für Gott gegeben … Hier steht Gott nur erst einmal für den Zielpunkt der abgrundtiefen, unaustilgbaren Sehnsucht des menschlichen Herzens nach letztem Sinn. Von dieser Sehnsucht lässt sich aber das Vertrauen auf ihre Erfüllung nicht wegdenken; unser Vertrauen, dass sie gestillt werden wird, gehört wesentlich zu ihr. Und dieses Vertrauen ist der Ur-Glaube an Gott.»

[14] Immer wieder zitiert Bruder David das Wort von Thomas Merton: ‹God isn’t somebody else›, siehe Audios / Text dazu in Religionen und heiles Gottesbild: Ergänzend: 3., sowie ‹In ihm leben wir, weben wir und sind› (Apg 17,28), siehe Meine BESONDERE Bibelstelle (2023)

[15] In Jesus als Wort Gottes (1972): Hinduismus in der Perspektive von Wort und Ergriffenheit, 50f.:

«‹Gott spricht›, dieses ganz prägnante Wort, ist der Schlüssel, der uns das Verständnis aufschließt für die ganze biblische Tradition. ‹Ich habe das Schweigen gehört›, dieses Paradox kann uns als Schlüssel dienen für das Verständnis buddhistischen Sinnerlebens. Ähnlich können wir als Schlüssel (freilich  n u r  als Schlüssel) die immer wiederholte, zentrale Feststellung des Hinduismus betrachten: ‹Atman ist Brahman, und Brahman ist Atman›; oder, wie man sagen könnte: Gott, der sich offenbart, bleibt der verborgene Gott, und Gott als der Verborgene ist wahrlich offenbar; oder: Das Wort ist Schweigen, das zu Wort gekommen ist, und das Schweigen ist Wort, das im Schweigen aufgehoben ist. Indem Gott seine Verborgenheit offenbart, verbirgt er sich in seiner Offenbarung. Das einzusehen heißt verstehen.»

Siehe auch Christuswirklichkeit: Ergänzend: 3.: ‹Ich und der Vater sind eins› ‒ ‹Atman ist Brahman und Brahman ist Atman›

[16] Auf einzigartige Weise setzt Bruder David die christliche Lehre der Dreifaltigkeit in Beziehung zum Schweigen im Buddhismus, der Betonung des Wortes im Christentum und dem Verstehen durch Tun im Hinduismus.

Bruder David verwendet im Vortrag Wie das Göttliche in uns wächst (2005) als Schlüssel für das Verständnis der drei großen Traditionen den Satz ‹Das ist es.›; siehe das Audio ‹Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen› und die Mitschrift

[17] Mit dem Reigentanz der Dreifaltigkeit endet nicht nur das Buch Credo: ‹Amen›: Persönliche Erwägungen, 237f., siehe den Haupttext in Dreifaltigkeit, sondern auch der Beitrag Jesus als Wort Gottes (1972), 65-67; die Audios dazu sind in Dreifaltigkeit: Ergänzend: 1. zusammengestellt.

 

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