Franz Kuno Steindl-Rast
In diesem Vortrag um 1945 begegnen wir erstmals dem für Bruder David zentralen Begriff, «Ordnung», der ebenso missverständlich ist wie die Begriffe «Gehorsam», «Disziplin». Mehr als sechs Jahrzehnte später wird er ihn im Vortrag Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011 einbetten ins Umfeld seines Lieblingsbegriffs «Welthaushalt»: Wenn Bruder David von Ordnung spricht, dann dürfen wir in diesem Vortrag bereits Augustins «Ordo est amoris» heraushören. (ca. 1945)
Hat Dir schon einmal einer diese Frage gestellt? Oder hast du selber dich schon ernstlich so gefragt?
Wer viel fragt, wird schon einmal eine rechte Antwort hören, und ein unbefangenes Gespräch mit irgendjemandem, der uns im Alltag zugewürfelt wird, kann auf die entferntesten Fragen ein plötzliches Licht werfen. Diese Kraft sollten wir uns überhaupt erwerben und bewahren, dass wir über Wesentliches reden können mit jedem, der uns begegnet, mit dem Briefträger so gut wie mit dem Lehrer, oder mit der Frau, der wir die Tasche tragen helfen. Denn es gibt keine Fremden, die nichts von uns wollen, ob sie es wissen oder nicht, und es gibt niemanden, der nicht auch uns Wesentliches sagen könnte: Wir brauchen alle einander. Seit ich das erleben durfte, hab‘ ich mich bemüht, keine Gelegenheit vorbeigehen zu lassen zu einem solchen unbefangenen Gespräch; auf viele Fragen hab‘ ich so Antwort gefunden bei Leuten, von denen ich es nie erwartet hätte.
So habe ich auch diese Frage an Viele herangetragen, weil sie mir brennend ernst ist: Was verlangst du von der Kunst? Freilich habe ich sie niemals wörtlich so gestellt, da hätte auch kaum einer geantwortet, das klingt ja viel zu feierlich; die Leute waren verschieden, die Gespräche waren verschieden, aber mit irgendeinem Satz hat jeder mir geantwortet auf diese meine Frage, auch wenn sie gar nicht ausgesprochen wurde; und die gemeinsame Antwort war mir eine stolze hohe Freude, darum will ich euch davon schreiben:
Es ist nämlich so: Die Generation derer, die schon seit Jahrzehnten und auch jetzt noch die eigentlichen Gäste der Ausstellungen sind, der Konzerte und der Theater, alle die viel über Kunst reden und schreiben, so viele verschiedene Antworten sie auch geben, eine Haltung ist ihnen allen gemeinsam: Sie verlangen von der Kunst i h r B i l d; der Künstler soll sie abbilden, wie sie sind, hastig, fragwürdig, müde und doch schön im Verfall; er soll ihre Dinge abbilden in ihrer Auflösung, Verwesung und Unbeständigkeit, ihre Landschaften mit all ihren Geheimnissen und ihrem Grauen. Der Künstler soll ihnen das Bild der Welt zeigen, wie es der Mensch sieht. Und große Künstler schaffen ihnen dieses Bild.
(So zeichnet Alfred Kubin die Auflösung aller Dinge und der Landschaft in ein gefährliches, grauenerregendes Gitterwerk flimmernder Federstriche; was Herbert Boeckl malt, scheint zu verwesen unter seinem Pinsel in abgrundtiefen Farben des Verfalls, berauschend schön, aber faulend und zerfallend; auch bei Josef Dobrowsky löst sich alle Form auf, aber nicht in diesen heißen, aufpeitschenden Farben mittäglicher Verwesung, sondern meist in den kühleren Tönen modernder Grüfte:) Große Künstler ohne Zweifel, und doch das Bild einer untergehenden Zeit.
Mag sie untergehen! Die Jugend verlangt anderes von der Kunst. Wir sind nur wie durch ein Wunder gerettet worden aus einem Krieg, der nicht unsere Schuld war, weil wir noch halbe Kinder waren, als man uns Widerwillige dazu presste. Nun wollen wir neu beginnen, das Gesicht unserer Lebensbereiche zu gestalten, denn die Generation vor uns hat in zwei Weltkriegen bewiesen, dass sie unfähig war zur Ordnung. In die innersten Bereiche unseres Lebens gehört die Kunst, sie soll uns heiliger Ausdruck unserer innersterer Sehnsucht sein; dann verlangen wir aber mehr von ihr als das Bild der Welt, wie ein Mensch sie sieht in ihrer Zufälligkeit, sie soll uns die Welt zeigen, wie Gott sie wohl sieht, der alles geordnet hat nach Maß, Zahl und Gewicht. Wir wollen nicht mehr die Stimmung, sondern das Wesen, das Gesetz, und nicht mehr die Zufälligkeit, die Zucht, und nicht mehr die Laune. Wir wollen die Ordnung.
Das war die Antwort der Jugend. Das ist mir klar geworden, als ich mit einer Studentin sprach in der Boeckl Ausstellung, als mir ein rotziger Bub auf der Straße von seiner toten Mutter erzählte, und wie er sich das Jüngste Gericht vorstellt, als ich einen jungen Mann reden hörte von den Schaufenstern der Jugendkunstausstellung am Ring, als drei von den Sängerknaben mir erzählten, dass sie am allerliebsten die strengen Doppelchöre von Gallus singen, und bei vielen anderen Gesprächen noch. Und wenn’s auch den meisten nicht so klar bewusst war, einer muss aussprechen, was viele fühlen: Die Jugend verlangt von der Kunst die Ordnung.
Ja, wir trauen uns dieses Wort hier zu verwenden, wenn es auch tausendmal geschändet wurde und missbraucht. Wir kennen zu gut den äußeren Drill, bei dem alles «funkt und klappt», und wir hassen ihn. Aber gerade, weil wir ihn kennen gelernt haben, und gründlicher als die Generation vor uns, haben wir den inneren Weg gefunden vom Zwang zur Ordnung der Freiheit, von der Uniform zur Ordnung der Persönlichkeit, von der kreischenden Staatsmaschine zur Ordnung des Domes. Aus uns werden Künstler kommen, die mehr zu sagen haben, als dass wir krank sind, dass aber auch noch unsere Wunden schöne Farben zeigen. Aus uns werden die Künstler kommen, die wieder die Weisheit der göttlichen Baupläne preisen können, die Weisheit, die die Landschaft ausgebreitet hat, die Blumen und Pflanzen, geheimnisvoll geordnet, die den Dingen ihre Gesetze gab, und unseren Leib bereitete in seiner Herrlichkeit zum Tempel des Geistes.
Wir warten auf die Mester, die nicht mehr sich suchen, sondern das G e s e t z in den D i n g e n. Das soll unsere starke Hoffnung sein: Was so Viele verlangen, muss seine Erfüllung finden in der nächsten, in der anbrechenden, in unserer Zeit.
(Einer ist schon jetzt, der das verwirklicht, was die Jugend sucht: Die steinernen Figuren des Prof. Wotruba sind gewaltige Zeugen der Zucht, des Gesetzes und der Ordnung. Wer sie noch nicht kennt, sollte sie kennenlernen, unbedingt!
Mag uns nun einer fragen: Was verlangst du von der Kunst? ‒ Unsere Antwort, die Antwort der Jugend ist: Die O r d n u n g.)
Quelle: Privat-Archiv David Steindl-Rast OSB, Vortrag Was verlangst du von der Kunst (ca. 1945)