Franz Kuno Steindl-Rast

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Je mehr wir uns in diesen anspruchsvollen Vortrag  von Franz Kuno vertiefen, umso mehr verstehen wir, wie sehr er von einem archimedischen Punkt aus spricht, der weit entfernt ist vom damaligen wie auch heutigen Zeitgeist. Es geht um das Einüben einer kindlichen Haltung: Bereitschaft lernen, staunen, unvoreingenommen Kunst zu betrachten. Am bekanntesten Gebet der Christenheit, dem Vaterunser, zeigt Franz Kuno auf, dass wir nur in dieser kindlichen Haltung in den Innenraum von Religion und Kunst eintreten können, und dass «der Erwachsene nur auf dem steilen, leidvollen Weg der Versenkung zu dem gelangen kann, was hier den Kindern gnadenhaft in den Schoss fällt. Sicher ist aber auch, dass gerade solche unmittelbaren Bilder es sind, deren unsere Zeit bedarf, um wie in einem magischen Bann der Ordnung gegenübergestellt zu werden, zu Rettung und Gericht.»
Mit unmittelbaren Bildern meint Franz Kuno: «Solche unmittelbaren Bilder kommen in der Kinderkunst sehr häufig vor, sie entspringen der Schau nach innen, aus der dem Kind unbewussten traumhaften Eingesponnenheit. Wo wir ihnen in der Kunst begegnen, sind sie Hervorbringungen tiefster künstlerischer Versenkung in den Urgrund, in dem Urgrund und Abbild noch gemeinsam wurzeln, und mit dem die Kinder eben innerlich verwachsen sind.»   (späte 1940iger)


[1] Das Thema unseres heutigen Abends ist sehr weit gesteckt: «Kind und Kunst». Wer wird Erschöpfendes darüber sagen können? Wenn wir aber nur überhaupt einmal an den geheimnisvollen Zusammenhang rühren, der diese beiden Begriffe verbindet, so bin ich sicher, dass jeden wenigstens irgendein Gedanke aus der Fülle ergreifen muss, der wert ist, weitergedacht zu werden. Nicht aus Lust an Problemen und Spekulationen haben wir uns dieses Thema gestellt, sondern aus dem Bewusstsein, Verantwortung zu tragen vor der Kunst, und verantwortlich zu sein auch für die Kinder. Darum wird alles, was wir hier erwägen wollen, auch nur dann fruchtbar werden können, wenn wir bereit sind, alle Forderungen, die sich daraus an uns stellen, auf uns zu nehmen, und sie auszutragen nach unserer Kraft an jeden Platz, an dem wir stehen. Denn darüber müssen wir uns klar sein: Weder das Kind, noch die Kunst, noch das Reden oder das Denken über diese Mysterien kann unverbindlich sein. Hier geht es um Letztes.

Stellen wir uns zuerst die Frage: Warum wird denn heute auf den verschiedensten Gebieten das Kind in den Mittelpunkt der Interessen gestellt? Es liegt sicher in der Situation, in der wir stehen ‒ die einfachste Antwort ‒, in einer Situation, weithin gekennzeichnet durch das einzige Wort: Dekadenz.

Es sind die ehrlich Suchenden, die auf ihrem Weg dem Kind begegnet sind, und in ihm in seiner Ursprünglichkeit eine Forderung sehen als den einzigen Ausweg aus dem Chaos, in das wir geraten sind. Aber ist das nicht romantische Schwärmerei? Kann es denn eine Forderung geben, dass Erwachsene wieder wie Kinder werden sollen? Heißt das nicht, den Lauf der Natur umkehren? ‒ Wenn Kindersinn an ein Lebensalter gebunden wäre, träfe das zu. Kindsein als Haltung aber ist vielmehr die Vollendung jeder Stufe des menschlichen Lebens.

[Wie Wille, Verstand und Gefühl
dem Guten, der Wahrheit und der Schönheit begegnen
in kindlicher Bereitschaft, im Staunen und mit Unbefangenheit]

Kindsein heißt unbefangen sein, Kindsein heißt staunen können, Kindsein heißt bereit sein. Kindsein heißt also: allem Sein auf eine ganz bestimmte Weise begegnen, in Liebe nämlich.

Nur der Liebe erschießt sich ja das Sein, das eine und selbe, das als Schönheit unserem Gefühl begegnet, als Wahrheit unserem Verstand, und als Gutheit unserem Willen. Nur in der Liebe ist diese Begegnung möglich, nur in kindlichem Sinn, denn alles, was ist, ist gut, alles, was ist, ist wahr, alles, was ist, ist schön, aber die Schönheit erschließt sich nur der Unbefangenheit, die Wahrheit dem Staunen, die Gutheit der Bereitschaft. Wo also der Mensch der Wirklichkeit des Seins begegnen will, muss er ‒ wir verstehen das
jetzt ‒, werden wie ein Kind: unbefangen, zum Staunen fähig, bereit.

[Kindliche Bereitschaft zum Guten im Vaterunser]

[2] Zuerst tritt diese Forderung an uns heran, wo es um Heiligkeit geht. Die Bekehrung muss ja zugleich eine Ausrichtung sein auf unser ursprüngliches Angelegtsein, auf die kindliche Bereitschaft, in der allein unser Wille das Gute ergreifen kann.

Wie sollte, wer nicht Kind ist, sprechen «Vater unser»? «Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, dass wir Gottes Kinder heißen und auch sind», ruft der Apostel.

Ergreifend ist das Bild, das die letzten wissenschaftlichen Forschungen von den Menschen der Urzeit zeichnen: eine Menschheit von Kindern. Wir hören die Gottesnamen dieser ersten und ältesten Zeit und staunen: «Vater», «Vater oben», «Unser Vater». Schuld und Verwirrung trüben dieses reine Gottesbild im Ablauf der Jahrtausende, aber in der Fülle der Zeit kommt ein Kind und lehrt uns wieder sprechen: «Vater unser, der du bist im Himmel.» Nicht umsonst ist Weihnachten das Fest der Kinder, sind wir doch an diesem Tag alle Kinder des Vaters im Himmel geworden, weil sein Sohn unser Bruder werden wollte. Und wie die Anrufung im Gebet des Herrn uns als Kinder vor den Vater stellt, so ist jede der sieben Bitten zugleich ein Ruf nach dem «Geist der Kindschaft», der uns verheißen ist.

«Geheiligt werde dein Name»: Welcher Name denn, als dieser «Abba, lieber Vater», und wie sollten wir ihn heiligen, als durch die Bereitschaft, alles vor ihm zu tun als seine Kinder?

«Zukomme uns dein Reich.» Ist es nicht das Reich, in das niemand eingeht, der nicht wird, wie die Kinder sind? (Wir lesen die Stelle bei Mk 10,13-27 ) Nicht umsonst ist hier der Jüngling den Kindern gegenübergestellt. Nicht auf Besitz oder Armut kommt es ja dabei an, hier geht es um die Forderung nach letzter Bereitschaft, nach dem Kindersinn. Wie viele von den Kindern, die Jesus heute noch in seine Arme schließt, gehen morgen schon traurig davon, verlassen das einzige Gut wegen der Güter? Wir müssten alle verzweifeln, in das Reich zu kommen, stünde da nicht das Wort: «Bei Gott ist alles möglich.» So kennen wir unsere immer wiederkehrende Auflehnung und dürfen doch getrost weitersprechen:

«Dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf Erden.» Mit denselben Worten nimmt der Erlöser in der Stunde seiner äußersten Verzweiflung seinen Opfertod auf sich, in dieser Bereitschaft trägt er das Kreuz.

Vorbild dafür war schon zweitausend Jahre vorher ein Kind: ein Vorbild des Erlösers im Alten Bund ist ja Isaak. Der Bericht seines Opferganges ist zwar bekannt, ich glaube aber doch, wir sollten ihn in diesem Zusammenhang noch einmal lesen, ist doch in diesem Knaben das gewaltigste Bild kindlicher Bereitschaft gezeichnet, wie Gott sie fordert. Klar und groß sind schon die Worte, mit denen er, das Kind, das Schweigen bricht, mit denen er ohne gefragt zu sein, seinen Vater anredet ‒ ein Großes, in dieser patriarchalischen Zeit (die seltene Übersetzung von Martin Buber gibt das Zögernde und [3] doch zugleich die Kraft dieser Rede meisterlich wieder.) Noch größer aber ist das Schweigen seiner Bereitschaft (Gen 22, 1-19).

«Gib uns heute unser tägliches Brot.» Wieder kann nur Kindersinn so sprechen. Kinder blicken so zur Hand auf, die ihnen dann Brot austeilt, Kinder bitten so nur für den Augenblick, nur für diesen Tag. Und doch gilt auch für uns das Wort: «Sorget euch nicht um den morgigen Tag, der morgige Tag wird für sich selber sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Plage.» Wir nehmen es nur nicht ernst genug, dieses kindliches Gelassensein.

Auch das Verzeihen nehmen wir nicht ernst genug. Könnten wir sonst so sorglos beten: «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern»? Das heißt, wir nehmen das Wort an: «Mit demselben Maß, mit dem ihr messet, wird auch euch gemessen werden.» Wir nehmen es an und bitten noch, dass uns in demselben Maß verziehen werde, in dem auch wir verzeihen. Ist unser Verzeihen wirklich so vollkommen? Ist es so wie das Verzeihen der Kinder, die ein Nachtragen nicht kennen? In dem Maß, in dem wir unseren Brüdern verzeihen, werden wir Kinder. Wenn schon wir unseren Kindern nichts nachtragen können, wie sollte unser Vater uns da nicht die Schuld vergeben?

Wie sollte er uns fallen lassen, wenn wir bitten: «Führe uns nicht in Versuchung.» Das heißt nicht: Setze uns keinen Schwierigkeiten aus. Wie sollten wir reifen, wenn nicht an ihnen? Versuchung ist unsere Selbstsucht. In ihr sich verschießen, ist Sünde, wir aber bitten um die kindliche Bereitschaft zur Hingabe, um die Hand Gottes, an der wir gehen dürfen, bitten wir.

Rilke  spricht das Geheimnis dieses Geführtwerdens in den Versen aus: «Gott spricht zu jedem Menschen nur ,eh‘ er ihn macht»: Uns nicht trennen lassen von seiner Hand, auch an der äußersten Grenze nicht, das ist es! Wer dies besteht in kindlicher Gesinnung, der wird nicht in Versuchung fallen, und seine letzte Bitte wird erfüllt werden, wenn er spricht: «Erlöse uns von dem Übel.»

Ein Kind hat uns erlöst von dem Übel, darum ist die Gestalt des Erlösers auf den Vesperbildern oft so klein, wenn er, vom Kreuz genommen, auf den Knien seiner Mutter liegt, tot ihr zurückgegeben, von der er genommen war, ihr Kind. Von ihm hat der Prophet vorherverkündet: «Kalb, Löwe und Schaf werden friedlich beisammen weilen, ein kleiner Knabe treibt sie zur Weide zusammen.» Wer nur einmal drei Kälber ‒ ohne Löwen ‒ zusammengetrieben hat, wird die Kraft dieses Bildes verstehen. Wir sind es, die dieses Kind zusammentreibt, während wir so uneins sind, wie Löwe, Kalb und Schaf. Für uns gilt der Satz: «Wir suchen Gott und kreuzigen einander.» Das ist ja das Übel, das noch auf uns lastet: Nur der kindliche Mensch wird es in Bereitschaft austragen. «Die ganze Schöpfung seufzt und liegt in Wehen, und harrt der Offenbarung der Kinder Gottes.» Nur unser Kindsein also kann das Übel wenden, unter dem selbst die unvernünftige Kreatur leidet.

Aber wir dürfen getrost sein: [4] «Wenn schon ihr, die ihr böse seid», sagt der Herr, «euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wieviel mehr wird euer Vater vom Himmel den guten Geist denen geben, die ihn darum bitten.» Welches ist der gute Geist, wenn nicht der «Geist der Kindschaft, in dem wir also sprechen: Abba, lieber Vater»?

[Bereitschaft ‒ Staunen ‒ Unbefangenheit
und Darstellung der Ordnung durch Gutheit ‒ Wahrheit ‒ Schönheit
in Heiligkeit ‒ Wissenschaft ‒ Kunst]

Am Gebet des Herrn haben wir so gesehen, dass nur in wahrer kindlicher Bereitschaft der Wille das Gute ergreifen kann.

Heiligkeit ist die Darstellung der Ordnung durch Gutheit. In ihr begegnet der Wille dem Sein ‒ in Bereitschaft.

Wie auf dem Weg zur Heiligkeit Bereitschaft die Voraussetzung ist zur Begegnung mit dem Guten, so ist die zweite Begegnungseigenart der Kinder, der einzige Weg zur Wahrheit: das Staunen. Es gehört dem Denken zu und der Wissenschaft:

Echte Wissenschaft ist die Darstellung der Ordnung durch Wahrheit. Der Verstand begegnet dem Sein im Staunen.

Drängt es sich uns nicht schon auf, dass auch dem Gefühl nur ein Weg der echten Seinsbegegnung gewiesen ist: die Unbefangenheit der Kinder? Nur in ihr erleben wir Schönheit.

Kunst aber ist die Darstellung der Ordnung durch Schönheit.

So klar dies ist, so fehlt doch unserer Zeit kaum etwas so völlig in der Kunst wie Unbefangenheit. Ich will hier wiederholen, was erst kürzlich in diesem Kurs vorgetragen wurde, weil vor allem auch für die bildende Kunst gilt, was dazu über die Dichtung gesagt wurde:

«Zwei Zeitkrankheiten, die uns alle angefallen haben, lassen nur Wenige ‒ und diese in einem schwächlichen Maße ‒ dazukommen, den Reichtum unserer Dichter zu genießen oder gar auszuschöpfen. Die erste ist unser eigenes Unvermögen, dem Künstler, dem Schöpfer des Kunstwerkes, im Kunsterlebnis selber als schöpferischer Gegenpol, als Du, als Mitschaffende zu begegnen. Wir sind alle müde geworden, ob jung oder alt. Wir wollen alle bloß Empfangende im Kunsterlebnis sein, und haben verlernt, dass uns nur dann gegeben wird, wenn wir selber geben. Wir alle sind angefault von der lähmenden Krankheit der Vermassung, denn es gibt nur ein Proletariat, und das ist das Proletariat des unschöpferischen Menschen.

Wir haben verlernt, dass das Kunstwerk nichts Abgeschlossenes, Fertiges ist, sondern der Anfang zu einem gemeinsamen Werk, der Auftakt zu einem gemeinsamen höchsten Spiel, einer Ansammlung ungeheuerster Dynamik, die sich nur entlädt, wenn wir sie berühren und uns berühren lassen, wenn wir den Kontakt schließen ‒ kurz: wenn wir uns, ob Beschauer, Hörer oder Zuschauer, in es verwandeln, uns mit ihm identifizieren.

Es geht darum, dem schöpferischen Ich des Künstlers das schöpferische Du entgegenzusetzen. Es geht um die Begegnung in einem Akt der Liebe. Wer hat sich die Fähigkeit dazu bewahrt, wer hat sie schon neu gelernt?» ‒ Der kindliche Mensch, müssen wir antworten, der Unbefangene ! Dieser hat auch die klaren, unverdorbenen Augen bewahrt, die wir alle nicht [5] mehr haben.»

Ich zitiere weiter: «In unseren Augen sitzt der Star. Haben wir die Fähigkeit zum Kunsterlebnis uns bewahrt, oder neu erworben, so hindert uns eine zweite Zeitkrankheit an einer Vereinigung: unsere Sucht, den Kern des Kunstwerkes unmittelbar zu erfassen, die künstlerische Aussage aus dem Kunstwerk herauszureißen. Wir vergessen dabei, dass das Kunstwerk nur als Bild existiert. Der Spiegel des Teiches, der uns noch eben auf silberner Oberfläche die herrlichste Landschaft zeigte, blauen Himmel mit ziehenden Wolken, Bäume, die sich über das Ufer neigen, zerbirst, wenn wir den Fuß draufsetzen, um ‚einzudringen‘.

Wir lesen und hören viel zu viel  ü b e r  die Dichter, statt ihre eigenen Stimmen zu hören. Wir verstellen uns selber den unmittelbaren Zugang, weil wir ihre ‚Probleme‘ zu verstehen suchen. Und wenn sie dann selber sagen: ‚Ich habe keine Probleme‘, dann geheimnissen wir unsere, die meistens gar keine echten sind, in sie hinein. Wir wollen immer ‚ihnen auf den Grund kommen‘, und es wäre doch nichts nötig, als statt der Vielfalt unserer Fragen ein wenig Einfältigkeit. Statt mit langem ausgestrecktem Zeigefinger ewige Problemwähler zu sein, Menschen zu werden, Menschen, die vermögen, in ihren Dichtern die brüderliche Stimme zu vernehmen, die uns beschwört, das ganze Gewebe des Lebens zu preisen, alles Helle und sogar das Dunkle, denn alles, was ist, ist gut.»

Lebendige Menschen werden, heißt kindliche Menschen werden, heißt Unbefangenheit  zurückgewinnen.

Was ist «objektiver Kunstwert»? Vielleicht etwas für Kunsthändler? Für uns jedenfalls ohne Bedeutung. Wesentlich ist einzig, dass das «ernste Spiel» gelingt, zu dem das Bild nur Vor-Wand sein will: die Begegnung mit dem Sein, das unserem Gefühl offenbar wird als Schönheit. Da ist nur eine Spielregel: Unbefangenheit. Bemerkenswert, dass dort, wo in der Kunst das Spiel schon im Sprachgebrauch mitgenannt wird ‒ wir spielen Theater, wir spielen Musik ‒, dass in der Musik und auf der Bühne am Ehesten Ansätze zu finden sind zur Besinnung auf das wahre Wesen der Kunst.

Nun hat man in dem letzten halben Jahrhundert die Kinderkunst entdeckt, mit ihrer ganz eigenen Kraft und Gesetzmäßigkeit. Man hat aus einem unbestimmten Gespür für die Richtung, in der wir gehen müssten, Elemente der Kinderzeichnung in die Kunst herübergenommen, meist rein formale Versuche.

Wer hat den inneren Ansatz gefunden, den Schlüssel zu wesentlicher Darstellung der Ordnung durch Schönheit? Ihn zu nennen ist nicht schwer: Kindlich zu werden, und die Unbefangenheit im täglichen Leben zu verwirklichen, darauf kommt es an.

[Mittelbare und unmittelbare Bilder
und das schöpferische Spiel von Darstellen und Beschauen]

[6] Etwas sehr Geheimnisvolles will ich noch berühren: Im Gespräch über die Zweipoligkeit der sakralen Kunst in Kultbild und Andachtsbild sind wir darauf gestoßen, dass eine ähnliche Spannung auch in der gesamten Profankunst besteht:

Da sind einerseits die Bilder, die den Gegenstand darstellen, indem sie ihn schildern, seltener aber und (dem Kultbild entsprechend) häufiger in frühen Perioden, tauchen Bilder auf, die den Gegenstand geradezu beschwören. Die Aussage der anderen, mittelbaren Bilder, wenn wir sie so nennen wollen, wird hier geradezu zu einer Vergegenwärtigung des Gegenstandes. Was dort mittelbar erfahren wurde, wird hier gleichsam unmittelbar, innerlich erschaut.

Es ist, als ob die Idee des dargestellten Gegenstandes eine neue, andere Ausformung erfahren habe, nämlich in dem Bild eben, wie man etwa dasselbe Petschaft in Wachs ausprägen kann, oder auch in Ton.

Solche unmittelbaren Bilder kommen in der Kinderkunst sehr häufig vor, sie entspringend der Schau nach innen, aus der dem Kind unbewussten traumhaften Eingesponnenheit. Wo wir ihnen in der Kunst begegnen, sind sie Hervorbringungen tiefster künstlerischer Versenkung in den Urgrund, in dem Urbild und Abbild noch gemeinsam wurzeln, und mit dem die Kinder eben innerlich verwachsen sind.

Natürlich gibt es tausendfältige Zwischenglieder und Überschneidungen, es gibt aber auch die eindeutigen Reinformen des mittelbaren und des unmittelbaren Bildes. Fest steht, dass der Erwachsene nur auf dem steilen, leidvollen Weg der Versenkung zu dem gelangen kann, was hier den Kindern gnadenhaft in den Schoss fällt. Sicher ist aber auch, dass gerade solche unmittelbaren Bilder es sind, deren unsere Zeit bedarf, um wie in einem magischen Bann der Ordnung gegenübergestellt zu werden, zu Rettung und Gericht.

Sicher ist, dass nur dem Unbefangenen  diese Begegnung geschenkt werden kann. Ein neuer Realismus, ein Surrealismus ‒ recht verstanden, (nicht im Sinne der historischen Bewegung) ‒ muss diese Werke kennzeichnen. In der Malerei kenne ich keine Beispiele, vielleicht aber können wir Thornton Wilder als Dichter, Paul Hindemith in der Musik und Fritz Wotruba mit einigen seiner Bildwerke, als Vorkämpfer auf diesem Weg nennen.

Der kindliche Mensch allein ist es, jedenfalls auch in der Kunst, der dem gewachsen ist, was unsere Zeit fordert. Der kindliche Mensch nicht nur als Darstellender, sondern auch als Beschauer, denn darin hat ja erst das Kunstwerkt Leben, das ein Gebender ist und ein Nehmender; das unbefangene Spiel dieser beiden, dieses ernste immer neu schöpferische Spiel, als Begegnung mit der Ordnung in der Schönheit, ist ja das Kunstwerk. Das Bild ist nur der Anstoß dazu und der Vorwand dafür.

[Unsere Aufgabe mit Kindern auf der Grundlage
ihrer körperlichen und psychischen Entwicklung
in Verbindung mit dem «Pneuma», der Geistseele]

In der Heiligkeit, in der Wissenschaft und in der Kunst haben wir so das Kindsein als Forderung an uns gestellt gesehen. Das Kind, von dem wir jetzt sprachen, war das abstrakte Kind, die Idee des Kindes. [7] Das konkrete Kind, die Kinder unserer Stadt und unserer Tage, stehen jetzt als Verantwortung vor uns. Und das wollen wir noch ins Auge fassen. Wir sprachen vom Kind als Möglichkeit, von dem Knaben, nach dem die Sehnsucht der Menschheit immer noch Ausschau hält, von Vergil bis Giovanni Papini, auf den sie hofft. In ihm ist vollendet, was in allen Kindern als Anlage gelegt ist, vollendet die Unbefangenheit, vollendet das Staunen, vollendet die Bereitschaft.

Die Kinder unserer Tage aber? Das ist ja das Elend, dass sie unkindliche Kinder sind. Ihre Bereitschaft ist müde geworden, weil ihre Sehnsucht so lange umsonst wartet auf das Große, das aller Hingabe wert wäre. Ihr Staunen ist stumpf geworden, weil so viele Sensationen sie schreiend verblüffen wollen, das wahre Wunder aber ist so still. Wie sollten sie noch unbefangen sein, wo Staunen und Bereitschaft verloren sind?

Ach, wer führt dies schwache Kind!
Höll' und Himmel stehen offen;
Daß das Lamm dem Wolf entrinn’,
Hat es mich wohl angetroffen.
Ach, wer führt dies schwache Kind!
In der Krippe lag ein Kind!
Ochs und Esel es verehren.
Wo ich je ein Kindlein find',
Will ich's pflegen, lieben, lehren.
In der Krippe lag ein Kind!

(Clemens Brentano: Ermunterung zur Kinderliebe und zum Kindersinne )

Das ist der Weg, auf dem wir durch den Glauben an Christus, das Kind, zum Dienst an den Kindern geführt werden. Wie aber gestaltet sich dieser Dienst? An welchem Ende müssen wir anpacken?

Wir müssen noch einmal weit ausholen, und das Wesen menschlicher Entwicklung ins Auge fassen, um uns klar zu werden, wo sich überhaupt ein Ansatzpunkt bietet, einem Menschenkind darin zu helfen:

Von grundlegender Bedeutung ist zuerst die physiologische Entwicklung des menschlichen Organismus. Sie vollzieht sich nach denselben Gesetzen wie die Entwicklung der übrigen belebten Natur, durchläuft deren wichtigste Stufe, und übertrifft die höchstentwickelten Tiere in ihrem Endstand, was den Feinbau und die Funktionsfähigkeit jener Organe betrifft, die Voraussetzung für das psychische Leben sind.

Halten wir aber fest, was wir überhaupt unter Psyche verstehen: Psyche nennen wir die Gesamtheit aller bewussten und unterbewussten Vorgänge und Zustände, soweit sie aus den physischen Funktionen eines Organismus zu erklären sind. Psyche setzt einen Organismus voraus, und hängt in ihrer Eigenart von seiner Beschaffung ab.

Außer dem Physischen und der Psyche ist [8] aber noch etwas im Menschen. Nennen wir es Pneuma. Der Schritt von der anorganischen zur organischen Natur ist uns unerklärlich. Aber wir nehmen ihn hin, und die Biologie baut auf der Tatsache auf, dass ein Teil der Natur eben belebt ist. Wie wir den einmaligen, schöpferischen Eingriff der Belebung anerkennen müssen, so zwingt sich uns als Tatsache auch die Erkenntnis auf, dass allein am Menschen zur Belebung noch ein zweiter, ähnlicher Eingriff des Schöpfers vollzogen wurde, die Beseelung. (Hier ist unter Seele nicht die Psyche gemeint, die jedem belebten Organismus eignet, und mit ihm sich entwickelt, sondern die Geistseele, das Pneuma). Dieses wird uns nur mittelbar, durch das Bewusstsein, das etwas Psychisches ist, fassbar in Ehrfurcht, Mitleid und Scham. Wir erkennen aber, dass hier etwas ganz Neues ist, nicht mehr psychologisch, nicht mehr aus der Entwicklung erklärbar, etwas, wozu in der ganzen übrigen Natur nicht der geringste Ansatz vorhanden ist. Dieselbe Kluft wie zwischen unbelebter und belebter Natur öffnet sich nun zwischen den übrigen Lebewesen und dem Menschen, denn er hat Ehrfurcht, Mitleid und Scham. Was aber sind diese drei zusammen anderes als die Liebe?

Halten wir also fest: Pneuma nennen wir die Ursache aller bewussten Vorgänge und Zustände beim Menschen, soweit sie ihrem Ursprung nach nicht aus den physischen Funktionen seines Organismus zu erklären sind. Das Pneuma, die Geistseele eines Menschen, setzt die Psyche voraus und hängt in ihrer Eigenart mit deren Beschaffenheit zusammen, jene ist aber nur Voraussetzung für das menschliche Leben, nicht Ansatz für das Pneuma.

Dem Schritt von der unbelebten zur belebten Natur, der Belebung, entspricht der Schritt vom Tier zum Menschen, die Beseelung. (Der dritte entsprechende Schritt sei nur in Klammer angemerkt: es ist die Begnadung, die den Menschen zum Christen macht.)

Im bewussten Ich des Menschen sind Psyche und Pneuma zu einer Einheit verbunden. Das Wesen des menschlichen Pneumas sehen wir in seiner Selbsterkenntnis. Sie entspringt aus der Bezogenheit auf das Du des Schöpfers, dem das Ich in Freiheit antworten kann, wenn es will. Die Antwort des Ich auf das Du des Schöpfers ist die Liebe. Die Kraft, zu antworten, ist der Wille. Das Pneuma ist also rein geistig. Es ist der besondere Name, mit dem Gott den Menschen anruft. Wie kann dieser rein geistige Anruf einer Entwicklung unterworfen sein!

Entwicklungsfähig am Menschen ist also allein sein Leib und im engsten Zusammenhang damit seine Psyche. Seine Geistseele  ist nicht entwicklungsfähig. Sie ist der Name, dem er gerecht werden muss, also der Plan seiner Entwicklung, dem er sich fügt, wenn er dem Anruf dieses Namens antwortet, das heißt, wenn er liebt.

[Wort und Bild: Ausdruck des Übernatürlichen durch die Natur
und zugleich Eindruck der Natur von der Übernatur;
Kunst für Kinder aus liebender Begegnung mit dem Sein]

Angerufen und dadurch beseelt ist also unser belebter [9] Organismus, der nun in jedem Augenblick seiner Entwicklung die entsprechende Antwort finden muss: Liebe. Nur Selbstsucht kann ihn verleiten, sich der Liebe zu verschließen, sie ist der Ursprung der Sünde, des Todes. Das Leben ist dagegen die Liebe, die Bezogenheit auf das Du, letztlich immer auf Gott durch jedes Du hindurch. Liebe konstituiert Ordnung, wie die Kraft eines Magneten ein Magnetfeld aufbaut, und zwar nach außen zum Du: das Verhältnis, die Beziehung, deren Ausdruck das «Wort» wird, und ‒ nach innen, im Ich ‒ die Erkenntnis des Du, die ja nur in der Liebe möglich ist, das «Bild».

Dieses Geheimnis ist uns schon aus dem Leben des dreifaltigen Gottes selbst geoffenbart, ist doch der Sohn das «Wort» und zugleich das «Bild», das «Ebenbild des Vaters».

«Gott ist die Liebe.»: Liebe sucht ein Zeichen. Das Zeichen der Liebe ist die Ordnung. Die Ordnung wird nur in der Liebe erfasst. Sie findet ihren Ausdruck in Wort und Bild. Wort und Bild sind die spezifisch menschlichen Hervorbringungen.

Wort und Bild  sind aber zugleich die Grundelemente der Kunst. Hier schließt sich der Kreis, und es wird uns klar, wie die Kunst entscheidende Bedeutung gewinnt, wo es um die Entwicklung des Menschen, wo es um die Entwicklung der Kinder geht:

Das Pneuma als die Spannung zwischen lebensspendendem und lebensempfangendem Du kann sich nicht entwickeln, es ist nur immer neu.

Wort und Bild  aber als der Ausdruck der Liebe durch das menschliche Du, das seiner Natur nach sich entwickelt, sind der Entwicklung unterworfen.

Wort und Bild  sind Ausdruck  des Übernatürlichen durch die Natur. Durch sie gewinnt aber ‒ und das ist unermesslich bedeutsam ‒ zugleich auch die Natur den Eindruck  von der Übernatur:

Durch Christus, der «Wort» und «Bild» ist, offenbart sich uns die Heiligkeit, wird uns die Ordnung dargestellt durch Gutheit, die unser Wille ergreifen kann in kindlicher Bereitschaft.

In Wort und Bild  versteht unser Verstand in der Wissenschaft die Ordnung, dargestellt durch Wahrheit, so wir staunen können wie die Kinder.

In Wort und Bild  erfühlt unser Gefühl die Ordnung, dargestellt durch Schönheit in der Kunst, so wir die Unbefangenheit der Kinder haben.

Das aber ist die Kraft von Wort  und Bild, dass sie in jedem, der nur irgendwie den Anfang macht, sich ihnen aufzuschließen, die Bereitschaft, das Staunen und die Unbefangenheit wachsen lassen.

Irgendwie ist jedes Kind aufgeschlossen. Wenn also in der Kunst Wort und Bilder, die wirklich aus ernster, liebender Begegnung mit dem Sein stammen, an die Kinder herangetragen werden, und ihrer Entwicklungsstufe angemessen sind, so wird durch sie wachsen: Bereitschaft, Staunen, Unbefangenheit ‒ wahrer Kindersinn, das Siegel menschlicher Reife:

Wie neu ist der Klang, den [10] die Wörter «Bildung», «Verantwortung» als Ziel jeder Erziehung in diesem Zusammenhang gewinnen.

[Das Joch der Kunst und ihre Leichtigkeit
im kindlich befreiten Spiel]

Diese Erwägungen nun ins Konkrete umzusetzen, wird unsere Aufgabe sein den Kindern gegenüber. Ich fürchte nicht, dass jemand von Ihnen jetzt noch glaubt, es sei leicht ‒ zum Beispiel‒, ein Bilderbuch für Kinder zu illustrieren. Es ist nicht leichter als aller Dienst unter dem Joch der Kunst. Wer traut sich zu behaupten, dass er ihn erfüllt? Wir dürfen es uns aber auch nicht zu schwer vorstellen, dem Kind zu dienen, sonst bleiben alle unsere Versuche krampfhaft.

Das Spiel  ist es, in dem vor allem das Kind empfänglich ist. Im Spiel  mit Kindern werden wir am ehesten den Weg zu ihnen finden, werden darin aber auch selber spielend befreit und kindlich werden. Darauf kommt es an: Die Kunst  verlangt den kindlichen Menschen, nicht nur das Illustrieren von Kinderbüchern, geht es doch in der ganzen Kunst um den Kindersinnn, der allein das Wesen des Seins begreift, in der Liebe.

Wir können der Verantwortung für die Kinder, wie sie sind, nur gerecht werden, wenn wir die Forderung erfüllen, selbst zu werden wie die Kinder sein sollen. Spielen sie mit Kindern, wo sie nur immer Gelegenheit haben, suchen sie überhaupt jede Gelegenheit, Kindern nahe zu kommen in der Klarheit des Gegenübertretens, die Clemens Brentano  in die Verse fasst:

Sei nicht bange um das Kind!
Laß es alles selbst verdienen.
Sei barmherzig, streng und lind,
Sei, wie Gott mit dir, mit ihnen.
Sei nicht bange um das Kind!
Wer dies einmal je empfunden,
Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!

Und ich möchte schließen mit einer anderen Strophe aus dem Lied vom Kind, die noch einmal alle unsere Erwägungen zusammenfasst:

Welche Würde trägt ein Kind!
Sprach das Wort doch selbst die Worte:
«Die nicht wie die Kinder sind,
Gehn nicht ein zur Himmelspforte.»
Welche Würde trägt ein Kind!
Wer dies einmal je empfunden,
Ist den Kindern durch das Jesukind verbunden!



Quelle: Privat-Archiv David Steindl-Rast OSB, Vortrag  Kind und Kunst  (späte 1940iger)

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