Br. David Steindl-Rast OSB
Das Wort «Krise» geht auf ein griechisches Wort zurück und bedeutet «sieben, trennen». Eine Krise entsteht, wenn alle Stricke reißen. Eine Krise konfrontiert uns mit der Notwendigkeit, das auszusieben, was lebensfähig ist, was überleben kann, von dem, was entfernt werden muss. Wenn wir bei diesem Bild des «Siebens» bleiben, finden wir in jeder Krise drei wichtige Elemente.
Während den frühen 1970er Jahren fügten Händler in Südindien dem Reis Sand und etwas Kies bei, um ihn schwerer zu machen und so mehr Geld für den Reis zu erhalten. In diesem Zustand konnte der Reis weder gekocht noch gegessen werden. Sauberer Reis war schlicht nicht erhältlich. Dies schuf eine kritische Situation ohne eine fertige Lösung.
Das ist das erste Element in einer Krise: die Erkenntnis, dass man einer Sackgasse gegenübersteht.
Es musste etwas geschehen. Ein Weg musste gefunden werden, um den Reis von Sand und Kies zu trennen. Das geschah mit großen Sieben aus Drahtgeflecht. Überall mussten die Frauen, bevor eine Mahlzeit gekocht werden konnte, Stunden um Stunden den Reis in grobmaschigen Sieben von Kies befreien, dann in einem sehr feinen Sieb den Reis vom Sand. Feines Material schlüpft durch die Löcher in den Sieben, grobes bleibt im Drahtgeflecht hängen. Einiges schlüpft durch, einiges bleibt zurück. Das Sand-Kiesgemisch bloß in ein Sieb zu geben, bringt nichts. Um den Reis von Sand und Kies zu trennen, mussten die Frauen die Siebe hin und her schütteln.
Ablösen, das zweite Element in jeder Krise, fordert Handeln.
Zuerst kommt die Erkenntnis, dass es sich um eine Sackgasse handelt. Dann folgt das Ablösen. Aber wie wussten die Frauen, wie sie handeln sollten? Irgendwo, irgendwann hatten sie gelernt, daß sie zum Trennen von Reis, Sand und Kies, Siebe verwenden können. Diese Erkenntnis geschah durch Wegleitung, das dritte Element in jeder Krise. Die Wegleitung zeigt dir, welche Maßnahmen du zur Bewältigung einer Krise ergreifen musst. Ohne diese Wegleitung würdest du nicht wissen, welche Maßnahmen du ergreifen musst, um loszuwerden, was weg muss.
Mit dem Blick auf die Sackgasse müssen wir etwas tun, nämlich sie erkennen. Manchmal stoßen wir auf eine Sackgasse und versäumen es, sie zu erkennen und «schlagen einfach unseren Kopf gegen die Wand». Je früher du eine Wand erkennst, hörst du auf, «Deinen Kopf gegen die Wand zu schlagen»: Aufmerksamkeit! Wachsamkeit hilft uns, eine Sackgasse zu erkennen. Aber etwas durchkreuzt dieser Wachsamkeit oft mit dem Eingeständnis, daß wir einer Wand gegenüberstehen. Und dieses Etwas ist die Angst. Angst lähmt uns. Wir können nicht mehr denken. Wir können eine Sackgasse nicht mehr als Sackgasse erkennen.
Was ist das Gegenteil von Angst? Annahme? Freude? Befreiung? Glaube? Es gibt viele Antworten auf diese Frage, aber in meinem Wortschatz passt Glaube als Gegenteil von Angst am besten. Viele erkennen dies oft nicht, weil Glaube oft mit «Glaubensinhalten» verwechselt wird. Dein Glaubenssystem kann in vielen Fällen hilfreich sein, aber in anderen Fällen kann es ein Käfig sein, in dem der Glaube gefangen ist. Aber Glaube, wie ich ihn verstehe, ist mutiges Vertrauen. Das ist die Grundbedeutung von Glauben: das genaue Gegenteil von Angst.
Hier muss man aber einen Unterschied machen, weil viele Ängste im Leben gesund und vernünftig sind. Man sollte sie haben, und sie sind ganz in Ordnung. Die Angst, von der wir sprechen, ist Ängstlichkeit oder Beklommenheit, die unvernünftige Art. Um Deine unvernünftigen Ängste zu erkennen, erstelle eine Liste von all Deinen Ängsten, und schau diese eine nach der anderen an. Ist diese Angst vernünftig? Wenn du Zweifel hast, sage Ja. Aber früher oder später triffst du auf Ängste, die absolut unvernünftig sind. Und dann kannst du nur den Kopf schütteln und Dich fragen «Warum habe ich diese Angst?». Dies ist eine ungesunde Angst; das ist Ängstlichkeit, das Gegenteil von Glauben. Aber wenn du Glaube hast, dieses mutige Vertrauen, bist du nicht länger gelähmt durch die Angst, sondern wachsam und lebendig genug, eine Sackgasse zu erkennen.
Nachdem wir die Sackgasse erkannt haben, was brauchen wir dann? In der zweiten Phase der Ablösung müssen wir uns getrauen, den Mut zu haben, durch alles zu gehen, was die Sackgasse mit sich bringt. Dieser Mut hat viel zu tun mit dem oft missverstandenen religiösen Begriff Losgelöstheit. Wenn es nichts gibt, das sich ablösen lässt, wenn Sand, Reis und Kies als nasse Masse einen Klumpen bilden, dann wird nichts mehr durch ein Sieb gehen. Und wir stecken fest. In einer Sackgasse muss etwas losgelöst werden. Und was losgelöst werden muss, falls alles gut geht, ist das, was nicht lebensfähig ist, das was keine Überlebenschance hat, was uns nur zurückhält und niederzieht.
Denk an den Geburtsprozess. Schau Dich um: du wirst niemanden sehen, der mit einer Plazenta herumläuft. Es gab eine Zeit, in der es hilfreich war, eine Plazenta an unserer Nabelschnur zu haben. Aber es wäre ziemlich umständlich, so durchs Leben zu gehen. Etwas muss abgelöst werden. Und obwohl es im Moment schmerzhaft ist, ist es auf die Länge befreiend. Dies symbolisiert Loslösung.
Als Nächstes kommen wir zum dritten Aspekt: Führung.
Stell Dir unter Führung etwas vor, das in dem Maße zu uns kommt, in dem wir uns darauf einlassen. Führung ist immer da.
Aber das ist wiederum unser Problem. Es ist zu schön, um wahr zu sein. Wir können ihr nicht vertrauen. Deshalb erfordert Glaube eine immense Anstrengung des Herzens. Eine Anstrengung wozu? Sich der Führung zu überlassen, die immer da ist. Es ist nicht so, dass wir verwaist herumsitzen würden und plötzlich, wenn wir in eine Sackgasse geraten, wirft uns jemand einen Rettungsanker zu. Nein! Wenn es etwas gibt, das vertrauenswürdig ist, etwas, dem wir wirklich vertrauen können, noch bevor die Krise überhaupt auftritt, dann dies: Die Führung, die schon da war, bevor wir waren, wird uns durch diese Krise führen. Diese Führung ist der Grundstein von allem.
Antwort auf eine Leseranfrage 2005
Quelle: Gratefulness (Übersetzung aus dem Amerikanischen Englisch von Eve Landis)