Br. David Steindl-Rast OSB

von eis zu wasserCopyright © - Wilfried F. Noisternig

Um der Klarheit willen möchte ich die Frage, die mir hier als Titel aufgegeben wurde, genauer formulieren. Der Begriff «Christentum» kann ja vielerlei bedeuten, je nachdem ob er in einem kulturellen, politischen, religiösen, geistesgeschichtlichen oder anderen Zusammenhang steht. Ich verwende ihn hier - einengend - für die christliche Lehre und - weiter einengend - für das Herzstück dieser Lehre, das christliche Gottesverständnis. Diese Einengung ist für mich notwendig, weil sich in meinem langen Leben als Christ und als Mönch manches andere, das ich am Christentum schätzte, als fragwürdig erwiesen hat.

Die anfangs gestellte Frage spitzt sich also für mich auf folgende zu: Was bewegt mich dazu, mich zur christlichen Lehre von Gottes Dreieinigkeit mit Überzeugung zu bekennen? Die Kurzantwort lautet: persönliche Erfahrung - eine Erfahrung, die so tief wurzelt, dass sie über individuelles Erleben hinausreicht und Allgemeingültigkeit beansprucht. Meine längere Antwort wird zu zeigen haben, auf welchem Erfahrungswege ich zu dieser Überzeugung gekommen bin, was sie beinhaltet, und was sie für die Zukunft verspricht.

Zunächst mein Erfahrungsweg. Seit meiner Kindheit in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts hat sich vieles in unserer Welt verändert. Meine Erinnerung reicht zurück in die Zeit vor dem Internet, vor dem Fernsehen, vor den Autobahnen. Der Flugverkehr hatte kaum begonnen, und unser Kino nannte sich stolz «Tonfilmtheater», weil Stummfilme schon seltener wurden.

Jeder Mensch ein einzigartiger Mystiker

Weit schwerwiegender als diese äußerlichen Veränderungen sind aber die unserer Innenwelt. Ich habe einen Bewusstseinswandel miterlebt, der sich zum Beispiel in einer ganz anderen Stellung der Frau in der Gesellschaft ausdrückt, in einer Umwertung der Sexualität, in einer neuen Sensibilität für Menschenrechte. Der tiefgreifendste Umschwung aber betrifft entschieden das vorherrschende Gottesbild.

Die Gottesvorstellung, die von der westlichen Gesellschaft vor sieben Jahrzehnten weitgehend vorausgesetzt wurde, verhält sich zur heutigen wie Eis zu Wasser - oder soll ich sagen, wie Wasser zu Dampf? Beide Bilder erscheinen mir zutreffend. Was starr festgelegt erschien, ist flüssig geworden; was begreiflich, ja fast greifbar erschien, hat sich «verflüchtigt.»

Was liegt dieser umwälzenden Veränderung zugrunde? Ganz kurz gefasst: Ein Wertwandel. Bis vor kurzem galt begriffliche Erfassbarkeit als höchster Wert. Heute bewertet ein ständig wachsender Teil der Gesellschaft das persönlich Erlebbare höher. Im religiösen Bereich äußert sich das als fortschreitende Entwertung der Dogmatik und als «Popularisierung» der Mystik. Ich verwende hier den Begriff «Mystik» im Sinne von «persönlicher Erfahrung göttlicher Wirklichkeit». In meiner Kindheit galten Mystiker als ganz einzigartige Menschen; heute sehen wir mit Recht in jedem Menschen einen ganz einzigartigen Mystiker - zumindest der Veranlagung nach. Ob wir dieser Veranlagung gemäß leben, ist damit noch nicht gesagt.

Hätte sich jemand in der Mitte des 20.Jahrhunderts, als ich Mönch wurde, angemaßt, mystische Erfahrungen zu besitzen, er wäre niemals in ein Kloster aufgenommen worden. Trotzdem zielte meine mönchische Ausbildung in jeder alltäglichen Einzelheit darauf ab, die persönliche Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit zu fördern und zu vertiefen. Wir jungen Mönche wären aber wohl ebenso erstaunt gewesen, hätte jemand das «Mystik im Alltag» genannt, wie Molières Bourgeois Gentilhomme erstaunt war, dass er sein Leben lang in «Prosa» sprach, ohne es zu ahnen.

Gipfelerlebnisse bei Buddhisten, Hindus, Pima, Schoschonen, Maoris...

Ein Jahrzehnt später zeigte Abraham Maslow von der Psychologie her, dass Gipfelerlebnisse («Peak Experiences») praktisch im Leben jedes Menschen vorkommen, und von klassischen mystischen Erlebnissen in keiner Weise unterscheidbar sind. Welche Tragweite Maslows Pionierarbeit für die Geistesgeschichte besitzt, wird auch heute noch nicht voll gewürdigt. Damals wußte ich noch gar nichts davon, sondern war selber mit Pionierarbeit beschäftigt, und zwar auf dem Gebiet interreligiöser Begegnungen. Mitte der sechziger Jahre hatte ich die Erlaubnis bekommen, für längere Zeit mit Mönchen anderer Traditionen zu leben, besonders mit Buddhisten und Hindus. Bei diesem Experiment, das damals noch völlig neu war, zeigte sich etwas Erstaunliches: Mönche weit auseinanderliegender Traditionen fanden, dass sie in ihrem innersten mönchischen Streben eins waren; allen ging es um das Gleiche, um «die persönliche Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit». Das wurde uns so klar, dass selbst die Weigerung der Buddhisten, das Wort «Gott» zu verwenden, die Einsicht nicht trüben konnte, dass wir alle mit derselben Wirklichkeit Erfahrungen machten.

Zugleich wurde uns bewusst, dass eine Tradition sich von der anderen dadurch unterschied, dass ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt derselben Wirklichkeit gerichtet ist. So sehen Buddhisten die letzte Wirklichkeit vor allem als jenes namenlos Unaussprechliche, das Ursprung und Ziel allen Daseins ist und als existentielles Schweigen erlebt wird. Für Juden, Christen und Muslime steht dagegen im Zentrum des Blickfeldes das Wort (im weitesten Sinn), die Wirklichkeit, in der sich das letztlich Unsagbare doch ausspricht und so für uns und in uns gegenwärtig wird. Für den Hindu ist von letzter Bedeutung das Verstehen, das im Tun zu sich selbst kommt.

Diese Darstellung ist freilich in zu groben Linien gezeichnet. Bei ursprünglicheren Traditionen, die ich durch Kontakt mit Indianerstämmen wie den Pima und Schoschonen, mit Maoris und australischen Ureinwohnern kennenlernte, ist die Akzentsetzung nicht so ausgeprägt. Aber auch die oben erwähnten haben es immer mit der ganzen Wirklichkeit zu tun, so wie ja Schweigen, Wort und Verstehen untrennbar zueinander gehören. Die Einsicht, die hinter dieser schematischen Darstellung steht, hat mir jedenfalls taugliche Schlüssel für das Verständnis anderer Traditionen in die Hand gegeben. Vor allem aber haben mich die Begegnungen mit diesen Traditionen die christliche Gottesidee in ganz neuem Licht sehen und neu würdigen gelehrt.

Die Einheit von Schweigen, Wort, Verstehen

Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, dem eigentlichen Inhalt der christlichen Gottesidee. Geistesgeschichtlich betrachtet war es die größte Leistung Jesu des Mystikers, dass er - wie, auf andere Weise, Buddha vor ihm - aus dem Bannkreis des Theismus ausbrach. Gott ist für Jesus nicht die für den Theismus kennzeichnende Gottheit, die, von uns getrennt, uns gegenübersteht; Jesus erlebt sich als mit Gottes eigenem Leben lebendig. Dass er von Gott als «Vater» spricht, schafft Raum für liebende Beziehung, trennt aber nicht; für semitisches Empfinden sind Vater und Sohn eins. Jedenfalls wird er schon in frühen Zeugnissen als ein Mensch dargestellt, der die göttliche Wirklichkeit für andere so überzeugend vergegenwärtigt, dass er nicht nur im Namen Gottes spricht, sondern selber Wort Gottes ist. Gottes eigener Lebensatem, der Heilige Geist, macht ihn lebendig, wirkt in ihm und lässt ihn den Vater sozusagen von innen her verstehen. Hier hat der Mensch am Sein Gottes Anteil, ist völlig eingetaucht in die göttliche Wirklichkeit. Gott ist keine Gottheit (auch nicht die oberste), sondern «in Gott leben wir, handeln und sind» (Apg17,28).

Jesus selbst sieht dieses Einssein mit Gott keineswegs als ein Privileg, das ihm allein zusteht. Er will dieses mystische Bewusstsein allen zugänglich machen. Im Johannes-Evangelium ist das so ausgedrückt: «Alle aber, die ihn aufnahmen, ermächtigte er, Gottes Kinder zu werden» (1,12). Und Paulus prägt immer neue Wortformen, um klar zu machen, dass wir alle «in» Christus am Leben Gottes Anteil haben.

Wenn Dogmen auftauen

So unausrottbar war jedoch der Theismus, dass der geistige Durchbruch Jesu wie ein Leck im Boot verstopft wurde, um so schnell wie möglich den Status quo wiederherzustellen. Die Lehre Jesu musste uminterpretiert und dem theistischen Weltbild eingefügt werden. So wurde der Aspekt der göttlichen Wirklichkeit, den Jesus «Vater» nannte, um die intimste Lebensgemeinschaft auszudrücken, zu einer von uns unendlich abgetrennten Vatergottheit. Schwieriger wurde es, die Teilnahme Jesu am Leben Gottes begrifflich in die Zwangsjacke des Theismus zu zwängen. Ganz überzeugend gelang das nicht, obwohl die schärfsten Geister sich drei Jahrhunderte lang darum bemühten. Die Teilnahme am Leben Gottes, die Jesus für alle Menschen gelehrt hatte, wurde jetzt auf ihn allein beschränkt. Mythische Umdeutung seiner Lehre machte ihn zum «Sohn Gottes» im Sinne von «Abkömmling einer Gottheit.» Der Heilige Geist, im ursprünglichen Verständnis einfach das göttliche Leben in allem Lebendigen, musste nun als «Person» verstanden werden, weil das im theistischen Rahmen erlaubte, wenigstens daran festzuhalten, daß «sie» (der Heilige Geist wurde als weiblich konzipiert) untrennbar zur göttlichen Wirklichkeit «dazugehört».

So wurden die Kennworte für die lebendige Gotteserfahrung Jesu - Vater, Sohn und Heiliger Geist - zur dreieinigen «Gottheit» theistisch umgedeutet und dogmatisch eingefroren. Wir dürfen, was sich da ereignete, als geistesgeschichtliche Katastrophe betrachten, es steht uns aber auch frei, es positiv zu sehen. Die westliche Welt war einfach noch nicht reif für die Botschaft Jesu. Sie wurde zu etwas anderem, wie Wasser, das zu Eis wird. Was wir den Kirchenvätern der ersten Jahrhunderte verdanken, ist, dass in den Dogmen, die sie uns hinterliessen, wirklich die bahnbrechende Gotteserfahrung Jesu enthalten ist, wenn auch in beinahe unkenntlicher Form.

An der Oberfläche jonglierten die Theologen mit Begriffen. Was sie aber ausdrückten, war - ihnen oft wohl selber unbewußt - die Ergriffenheit des eigenen Herzens von der persönlichen Erfahrung göttlicher Wirklichkeit. Jesus hatte davon, ohne die begriffliche Einengung, lebendiger und überzeugender gesprochen. Begrifflich eingefroren wurde aber das lebendige Wasser der Zukunft weitergegeben und für ein künftiges Tauwetter aufbewahrt.

Dennoch: in der Lehre der Kirche bleiben

Wir stehen an der Schwelle dieser Zukunft. Es beginnt zu tauen. Der Theismus bricht von innen her zusammen. Das ist ein Prozess, den nichts aufhalten kann. Und warum nicht? Weil wir eine geistige Entwicklungsstufe erreicht haben, auf der unser Verstand seine eigenen Grenzen absehen kann. Wir wissen jetzt, dass der Seinsgrund jenseits dieser Grenzen liegt. Nur unserer mystischen Erfahrung ist dieser Seinsgrund zugänglich. Solche Erfahrung lässt sich nicht in Begriffe fassen, bestätigt aber, was die christliche Dreifaltigkeitslehre begrifflich zu vermitteln sucht. Die Mystiker aller Zeiten und Traditionen stimmen darin überein, dass Gottheit im theistischen Sinn - der Gott oder die Göttin mit olympischem Eigendasein - reine Erfindung ist. Die theistische Gottheit steht nur eine Stufe höher als der Weihnachtsmann und ist das Produkt unserer Verfangenheit in Konzepten. Wenn konzeptuelles Denken Henri Bergsons «réification statique» (in etwa zu übersetzen: statische Vergegenständlichung, Verdinglichung) verfällt, wird Gott zur Gottheit.

Auch wenn wir diesen Prozess durchschauen, können wir ihm verfallen. Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon ist unser zähes Festhalten an alten Gewohnheiten. Ein anderer Grund ist der Druck, den religiöse Institutionen auf uns ausüben, die zwischen der Gottheit und ihren Mitgliedern vermitteln - und damit Geschäfte machen. Aus Gott lässt sich dagegen nichts herausschlagen; Gott ist jedem Menschen unvermittelt gegenwärtig. Aber oft ist uns das Sicherheitsgefühl, das eine selbstgebastelte Gottheit uns gibt, lieber als Rilkes Ausgesetztsein «auf den Bergen des Herzens».

Selbst wenn wir es wagen, auszubrechen aus dem Gefängnis, das wir aus Konzepten aufgerichtet haben, drohen Gefahren. Die naheliegendste ist die Gefahr, jetzt umzukippen in begriffsfeindliche Gefühlsduselei. Oder es kann vorkommen, dass wir uns plötzlich entwurzelt fühlen und verloren, als ob wir bei Null beginnen müssten. Es besteht auch die Gefahr, dass wir uns auf uns selber zurückziehen. Dies droht dem unausgegorenen Mystiker ständig. Über alle diese Gefahren hilft die christliche Gotteslehre hinweg. Schon allein, dass sie von einer Tradition getragen wird, kommt dem Gefühl, entwurzelt zu sein, zuvor und gibt uns in einem größeren Ganzen ein Zuhause. Diese Lehre verlangt scharfes, aber nüchtern selbstkritisches Denken und zugleich die Glut persönlicher Gotteserfahrung. Wenn diese beiden aber zusammenkommen, dann schmilzt das theistische Eis der Dogmen und lebenspendendes Wasser sprudelt.

In vielen Gesprächen sagten mir nicht nur Christen, sondern auch Menschen, die dem Christentum fernstehen, dass die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ihrer eigenen mystischen Erfahrung entspricht. Hier haben wir es mit Allgemeingut der Menschheit zu tun, weil es um mystische Einsichten geht, die allen Menschen zugänglich sind. Hindus, Buddhisten, ja Menschen, die sich als Agnostiker oder Atheisten bezeichnen, haben mir das bestätigt.

Solange das theistische Weltbild in unserer Gesellschaft noch fraglos gültig war, verband uns Verantwortlichkeit vor der strafenden oder belohnenden Gottheit. Was seitdem unsere Epoche kennzeichnet, ist Verantwortungslosigkeit. Unsere Zukunft, ja unser Überleben könnte davon abhängen, dass wir eine neue, nicht-theistische Grundlage finden für verantwortungsvolles Umgehen mit Umwelt und Mitwelt. Die christliche Gottesidee wäre dafür einzigartig geeignet. Sie muss weder geglaubt noch bewiesen werden, sondern ist dem Mystiker in jedem Menschen direkt zugänglich. In der Beziehung zum «Vater» ist alles Positive der theistischen Ehrfurcht bewahrt, aber ohne die Furcht. Die «Inkarnation», die sich weder auf Jesus allein noch auf die Menschheit beschränken lässt, sichert dem ganzen Kosmos und jedem kleinsten Teil davon unsere Ehrfurcht und macht uns dafür verantwortlich. Wenn der göttliche Lebensatem den ganzen Kosmos füllt, alles zusammenhält und jede Sprache spricht, so sind wir als Menschheitsfamilie verantwortlich, uns von diesem Geist leiten zu lassen. Hier liegt die uns alle verbindende, für uns alle verbindliche Grundlage für eine verantwortungsvolle Gestaltung unserer Welt. Niemand muss uns das beweisen, noch müssen wir es jemandem glauben; wir brauchen nur unser menschliches Herz befragen und, was es uns sagt, tun.



Quelle: Originaltext von David Steindl-Rast in Christ in der Gegenwart  2003

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