Br. David Steindl-Rast OSB

terrorismus oder humanismusCopyright © - Klaudia Menzi-Steinberger

Gleich im Voraus will ich sagen, worum es mir hier nicht geht: Ich will keineswegs Pressefreiheit in Frage stellen; sie ist ein Menschenrecht und muss verteidigt werden. Ebenso fern liegt es mir, Terrorismus zu verteidigen; ich trete mit Überzeugung für Gewaltfreiheit ein.

Worum es mir aber geht: Ich will daran erinnern, dass Pressefreiheit missbraucht werden kann und missbraucht wurde. Es geht mir darum, zu fragen: Wieso lassen sich junge Menschen überhaupt zu einem Terrorakt verführen?

Zur Beantwortung dieser Frage gibt mir persönliche Erfahrung einen Ansatzpunkt. Ich bin alt genug, um auf Parallelen aus meiner eigenen Jugend zurückgreifen zu können, auf die Verführung junger Menschen durch Nazipropaganda. Das Stichwort war damals Dekadenz im Sinne von Werteverfall und Werteverlust einer Gesellschaft.

Der Verlust der Ehrfurcht

In der christlichen Jugendbewegung setzten wir uns Mitte der 1930er-Jahre sehr bewusst für gesunde Werte ein. Wir hatten offene Augen für die fortschreitende Zersetzung von Werten in der abendländischen Gesellschaft, teils von innen her, teils durch Einflüsse «von außen». Der Nationalsozialismus spielte sich als Bollwerk gegen diese Dekadenz auf und es gelang ihm dadurch -anfangs zumindest - viele der besten jungen Menschen zu verführen, die bereit waren, für hohe Ideale sogar ihr Leben einzusetzen. Eine ähnliche Gefahr droht heute offenbar jungen Muslimen.

Was die Terroristen in Paris aufstachelte, war nicht die Pressefreiheit, sondern ihr schamloser Missbrauch: ehrfurchtslose Verletzung religiöser Sensibilität. Wache junge Muslime haben ein gesundes Gefühl für traditionelle Werte ihrer Kultur. Sie sehen sich bedroht, weil unsere Gesellschaft Werte missachtet, die ihnen heilig sind - etwa die Ehrfurcht. Unser Werteverlust muss ihnen dekadent erscheinen - und ist es leider tatsächlich. So spielen wir selber, wenn auch unabsichtlich, eine entrüstete Jugend radikalen Elementen in die Hände.

Je höher ein Wert, umso höher ist auch der Grad der Verantwortung, die er uns auferlegt. Pressefreiheit ist ein hoher, ein in der Geschichte teuer erkaufter Wert. Wir schulden denen, die uns ein so kostbares Erbe hinterlassen haben, ein Doppeltes: diese Freiheit unversehrt zu erhalten, sie aber auch verantwortungsbewusst zu gebrauchen.

Die Menschenmassen, die nach dem Pariser Anschlag für Pressefreiheit demonstrierten, sich für den Anspruch der Ehrfurcht aber blind zeigten, übersahen offenbar eine Hälfte unserer Aufgabe. Sie übersahen den Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung. Wie können wir Pressefreiheit verteidigen, wenn wir nicht zugleich die Ehrfurcht verteidigen?

Zum Glück gibt es aber Unzählige, denen grundlegende Werte wie Ehrfurcht auch heute noch Halt und Richtung geben. Solche Menschen finden sich auch in unserer Gesellschaft, hüben und drüben aller Grenzlinien - der politischen, der kulturellen, der religiösen. Wenn diese wahren Humanisten erst einmal über die Grenzen hinweg einander zurufen, einander finden und zu gemeinsamer Tatkraft erwachen, dann haben wir endlich ein weltweit gemeinsames Fundament gefunden für Hoffnung auf eine friedliche Welt.

Gegenseitiges Anklagen führt zu nichts; wir können es uns nicht mehr leisten; wir haben nicht mehr Zeit dafür. Die Fehler der Anderen anzukreiden hilft nichts. Nur unsere eigenen Fehler können wir ändern. Und dass wir es tatsächlich können, wenn wir nur wollen, darin liegt unsere Hoffnung. Den Werteverfall unserer Gesellschaft einzusehen, ihn einzugestehen und uns bleibenden menschlichen Werten aufs Neue zu verpflichten. Auf diese drei Schritte kommt alles an. Auch jede Verständigung mit dem Islam setzt sie unsererseits voraus.

Es geht darum, zu verhindern dass sich noch mehr Menschen verführen lassen. Nur Verständigung, nicht Polemik, hat da Wirkkraft und Zukunft. Dieser historische Augenblick ruft uns dazu auf, solidarisch mit Gleichgesinnten in der muslimischen Welt für einen der höchsten menschlichen Werte einzutreten, für die Ehrfurcht. Wir haben die Wahl: Humanismus oder Terrorismus. Wer nicht einsehen will, dass Beleidigung der religiösen Ehrfurcht Anderer ein Menschenrechtsverbrechen ist, schürt das Feuer des Terrorismus.

Verständigung und Zusammenarbeit

Nur gemeinsam mit den Humanisten muslimischer Kulturen können wir die Wiedergewinnung allgemein menschlicher Werte erhoffen. Unser gemeinsames Anliegen verlangt Verständigung und Zusammenarbeit. Es liegt an uns, die politisch und religiös Verantwortlichen aufzufordern, ja anzuhalten, Anschuldigungen durch Verständigungsversuche zu ersetzen.

Diese Aufgabe ist aber zu dringend, um zu warten, bis Regierungen und religiöse Autoritäten aufwachen. Es liegt an uns, unsere muslimischen Nachbarn zu finden, einzuladen und zu besuchen, uns in ihre Anliegen einzufühlen, uns bewusst zu machen, was uns verbindet, Probleme ehrlich einzugestehen und gemeinsam an ihrer Überwindung zu arbeiten. Uns diesem Ziel neu zu verpflichten, dazu will uns das entsetzliche Verbrechen in Paris Weckruf sein. Nur gemeinsam kann uns die ungeheure und zugleich unumgängliche Aufgabe gelingen: Erneuerung der Gesellschaft durch bleibende menschliche Werte. Geht es nicht uns allen um eine friedliche Zukunft?



Quelle: Wochenzeitung DIE FURCHE  vom 5. Februar 2015

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