Br. David Steindl-Rast OSB

der menschliche geist ist einsCopyright © - pixabay

u n 1975 sri chinmoy mother theresaLinks Sri Chinmoy; Mitte Mutter Theresa; Rechts Bruder DavidIm Oktober 1975 kamen anlässlich des dreißigsten Jahrestags der Gründung der Vereinten Nationen führende Persönlichkeiten der Glaubensgemeinschaften der Hindus, Buddhisten, Christen, Muslime und Juden zusammen, um gemeinsam die für den Fortschritt notwendigen moralischen und spirituellen Dimensionen zu erörtern. Die Abschlussfeier fand im Dag Hammarskjöld-Auditorium der UN statt. Die Sprecher des Buddhismus, Islams und Judentums brachten übereinstimmend ihren Glauben und die Einheit der Menschheit zum Ausdruck. Diese Zeremonie schloss mit einer Meditation unter Anleitung von Bruder David Steindl-Rast OSB.
 

Schwestern und Brüder im Geist

Da wir im Herzen wirklich eins sind, sollten wir es fertigbringen, einen gemeinsamen Ausdruck für den Geist zu finden, der uns in diesem Augenblick bewegt. Aber die Vielfalt unserer Sprachen neigt dazu, uns zu trennen. Doch wo die Sprache mit Wörtern versagt, kann die stille Sprache von Gesten helfen, unser Eins-Sein zum Ausdruck zu bringen. Verwenden wir also diese Sprache. Stehen wir auf und bleiben wir aufrecht steh

Unser Aufstehen soll der Ausdruck dafür sein, dass wir wachsen und uns der Gelegenheit in tiefer Achtsamkeit gewachsen zeigen.

Lassen wir unser Stehen zur achtsamen Geste werden: Stehen wir achtsam auf dem Boden, auf dem wir stehen, dem kleinen Stück Land auf dieser Erde, das nicht einer einzelnen Nation gehört, sondern allen miteinander vereinten Nationen. Das ist tatsächlich ein winziges Stück Land, aber es ist ein Symbol der Eintracht der Menschen, sein Symbol für die Wahrheit, dass diese arme, schlecht behandelte Erde uns allen gemeinsam gehört.

So stehen wir also hier wie Pflanzen auf einem guten Stück Boden. Senken wir jetzt unsere Wurzeln tief in unser verborgenes Eins-Sein hinab. Spüren wir dem nach, was es heißt, zu stehen und unsere inneren Wurzeln auszubreiten.

Setzen wir uns jetzt verwurzelt im Boden des Herzens dem Wind des Geistes aus, des einen Geistes, der alle bewegt, die sich bewegen lassen. Wir wollen tief den Atem dieses einen Geistes einatmen.

Lassen wir unser Stehen zum Zeugnis dafür werden, dass wir auf gemeinsamem Grund einen Standpunkt einnehmen.

Lassen wir unser Stehen zum Ausdruck der Ehrfurcht vor all denen werden, die vor uns für die Einheit der Menschen eingestanden sind.

Stehen wir mit Ehrfurcht auf dem Grund unseres gemeinsamen menschlichen Unterfangens und verbinden wir uns mit all denjenigen, die schon auf diesem Grund gestanden haben, von den ersten Herstellern von Werkzeugen bis zu den Ingenieuren der komplexesten Maschinen und Institutionen.

Stehen wir mit Ehrfurcht auf dem gemeinsamen Grund der Suche des Menschen nach Sinn, Seite an Seite mit all denen, die jemals auf diesem Grund gestanden haben, die hier nachgedacht und gesucht haben, hier die Schönheit gefeiert haben, hier mit Hingabe ihren Dienst verrichtet haben.

Stehen wir mit Ehrfurcht vor all denjenigen, die auf unserem gemeinsamen Grund aufgestanden sind, um mitgezählt zu werden; aufgestanden sind – und niedergemäht wurden.

Denken wir daran, dass aufstehen, wie wir jetzt aufgestanden sind, bedeutet, bereit zu sein, unser Leben für das hinzugeben, wofür wir stehen.

Stehen wir in Ehrfurcht vor den Tausenden und Abertausenden ‒ Bekannten und Unbekannten ‒, die ihr Leben für das gemeinsame Anliegen unserer Menschheitsfamilie hingegeben haben.

Neigen wir das Haupt. Neigen wir unser Haupt vor ihnen.

Stehen wir und neigen wir unser Haupt, weil wir der göttlichen Gerichtsbarkeit unterstehen.

Wir unterstehen dem Gericht des Daseins, denn «Eins ist der Menschen Geist». Wenn wir eins sind mit den Helden und Propheten, dann sind wir auch eins mit jenen, die sie verfolgt und getötet haben. Wir sind eins mit den Handlangern und genauso eins mit den Opfern. Wir alle haben Anteil an der Herrlichkeit und Großartigkeit des Menschen und auch an der Schande des Scheiterns von uns Menschen.

Ich möchte dich jetzt dazu einladen, dich auf den unmenschlichsten Vernichtungsakt zu konzentrieren, den du in deiner Erinnerung finden kannst. Und jetzt nimm diesen, vereine ihn mit aller Gewalttätigkeit, aller Gier, Ungerechtigkeit, Dummheit, Heuchelei und allem menschlichen Elend, und hebe all das mit der ganzen Kraft deines Herzens hoch hinauf in den Strom des Mitgefühls und der Heilung, der durch das Herz der Welt pulsiert ‒ in diese Mitte hinein, in der alle unsere Herzen eins sind. Das ist keine einfache Geste. Manchen von uns mag sie viel zu schwer erscheinen. Aber solange wir nicht mit unseren tiefsten Wurzeln an diese gemeinsame Quelle der Eintracht und des Mitgefühls heranreichen und sie anzapfen können, haben wir noch nicht in unseren Herzen dieses Eins-Sein in Anspruch genommen, das unser gemeinsames menschliches Geburtsrecht ist.

Stehen wir also fest in diesem Einssein und schließen die Augen.

Schließen wir die Augen, um unseren Geist auf das innere Licht zu konzentrieren, unser eines gemeinsames Licht, in dessen Schein wir fähig sein werden, sogar im Finstern gemeinsam zu gehen.

Schließen wir die Augen als Geste des Vertrauens auf die Führung durch den einen Geist, der uns bewegen wird, wenn wir unsere Herzen weit öffnen.

Eins ist der Menschen Geist», aber der Menschen Geist ist mehr als nur menschlich, denn das Herz des Menschen ist unauslotbar. In diese Tiefe wollen wir still unsere Wurzeln senken. Darin liegt unsere einzige Quelle des Friedens.

friedenstaube

Nach ein paar Minuten werde ich euch einladen, wieder die Augen zu öffnen, und zugleich auch, euch in diesem Geist der euch am nächsten stehenden Person zuzuwenden und ihr den Friedensgruß zu entrichten. Wir wollen unsere Feier in dieser Geste zum Höhepunkt kommen lassen und zum Abschluss bringen. Wir ermächtigen einander mit dem Friedensgruß, in der Welt als Botschafter des Friedens zu wirken.

Der Friede sei mit euch allen!



Quelle: Auszug aus Auf dem Weg der Stille  (2016 / 2023), Übersetzung von Bernardin Schellenberger.
Am 19.10.2023 durch Bruder David die von Undine Dellisch und Hans-Günther Schwarz revidierte Übersetzung genehmigt.
Meditations-Text in Englischer Sprache

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