Andreas Salcher schreibt in seinem Buch «Der verletzte Mensch» ein Kapitel über David Steindl-Rast OSB
David Steindl-Rast ist ein einfacher Benediktinermönch. Er lebt das halbe Jahr in einer Einsiedelei in Elmira nördlich von New York und verwirklicht dort das alte Mönchsideal. Das heißt für ihn aber nicht, sich darum zu bemühen, frommer oder gar heiliger als andere zu sein, sondern an einem Ort zu leben, der ihm erleichtert, im Jetzt zu leben. Die andere Hälfte jedes Jahres reist er um die Welt und hält Vorträge auf allen Kontinenten. Seine Zuhörer reichen von den Ärmsten der Armen in Zaire bis zu den Fakultäten der US-Top-Universitäten Harvard und Columbia, von buddhistischen Mönchen bis zu islamischen Sufis, von Papago-Indianern bis zu den Kadetten der Marine-Akademie in Annapolis, von Missionaren auf den polynesischen Inseln bis zu den Green Berets der US-Armee. Bevor er Benediktiner wurde, studierte er Kunst, Anthropologie und Psychologie in Wien. 1965 beauftragte ihn der Vatikan, sich auf dem Gebiet des Interreligiösen Dialogs zwischen dem Christentum und Buddhismus zu engagieren. Um diese Mission erfüllen zu können, lebte und studierte Bruder David viele Jahre im ersten amerikanischen Zen-Kloster in Tassajara, das vom berühmten Zen-Meister Shunryu Suzuki Roshi gegründet wurde.
Was macht Bruder David so besonders? Man spürt, dass er lebt, was er sagt. Seine Spiritualität ist nicht abgehoben, sie ist konkret. Sie ist sichtbar, wenn man ihm in die Augen blickt, sie ist hörbar, wenn er die Stimme erhebt, und sie berührt, weil man sich sofort mit seinem Herzen verbunden fühlt. Ich konnte mit der Kirche eigentlich immer sehr wenig anfangen und sehe mich eher als Suchenden denn als praktizierenden Gläubigen. David Steindl-Rast war der Erste, der mich einen Hauch davon spüren liess, was das Prinzip von Jesus gewesen sein muss, was echte Menschenliebe bedeutet. Ich weiß nicht, wie Bruder David es macht, aber nach meinen persönlichen Begegnungen empfinde ich einfach immer den Wunsch, ein etwas besserer Mensch zu werden.
Das ist ihm nicht nur bei mir gelungen. Wo immer er ist, sammeln sich Menschen um ihn, füllen sich Räume und alle hören gebannt zu. Er hat die unwahrscheinliche Gabe, die Herzen der Menschen zu öffnen. Hätte die katholische Kirche elf mehr, die aus dem Holz von Bruder David geschnitzt sind, dann würden sich ihre Probleme wie leere Kirchen, fehlender Priesternachwuchs und die Abwendung der kritischen Intelligenz langsam in Luft auflösen.
Sie sind neugierig, Sie haben Zweifel? Kein Problem, gerade weil ich selbst ein grosser Skeptiker gegenüber allen vermeintlichen Gurus bin, habe ich jedes Verständnis dafür. Denn von der Übersinnlichkeit ist es nur ein kleiner Schritt zur Widersinnlichkeit, würde Bruder David selbst sagen. Machen Sie daher kurz die Probe auf das Exempel. Setzen Sie sich an den nächsten Computer und hören und sehen Sie Bruder David knapp sechs Minuten zu, wenn er über „A good day“ spricht.
Es wird Ihnen einfach besser gehen. Wenn Sie sich das Video angesehen haben, werden Sie dankbar sein und mit noch mehr Freude weiterlesen. Ohne David Steindl-Rast einmal kurz gesehen zu haben, wird dieser letzte Teil des Buches für Sie vielleicht nicht jene Wirkung entfalten können, die er sonst auf Sie hätte. Der eine Tag, durch den uns Bruder David führt, zeigt, wie viele Gelegenheiten es gäbe, ein guter und glücklicher Mensch zu sein.
Dieses Video ist, wenn Sie so wollen, die Einführungsvorlesung in die «Schule des Herzens». Sie öffnet unser Herz.
Wenn Sie selbst keinen Computer haben, dann ersuchen Sie jemanden, der Zugang hat, das Video gemeinsam anzusehen.
Wenn Sie meinen, Ihr Englisch sei nicht gut genug, werden Sie trotzdem alles verstehen, denn die Sprache des Herzens bedarf keiner Übersetzung. Die Spiritualität von Bruder David ist eine sehr sinnliche und er findet sie oft an völlig ungewohnten Orten.
Dankbarkeit oder wie man Spiritualität in einer Mandarine findet
«In unserer täglichen Geschäftigkeit stumpfen unsere Sinne ab. Unser Trommelfell wird oft dermaßen bombardiert, unsere Geschmacksnerven werden überfahren und unsere Nahrung ist so fett, dass wir gar nichts mehr richtig hören und überhaupt nicht mehr schmecken, was wir essen. Ohne Sinne finden wir aber keinen Sinn. Ohne Sinne gibt es keine Erkenntnis und Erfahrung. Schauen und Hören, Schmecken und Riechen sind wesentliche Orte unserer Spiritualität. Das Schlüsselwort für meinen Zugang zu Spiritualität heißt Horchen, damit ist eine besondere Art des Horchens gemeint, das Hinhorchen des Herzens.»
«Das erfordert natürlich tägliches Training, zum Beispiel wie ich eine Mandarine esse. Schon beim Abschälen spricht der leichte Widerstand der Schale zu mir, wenn ich wach genug zum Horchen bin. Ihre Beschaffenheit, ihr Duft spricht eine unübersetzbare Sprache, die ich erlernen muss. So kann ich erkennen, dass jede kleine Spalte ihre eigene, besondere Süße hat. Auf der Seite, die von der Sonne beschienen wurde, sind sie am süßesten. All dies ist reines Geschenk und bietet uns Gelegenheit zur Dankbarkeit. Echte Dankbarkeit schaut jedoch nicht vornehmlich auf das Geschenk, um es gebührend zu würdigen, sondern sie schaut auf den Geber und bringt Vertrauen zum Ausdruck.Danken zu lernen, selbst wenn uns die Güte des Gebers nicht offenbar ist, heißt, den Weg zum Herzensfrieden finden. Denn nicht Glücklichsein macht dankbar, sondern Dankbarsein macht uns glücklich.»1
Das Geschenk in jedem Geschenk ist immer die Gelegenheit, die es enthält. Meistens ist es die Gelegenheit, sich zu freuen und den Augenblick zu genießen. Wir achten viel zu wenig auf die vielen Gelegenheiten, die wir täglich erhalten, einfach um uns zu freuen: an der Sonne, die über den Bäumen scheint, über den Tau, der auf einer eben aufgegangenen Blume glitzert, am Lächeln eines Babys oder über eine lang erwartete Umarmung durch einen geliebten Menschen. Oft gehen wir wie im Schlaf durchs Leben, bis etwas kommt, an dem wir keine Freude haben: erst dann werden wir wachgerüttelt. Wenn wir lernen, die zahllosen Gelegenheiten wahrzunehmen, die uns Grund zur Freude geben am Geschenk des Lebendigseins, sind wir auch besser vorbereitet, wenn uns das Leben vor schwierige Prüfungen stellt. Dann werden wir auch in diesen Herausforderungen Gelegenheiten zu lernen erkennen und dankbar dafür sein. Das was uns Bruder David lehren will, ist, dass wir für alles dankbar sind, was uns gegeben wird, gleichgültig, wie unwillkommen uns das erscheinen mag. Dann kann Dankbarkeit eine Quelle des Glücks sein.
Mir ist natürlich bewusst, wie ungewohnt, vielleicht unrealistisch das klingt, wenn man es das erste Mal hört. «Wie können wir für den Terrorismus, die Umweltzerstörung oder das Elend vor unserer eigenen Haustür dankbar sein?», fragen viele Menschen Bruder David. «Über diese Dinge an sich können wir uns natürlich keineswegs freuen, doch dafür, dass sie uns Gelegenheit geben, etwas dagegen zu unternehmen. Wenn genügend Menschen fragen: ‚Was können wir tun?‘, dann werden wir schließlich Lösungen auch für unsere dringendsten Probleme finden.»
Das Gegenteil von Dankbarkeit ist, alles selbstverständlich zu sehen. Erst indem wir Überraschungen in unser Leben hereinlassen, eröffnen wir uns viele Möglichkeiten, uns zu freuen. Überraschung ist noch nicht Dankbarkeit, aber mit ein bisschen gutem Willen wächst sie von ganz allein zu Dankbarkeit heran. Die kleine Tochter sieht ihre Mutter an und fragt: «Mutti, ist es nicht erstaunlich, dass es mich gibt?» Kinder wissen instinktiv, wie unvergleichlich es ist, dass es überhaupt irgendetwas gibt. Dieses kleine Kind existiert noch in jedem von uns, wir müssen es nur befreien und dazu ermutigen, selbst wieder solche Fragen zu stellen.
Zeit für das Wichtige – was wir in den Klöstern über die Zeit lernen können
«Im Kloster ist Zeit etwas völlig anderes als das, was Uhren messen können. Die Zeit gehört uns nicht. Wir behaupten, Zeit zu haben, Zeit zu gewinnen, Zeit zu sparen; in Wirklichkeit gehört uns die Zeit nicht. Sie wird nicht von der Uhr abgelesen, sondern daran, wann es Zeit ist. So werden im Kloster Dinge nicht getan, wenn einem gerade danach zumute ist, sondern wenn es dafür Zeit ist. Nach der Regel des Heiligen Benedikt wird von einem Mönch erwartet, dass er die Feder aus der Hand legt im Augenblick, wo die Glocke läutet, und nicht einmal mehr ein Pünktchen aufs i setzt. Das ist die Askese der Zeit.»
Für den modernen Menschen, der alle paar Minuten seine E-Mails checkt, dessen persönlichen Gespräche ständig durch
Telefonate unterbrochen werden, hört sich dieser kurze Ausflug in die klösterliche Welt wie eine Reise zu einem weit entfernten Planeten an. Mit Informationen übersättigt, oft jedoch aller Sinne beraubt, haben wir das Gefühl, in einem endlosen Strudel von Pflichten und Aufgaben gefangen zu sein. In vielen Organisationen herrscht ohnehin schon das Motto von Mark Twain: «Nachdem wir endgültig das Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir die Anstrengungen.» Unsere westliche Leistungsgesellschaft verstärkt dann noch die Auffassung von Zeit als einem beschränkten Gut: Ständig müssen wir Termine einhalten, ständig fehlt uns Zeit. Wir leben in der Zeit des rasenden Stillstands.
Dabei wäre alles ganz einfach. In dem Augenblick, wo wir unsere Zeit loslassen, haben wir alle Zeit der Welt. Wir sind dann jenseits der Zeit, weil wir in der Gegenwart sind, im Jetzt, das die Zeit überwindet. Einer der wesentlichen Gründe für das Unbehagen in unserem gestressten Alltag liegt darin, dass wir entweder ständig in der Vergangenheit grübeln oder uns Sorgen über die Zukunft machen und dabei vergessen, dass unser Leben ausschließlich im Jetzt stattfindet. Die Mönche werden daran durch die Glocken, durch die regelmäßigen Gebete, durch die Gesänge erinnert. Das „Tue, was du tust“ fordert sie auf, was sie tun, wirklich zu tun. Das heißt, auch scheinbar Unproduktives wie Singen oder Spazieren, Routinetätigkeiten wie Gemüse schneiden oder Bücher abstauben und Lustvolles wie Essen, Trinken und Feiern wirklich zu tun und nicht ständig von einem schlechten Gewissen getrieben zu werden, dass es jetzt eigentlich Wichtigeres, Dringenderes und vor allem Produktiveres zu tun gäbe.
Aus meiner eigenen Erfahrung aus Wirtschaft und Politik weiß ich, je mehr Macht man über andere gewinnt, umso weniger Macht hat man über seine Zeit. Hat man es ganz an die Spitze einer riesigen Organisation wie eines Unternehmens oder eines Ministeriums geschafft, erhält man jeden Morgen ein Blatt Papier, auf dem der gesamte Tag bis in das kleinste Detail durchgeplant ist. Man wird zum völligen Sklaven seiner Zeit.
Ich frage Bruder David, wie er damit umgeht, dass sich ja weit mehr Menschen an ihn wenden und ihn treffen wollen, als er das tun kann? «Ich prüfe immer, wer mich dringender braucht. Und ich halte Zusagen, die ich einmal gegeben habe, ein.» Er nimmt sich auch Zeit für sich selbst, dann erhalten alle Freunde von ihm eine E-Mail, in der er sie in liebevollen Worten um Verständnis dafür ersucht, dass er jetzt in eine Klausur oder auf eine Reise geht und daher die nächsten drei Monate nicht erreichbar sein wird.
Die neuen Reichen werden die Zeitreichen sein. Zeitreichtum heißt, die Macht zu haben, seine Zeit für jene Dinge zu nutzen,
die einem wirklich wichtig sind. Das ist übrigens ganz leicht herauszufinden. Schreiben Sie einfach alles, was Ihnen in Ihrem
Leben wichtig ist, auf ein Post-it-Zettelchen. Wenn Sie sich dann fragen, wie viel Zeit Sie jeden Tag dafür aufwenden, was da auf dem kleinen gelben Stück Papier geschrieben steht, wird Ihnen schnell bewusst, dass das eine gute Gelegenheit ist, einiges zu ändern.
Das Schöne ist, dass ausreichend Zeit für alle da ist. Die Zeit ist immer im Jetzt. Wir brauchen leider meist Krankheiten oder
schwere Schicksalsschläge, um plötzlich in das Jetzt geworfen zu werden. Das Geheimnis der Zeit liegt in diesem Gedicht von Jorge Louis Borges verborgen:
«Die Zeit ist ein Strom, der dich mitreißt, aber du bist der Strom.
Sie ist ein Tiger, der dich zerfleischt, aber du bist der Tiger.
Sie ist ein Feuer, das dich verzehrt, aber du bist das Feuer.»
Es gibt viele einfache Möglichkeiten, dieses Leben im Jetzt zu üben. So empfiehlt uns Bruder David, jeden Tag eine Viertelstunde früher aufzustehen, um etwas Zeit für uns selbst zu gewinnen. Zeit, in der wir nichts Praktisches zu tun brauchen. An dieser zusätzlichen Zeit können wir uns einfach erfreuen, nur das zu tun, was wir genießen wollen. Manche hören Musik, andere meditieren und wieder andere trinken ganz bewusst und völlig ungestört ihren Kaffee oder Tee. Diese kurze Einstimmung und Begrüssung des neuen Tages erdet uns in uns selbst, bevor wir uns dem Notwendigen des Tagesablaufs ausliefern.
Wenn wir am Beginn des Tages nicht fragen: «Wie hole ich heute am meisten aus diesem Tag heraus?», sondern: «Wie kann ich jemanden ein wenig glücklicher machen?», sind wir am Ende selber glücklicher. Jemand, der die frühe Morgensonne als Geschenk erlebt hat, wird viel eher wie eine kleine Sonne durch den Tag gehen und anderen Menschen strahlend entgegenkommen. Wir können lächeln. Wir können andere wärmen. Wir können den Tag für andere aufhellen.
Die «Schule des Herzens» heißt, die Anforderungen und Aufgaben des Tages aus ganzem Herzen anzugehen. Arbeit wird von vielen als notwendiges Übel gesehen, um die Miete zahlen zu können. Die Maxime «Zeit ist Geld» treibt die Wirtschaft in immer neue Effizienzsteigerungsprogramme hinein, durchleuchtet jede Lücke in der Organisation nach Einsparungspotenzialen, um dann an der Börse zu sehen, dass auf einmal die ganze Organisation nur mehr die Hälfte wert ist und die zuvor mühsam eingesparten Milliarden sich über Nacht in nichts aufgelöst haben. Doch auch wir wollen manchmal unsere Zeit am Arbeitsplatz möglichst schnell «hinter uns bringen». Wenn wir aber die Stunden zusammenzählen, die wir in unserem Leben damit verbracht haben, «etwas hinter uns zu bringen», macht das wohl leicht die Hälfte unserer bisherigen Lebenszeit aus. Denken Sie an Ihr kleines gelbes Post-it.
Wer am Morgen in den Bus, die Bahn oder das Auto steigt, wenn es noch dunkel ist, braucht gar nicht beginnen, sich Sorgen über den kommenden Tag zu machen. Wir müssen nur auf den Augenblick, wenn das Licht aus der Dunkelheit kommt, achten und uns darüber freuen, dass wir einen neuen Tag erleben werden. Dann können wir uns fragen: «Welche Haltung sollte ich diesem Tag entgegenbringen? Wofür ist es Zeit? Was ist mir heute wichtig?»
Mitgefühl beginnt mit Großzügigkeit und Achtsamkeit
Großzügigkeit kann auf gesunde Art ansteckend wirken. Derjenige, der etwas bekommt, spürt auch, dass es sich dabei eben nicht um ein Tauschgeschäft handelt, bei dem man eine genau bemessene Leistung gegen eine entsprechende Gegenleistung tauscht. Wie oft waren wir schon freudig überrascht, dass wir von jemandem etwas empfangen haben, das wir offensichtlich so gar nicht verdienten. Und welches schöne Gefühl ist es, jemanden mit seiner Großzügigkeit zu erfreuen. Wir können auch mit unserem Mitgefühl großzügig sein. Unsere Welt ist so entfremdet, dass wir buchstäblich nicht mehr in Berührung miteinander stehen. Es hilft schon, wenn wir jemanden konkret wissen lassen, dass er uns wirklich etwas bedeutet. „Ich habe herausgefunden, dass durch eine ganz leichte Berührung ein kraftvoller Impuls von Güte und Wohlwollen vermittelt werden kann“, empfiehlt Bruder David eine ganz einfache Geste, die große Wirkung haben kann.
Für die Mönche bietet das gemeinsame Mittagessen eine gute Möglichkeit für die tägliche Schulung in Aufmerksamkeit. So steht in der Regel des Heiligen Benedikt, dass man nie selber um etwas bittet, sondern immer darauf zu achten hat, was ein Nachbar braucht. Dass diese Regel nicht nur das Mitgefühl schult, sondern manchmal auch den Verstand, zeigt folgende Geschichte. Ein Mönch isst seine Suppe und sieht, dass eine Maus in seinen Napf gefallen ist. Was soll er tun? Er soll ja auf die Bedürfnisse seines Nachbarn und nicht auf seine eigenen achten. So behilft er sich damit, den bedienenden Mönch zu rufen und ihn darauf hinzuweisen: «Mein Nachbar hat keine Maus bekommen.»
Interessant ist, dass bei der Auswahl von Astronauten genau diese Persönlichkeitseigenschaft – der völligen Orientierung an den Bedürfnissen der anderen – ein ganz entscheidendes Auswahlkriterium darstellt. Diese wird dann auf härteste Prüfungen gestellt, wenn man oft monatelang auf engstem Raum zusammenarbeiten muss. Ich bin überzeugt, dass es noch viel mehr Gemeinsamkeiten beim Training von Astronauten, einer der modernsten Berufungen, und der täglichen Praxis von Mönchen, einer der ältesten Berufungen des Menschen, gibt.
Für Bruder David ist selbst das Abstauben seiner wenigen Möbel in der Einsiedelei ein liebkosendes Berühren. Die jungen Mönche im Zen-Kloster Tassajara, erzählt er, die mit dem Saubermachen beauftragt wurden, wollten das praktisch, schnell und gründlich hinter sich bringen. «So geht das nicht. Wenn ihr den Besen in der Hand habt, soll die Hand zum Staub sagen: 'Verzeih, aber du bist zur Zeit am falschen Platz. Erlaube, dass wir dir weiterhelfen, wo du hingehörst', rügte sie der Zen Meister.» Wer lernt, so mit dem Staub umzugehen, der ist auch achtsam mit sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber.
Mitgefühl – wie können wir anderen bei der Bewältigung ihrer Verletzung helfen?
«Natürlich kann man einem Menschen im Augenblick des größten Leidens überhaupt nichts sagen, man kann nur bei ihm sein. Hiob, dem sprichwörtlich Leidenden in der Bibel, gehen alle seine Freunde, die ihm gute Ratschläge geben, irgendwann nur mehr ganz fürchterlich auf die Nerven. Aber man muss seinen Freunden zugute halten, dass sie ganz am Anfang eine Woche lang im Schweigen bei ihm sitzen. Und das ist das Entscheidende. Gegenwärtig sein, die Hand halten, Mitgefühl zeigen, das hilft», sagt Bruder David. Das ist viel besser als alle Ratschläge, denn Ratschläge sind oft vor allem Schläge.
Denn wenn man etwas sagen könnte, müsste es lauten: «Was du jetzt im Augenblick an großen Schmerzen erlebst, ist offensichtlich auszuhalten. Und daher denke nicht daran, dass das Leiden in der Zukunft immer noch ärger werden wird, dass du das nicht wirst aushalten können. Lass die Zukunft in Frieden und bleibe im Augenblick.» Wir leiden meistens an der Zukunft und nicht in der Gegenwart. Jetzt gerade ist es zwar schmerzhaft, aber erträglich. Wir können lernen, zwischen unserem Leiden und unserer Person zu unterscheiden.
Es ist ein großer Unterschied, ob wir ein Leiden haben oder ob wir das Leiden sind. Um es in den Worten von Bruder David zu sagen: Der Schmerz ist unvermeidlich. Unser Leiden können wir beeinflussen.
Zum ganzen Menschen gehören Leib und Geist, Sinnlichkeit und Sinnfindung. Ein Herzensmensch ist, wenn man über ihn wirklich sagen kann: Das ist ein Mensch. Als Bischof Desmond Tutu Nelson Mandela bei seiner Inauguration als Präsident von Südafrika vorstellte, beschrieb er ihn als jemanden, der Obuntubotho besässe. Obuntubotho ist die Essenz des Menschen.2
Es geht dabei um Menschlichkeit, Verletzbarkeit und die Verbundenheit mit allen anderen. Es vereinigt Mitgefühl und Zielstrebigkeit. Man spürt sofort, wenn es da ist und wenn es fehlt. Das jiddische Wort für Obuntubotho ist Mensch. Die «Schule des Herzens» ist daher immer eine Schule des Menschseins. Wie schön wäre es, ein etwas besserer Mensch zu sein.
1 Alle Zitate und Inhalte in diesem Kapitel stammen aus zwei langen persönlichen Interviews mit Bruder David in Wien im Juni 2008 und in Krems im September 2008 sowie aus folgenden beiden Büchern: David Steindl-Rast: Die Achtsamkeit des Herzens, Freiburg im Breisgau, Herder 2005 und David Steindl-Rast: Musik der Stille – Die gregorianischen Gesänge und der Rhythmus des Lebens, Freiburg im Breisgau, Herder 2008.
2 Elizabeth Lesser: The Seeker’s Guide, New York, Willard Books 1999, S. 397
Quelle: Aus Buch Der verletzte Mensch, von Andreas Salcher, Salzburg: Ecowin Verlag GmbH (2009)