Artikel in den Salzburger Nachrichten von Josef Bruckmoser über David Steindl-Rast OSB
Loslassen, sein lassen, nicht eingreifen und nichts wollen wollen. Das Daodejing des Laozi führt das Christentum zu seinem Ursprung. Was hat Berndeutsch damit zu tun?
Nach der Bibel soll das Daodejing das am weitesten verbreitete und am öftesten übersetzte Buch sein. Auf dem dritten Platz liegt "Das Kapital" von Karl Marx. Doch während dieses die Revolution beschwört und die Bibel darauf zu drängen scheint, dass der Mensch in die Welt eingreifen soll, ja gar – nach einem jahrhundertelangen Missverständnis – sich diese «untertan machen» soll, klingen die kurz gefassten Weisheiten des Laozi ganz anders. Da heißt es in Kapitel 10 «die Sachen wachsen lassen, nicht beherrschen wollen», in Kapitel 38 «die höchste Begabung hält sich still, greift nicht ein» oder in Kapitel 64 «nichts wollen wollen». Stehen die Lehren des Laozi, des legendären chinesischen Philosophen, der etwa ein halbes Jahrtausend vor Christus gelebt haben soll, also dem jüdisch-christlichen Weltbild diametral entgegen? Dem ersten Anschein nach könnte man das mit einem Blick auf die chinesische und auf die westliche Gesellschaft so sehen. Demnach scheint die chinesische Lebensweise eine eher passive, der Obrigkeit angepasste zu sein, während die Bibel oder «Das Kapital» die Fahne der Veränderung hochhalten.
Der Mönch und Mystiker David Steindl-Rast, der im 98. Lebensjahr steht und im Europakloster Gut Aich in St. Gilgen lebt, hat jetzt eine neue Übersetzung des Daodejing vorgelegt – und kommt dabei zu wesentlich mehr Parallelen als Gegensätzen zwischen dem Daoismus und dem Christentum. Im SN-Gespräch beschreibt er das westliche Denken zunächst wie die Haltung von Kindern, «die die Karottenpflänzchen immer wieder ausreißen und schauen, ob sie schon schön wachsen». Die westliche Gesellschaft sei charakterisiert durch dieses ständige Eingreifenwollen. Immer mehr werde aber klar, dass diese Haltung ursächlich mit den gegenwärtigen Katastrophenszenarien zusammenhänge. «Wenn man die Entwicklung zurückverfolgt, kann man sagen, dass alles, was in unserer westlichen Tradition schiefgegangen ist – und das ist allerhand – auf das Eingreifen zurückgeht.»
Demgegenüber ziele das Nichttun des Laozi auf das Wachsenlassen, auf das Nichteingreifen. Dieses bleibe freilich nicht unwirksam. So heißt es in der Legende von der Entstehung des Daodejing, «dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt». Steindl-Rast hat denn auch über seine Neufassung des Daodejing den Titel «Der Fließweg» geschrieben. Zu den 81 Kapiteln verfasste er kurze Kommentare, die vor allem dazu anregen sollen, dieses Buch wieder und wieder zu lesen – und Schritt für Schritt, sozusagen mit der stillen, aber nachhaltigen Wirksamkeit des fließenden Wassers, den tieferen Sinn und die Nähe zum Christentm zu entdecken.
Bruder David, der sein ganzes Leben der Zusammenschau von Christentum und Buddhismus sowie anderen fernöstlichen Religionen gewidmet hat, ist überzeugt, dass das Daodejing dem ursprünglichen christlichen Denken nicht fremd ist. Im Gegenteil. Durch die Gedanken des Laozi könne das Christentum gleichsam wieder mehr zu seinem Ursprung finden. «Ich sehe eine große Ähnlichkeit. Auch im Christentum geht es letztlich um Loslassen. Und das ist genau dieses Nichttun, wie es Laozi beschreibt.» Loslassen ist für Steindl-Rast der erste Schritt, sich nicht auf das eigene Tun zu verlassen, sondern ins Vertrauen zu kommen und sich auf den lebendigen Gott einzulassen. «Wenn Christen im Vaterunser beten ‹dein Wille geschehe›, dann beten sie um das Sich-Verlassen auf diesen lebendigen Gott. Ein solches Lebensvertrauen ist die alltägliche Ausdrucksform für das, was wir ‹glauben› nennen. Es ist dasselbe, was Laozi mit Loslassen und Nichttun meint. Es ist das Grundlegende im Dao wie im Christentum.»
Freilich könne man Aussagen der einen Religion nicht eins zu eins in die andere übersetzen, betont Bruder David. Aber das «Dao» weise auf dieselbe religiöse Wirklichkeit hin wie im Christlichen das «Wort», von dem der Anfang des Johannesevangeliums spricht. In beiden Begriffen leuchte die jedem Menschen angeborene Religiosität auf, die jeder verfassten Religion, jedem Lehrsatz und jedem Dogma voraus sei. «Mir scheint, dass diese uns Menschen gemeinsame Urreligiosität im frühen Daoismus mit besonderer Kraft und Klarheit zum Ausdruck kommt.» Etwa in der grundlegenden Erkenntnis, dass das Göttliche immer ungreifbar und unfassbar bleibe. So heißt der Anfang des Daodejing: «Sagst du DAO, verschwindet’s, gibst du ihm einen Namen, kennst du’s schon nimmer.»
Die Kraft und Klarheit dieser Sprache hat unmittelbar mit dem chinesischen Urtext zu tun. Und mit dem beinahe kuriosenWeg, über den Steindl-Rast zu seiner neuen Übersetzung gekommen ist. Denn die Grundlage dafür war das Buch «vo wäge DO» des Schweizer Perkussionisten und Autors Balts Nill. Dieser hat das Daodejing im Laufe von zehn Jahren ins Berndeutsche übertragen. Denn die knappe Ausdrucksweise dieser Mundart komme dem beinahe stakkatoartigen Urtext mit seinen vor allem ein- und zweisilbigen Wörtern sehr nahe.
Der Ton macht hier gleichsam die Musik, wie bei der Buchpräsentation in Gut Aich deutlich geworden ist. Balts Nill rezitierte dabei mehrere kurze Originalabschnitte aus dem Daodejing und stellte diesen seine Übertragung ins Berndeutsche gegenüber. Das klingt dann zum Beispiel in Kapitel 71 über das Nicht- Wissen so: «vom nid wüsse wüsse isch erlüüchtig, vom nid-wüsse nid wüsse isch lyde». In der hochdeutschen Übersetzung von David Steindl-Rast lauten diese Verse: «vom Nicht-Wissen wissen ist Erleuchtung, vom Nicht-Wissen nicht wissen ist Leiden».
Im Daoismus wie im Christentum steht der Mensch vor dem großen Geheimnis, das alles umfasst und trägt, das sich aber sofort entzieht, sobald man meint, es in Formeln und Glaubenssätze fassen zu können. «Alles – wirklich alles im Sinn eines erfüllten Lebens – hängt von unserer Beziehung zu diesem Geheimnis ab», sagt David Steindl-Rast.
Quelle: Salzburger Nachrichten, 20. April 2024
Siehe dazu auch Audio-Mitschnitt und Fotos der Präsentation.