Liebe Freunde,

Zwar kann ich nur alle heiligen Zeiten einmal so einen Gruß an Euch schicken, aber ich möchte nicht bis Weihnachten warten. “Geh’ aus mein Herz und suche Freud’ in dieser schönen Sommerszeit an deines Gottes Gaben,” singt ja Paul Gerhardt, und Freundschaft ist eine noch größere Gabe, als all das Grünen und Blühen, an dem mein Herz sich so freut in diesen Tagen. Daher kam mir der Einfall, meinen Freunden diesmal einen Sommerbrief zu schreiben.

2005 sommergruesseHeuer zu Pfingsten konnte ich von Rapperswil zur Schwarzen Madonna in Einsiedeln pilgern, und war dankbar, dass ich die fünf Gehstunden ohne Anstrengung bewältigte (für Jüngere sind es zwar nur vier) und mich an jedem Schritt freuen konnte. Zuerst ging es über den Zürichsee auf einem Holzsteg, über den schon im Mittelalter der Jakobsweg nach Einsiedeln und weiter nach Santiago de Compostela führte. Da fühlte ich mich innig verbunden mit allen anderen Pilgern, die zugleich mit mir irgendwo auf dem Jakobsweg unterwegs waren und mit den unzähligen, die im Laufe der Jahrhunderte diesen Weg gegangen waren. Und plötzlich wurde mir bewusst, wie wir – alle Menschen, ja alle Lebewesen überhaupt – miteinander verbunden sind auf unserer gemeinsamen Pilgerschaft durchs Leben.

Dieses Bewusstsein hat mich nicht mehr verlassen. So fühle ich mich jetzt noch mehr als zuvor allen Pilgern verbunden, die bei mir einkehren. Sie kommen vom Himmel (Krähen, Engel und Spatzen), von der Erde (Eichhörnchen, Hasen und gelegentlich Menschen) und von unter der Erde (die scheue Maus, die das Vogelfutter stielt, und meine Helfer im Garten, die Regenwürmer). Wo kommen sie aber ursprünglich her? Alle kommen sie letztlich aus dem Nichts und gehen ins Nichts. Und doch, für einen verschwindend kurzen Augenblick sind sie jetzt da. Auf dieses Jetzt kommt es an. Das Jetzt sprengt die Zeit. Ewigkeit ist ja nicht endlose Zeit, sondern, wie der Heilige Augustinus sagt, “nunc stans” – das unvergängliche Jetzt. Sogar das Unkraut in seinem täglich üppigeren Grün ragt in ein Jetzt hinein, das keine Jahreszeiten kennt. Wenn uns das bewusst wird, dann werden wir, wie Werner Bergengrün sagt, “trunken von Beständigkeit.”

Pater Damasus Winzen, der Gründer unseres Klosters, Mount Saviour, hat Jahr für Jahr gestaunt, dass die Tage schon beginnen, kürzer zu werden, wenn der Sommer erst anfängt, und im Grün der Gärten die Früchte noch lange nicht reif sind. Ob er irgendwie ahnte, dass er fünf Tage nach der Sommersonnenwende – am Vorabend der Rückreise in seine alte Heimat – einschlafen und diesseits des ewigen Jetzt nicht mehr erwachen sollte? Was wir planen, stimmt nicht immer überein mit dem geheimnisvollen Plan unserer inneren Pilgerschaft.

Eine Reise unterscheidet sich von einer Pilgerfahrt. Bei einer Reise kommt es darauf an, das Ziel zu erreichen. Bei einer Pilgerfahrt geht es darum, jeden Schritt als Ziel zu erkennen.

Dieses Erkennen wünsche ich uns Erdenpilgern in dieser schönen Sommerszeit. Ob auch die Tage schon kürzer werden, wir dürfen doch Freude suchen und finden, “weil” – um wieder Bergengrün zu zitieren – “nichts vergänglicher ist, als die Vergänglichkeit.” Dies einzusehen, heißt im Jetzt leben – leben und dienen. Unsere Welt braucht Dienst, der dieser Einsicht und Haltung entspringt; dann erst wird sie im vollen Sinn “grünen.”

Allen, denen ich Antwort auf Post schulde, bitte ich um Verständnis. In meinem Alter muss ich mich auf Herz-Briefwechsel verlassen. In Gedanken und im Gebet bleiben wir herzlichst verbunden. In dieser Verbundenheit,

Euer Bruder David

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