Interview mit David Steindl-Rast OSB in Salzburger Nachrichten von Jörn Florian Fuchs
Immer schneller dreht sich die Welt, und kaum ein Stein bleib auf dem anderen. Wo kann man sich in spiritueller Hinsicht noch festhalten? Kann uns die Religion retten?
Vielleicht, meint David Steindl-Rast.
Lieber Bruder David, wir alle müssen seit Jahren mit diversen Krisen umgehen, Corona, kriegerische Konflikte, politische Verwerfungen. Was kann uns stärken, was macht uns zumindest ein wenig resilienter?
Wir fühlen uns alle bedrückt und bedrängt von so vielen schwierigen Ereignissen, der Klimakatastrophe, dem Krieg, den Flüchtlingsproblemen. Die Gefahr ist, dass wir uns dem ganzen viel zu viel aussetzen. Mein Vorschlag ist, es nur in sehr geringen Mengen zu sich zu nehmen. Lieber einmal auf die Nachrichten verzichten und Musik anhören. Vielleicht es sich sogar zur Pflicht zu machen, jedes zweite Mal statt Nachrichten Musik zu hören, sich abzuschirmen. Und zwar deshalb, weil wir uns bewusst sein müssen, dass wir auf das Große als Großes gar keinen Einfluss haben. Positiv gesprochen: wir haben großen Einfluss auf unsere Umwelt. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit auf das richten, wo wir wirklich etwas verbessern können. Und das ist in unserem Umgang mit Menschen.
Also sollten wir im direkten Umfeld anfangen und uns darauf konzentrieren?
Ganz klein anfangen. Man muss sich bewusst sein: Meine kleine Freundlichkeit, die ich heute früh jemandem sage, die zieht große Kreise und beeinflusst schließlich die ganze Weltgeschichte. Zu den großen Fragen der Gegenwart gehört ja die Erosion von Religionen. Ihr Einfluss schwindet gerade in unseren Breiten immer mehr, andererseits gibt es gerade bei der jüngeren Generation einen starken Hang zu Esoterik. Manche fällen kaum Entscheidungen, ohne etwa eine Tarot-App zu benutzen.
Was ist denn der qualitative Unteerschied zu Religionen?
Der Mensch ist von Natur aus religiös. Was uns zum Menschen macht, im Unterschied zu Tieren – zu anderen Tieren – ist die Religiosität. Religiosität ist natürlich etwas anderes als eine Religion. Es ist unsere Haltung dem großen Geheimnis des Lebens gegenüber. Das ist uns als Menschen gegeben und das können wir gar nicht umgehen. Es drückt sich seit vielen tausenden von Jahren in dieser oder jener Religion aus. Und die haben leider heute bei uns versagt. Und nun bleibt aber doch noch die Sehnsucht nach der Begegnung mit dem Geheimnis und das nimmt dann so sonderbare esoterische Formen an.
Finden Sie das gefährlich?
Nicht generell. Ich würde sagen: Jede Form von Spiritualität ist besser als nichts. Außer natürlich es führt zu wirklichen Schandtaten. Aber meistens ist diese Esoterik nur oberflächlich, sie deutet wenigstens an, dass unsere religiöse Sehnsucht nicht ganz verloren ist. Ich glaube, nach langem Nachdenken und Studium, dass unsere Zukunft davon abhängt, ob wir einen Zugang zum großen Geheimnis, also eine Kultur der Ehrfurcht, auch der Ehrfurcht vor anderen Menschen, wiederfinden.
Wann und wie ist uns denn diese Ehrfurcht verloren gegangen? War früher wirklich alles besser und tiefer?
Wenn wir in die Geschichte zurückschauen, war es oft nicht so rosig. Dort wo Menschen sind, war es immer auch recht grausam. Aber ein ganz wichtiger Unterschied: ein Bruch zeigt sich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Das steht mir noch vor Augen. Ich habe noch die ganzen Verwundeten gesehen, es hat ja nur so gewimmelt vor einarmigen und einbeinigen Menschen, von Blinden und Tauben. Es gab einen Umbruch von einer grundsätzlich ehrfürchtigen Haltung dem Leben gegenüber hin zu einem oberflächlichen Dahinleben, das diese Ehrfurcht verloren hat. Wir müssen diese Ehrfurcht wiederfinden oder auch neu entdecken, sonst ist unser Weiterleben als Menschheit sehr zweifelhaft.
Blicken wir noch einmal speziell auf das Christentum. Was denken Sie über die Zukunft, wohin entwickelt sich die Kirche?
Ich bin Christ, bin überzeugter Christ. Das heißt, meine menschliche Religiosität drückt sich in christlichen Formen aus. Ich bin dankbar dafür, es ist eine wunderschöne Form. Aber es ist nicht die Form für alle. Wenn ich in China geboren worden wäre, wäre ich kein Christ. Ob unsere Kirche wirklich eine Zukunft hat, kann ich auch als überzeugter Christ nicht sagen. Natürlich vertraut man als Christ, dass der Heilige Geist uns schon irgendwie durchführen wird, aber das unterscheidet sich von meinen rationalen Überlegungen. Die Zukunft der Kirche steht im Augenblick gerade auf der Waage.
Ich bin überzeugt: es wird davon abhängen, ob alles über einen Leisten geschlagen wird oder ob die Kirche ein Netzwerk von Netzwerken sein wird. Ob in den verschiedenen Teilen der Welt unterschiedliche Dinge getan werden dürfen, die noch christlich sind. Papst Franziskus bemüht sich ja mit der konziliaren Bewegung genau um das. Im Wesentlichen – und das Wesentliche ist nicht viel – Gleichheit und in allem übrigen so viel Verschiedenheit wie nur möglich. So viel Unwesentliches wird immer als wesentlich angesehen. Und darunter leidet Papst Franziskus ja auch sehr.
Sie sind jetzt im 98. Lebensjahr und haben ein so reichhaltiges, spirituelles Leben geführt. Wie nahe sind Sie diesem großen Geheimnis gekommen?
Wir alle sind diesem Geheimnis so unglaublich nahe. Wie es in der Bibel heißt: «In ihm leben, weben und sind wir». Sie brauchen sich ja nur einen Augenblick fragen, wie verdaue ich mein Frühstück? Wenn Sie es nicht verdauen können, können Sie nicht überleben. Und Sie haben nicht die geringste Ahnung, wie das gemacht wird. Das Leben lebt uns. Und im Herz dieses Lebens ist das große Geheimnis. Es liebt uns, es macht unser Herz schlagen, es lässt uns atmen. Der Geist Gottes atmet in uns. Ich nenne es lieber das große Geheimnis als von Gott zu sprechen, obwohl es dasselbe ist. Aber das Wort Gott wurde so missbraucht. Ich habe als Kind Hitler von Gott reden gehört.
Wenn Sie, Bruder David, Ihre ganze Lebens- und Glaubenserfahrung auf einen Punkt, auf eine Formel bringen müssten, wie sähe sie aus?
Ich habe Hoffnung. Aber Hoffnung ist etwas anderes wie Hoffnungen. Hoffnung im spirituellen Sinn heißt Offenheit für Überraschungen. Und mit dieser Offenheit für Überraschungen durchs Leben zu gehen, ist sehr sehr hilfreich. Denn Hoffnungen machen wir uns ja immer selber. Die Offenheit richtet sich auf das, was das Leben uns schenkt. Und diese Offenheit macht uns bereit, kreativ mit dem was uns gegeben wird umzugehen. Also, wenn es noch ärger kommt als ich es mir überhaupt vorstellen kann, bin ich überzeugt, es wird das Beste sein. Denn das Leben weiß es besser!
Quelle: Salzburger Nachrichten - 14. Dezember 2024