Interview mit David Steindl-Rast OSB von Dr. Heinz Niederleitner

weg der lebendigkeitCopyright © - Wilfried F. Noisternig

Viele Menschen haben den Eindruck, Spiritualität nur dann erleben zu können, wenn sie sich aus dem Alltag zurückziehen. Aber stimmt das auch? Wir fragen Bruder David Steindl-Rast, einer der grossen spirituellen Lehrer unserer Zeit: Was ist Spiritualität?

Die Idee, dass Spiritualität eine eigene Sparte des Lebens sei, ist ein Irrtum. Das Wort kommt von Spiritus, dem Lebensatem. Spiritualität ist Lebendigkeit aus dem Glauben, auf allen Gebieten und für den ganzen Menschen. Das beginnt mit körperlicher Lebendigkeit. Es geht weiter über die Lebendigkeit des Denkens, der Gefühle, des Engagements in der Gesellschaft bis zu einer Lebendigkeit und Aufnahmefähigkeit für das große Geheimnis, dem wir als Menschen gegenüberstehen und das wir – sehr vorsichtig, weil das Wort so oft mißverstanden wird – auch Gott nennen dürfen. Das alles ist Spiritualität.
Zu ihr gehört auch die Achtsamkeit: Wir neigen dazu, «Schlafwandler» zu sein. Dass es auf der Welt nicht so ist, wie es sein sollte, geht viel weniger, als man glauben möchte, darauf zurück, dass Menschen schlecht sind. Es gibt Schlechtigkeit, die man nicht verniedlichen darf. Aber der hauptsächliche Grund für die Mißstände ist, dass die Leute schlafwandelnd herumgehen und sich nicht kümmern. Darum muß Aufmerksamkeit geübt werden. Dafür gibt es ein kleines Motto zum Merken: Stop, look, go – Innehalten, Innewerden, Handeln.

Innehalten   ist wichtig, weil unsere «Verschlafenheit» sehr stark davon herrührt, dass wir uns treiben lassen. Wir müssen dieses Getrieben-Werden, das oft in Hast ausartet, unterbrechen, sonst gehen wir an der Gelegenheit vorbei. Die Gelegenheit ist das Entscheidende: Das Leben bietet uns jeden Augenblick eine Gelegenheit an, die zugleich Geschenk und Auftrag ist – Gabe und Aufgabe. Das glückliche, frohe und erfüllte Leben hängt davon ab, ob wir von Augenblick zu Augenblick die Gelegenheiten wahrnehmen.

Innewerden   ist der nächste Schritt. Die Frage lautet hier: Was ist die Gelegenheit? Meistens ist es die Gelegenheit, das Leben zu genießen. Wir übersehen dabei ganz einfache Freuden des Lebens, wie atmen zu können. Wenn wir geübt haben, die Gelegenheit wahrzunehmen, uns am Leben zu freuen, dann werden wir auch die Gelegenheiten aufnehmen, die schwieriger sind. Auch diese Aufgaben sind Gaben. Zum Beispiel ist es nicht so leicht, etwas Neues zu lernen oder zu seinen Grundsätzen zu stehen.

Handeln   bedeutet, die Gelegenheit auch auszunützen und etwas zu tun – sich also wirklich anzustrengen, etwas Neues zu lernen, einen neuen Weg einzuschlagen oder an einer Beziehung zu arbeiten.
Am einfachsten lernt man Spiritualität durch diesen Dreischritt: Das Innehalten bringt mich in die Gegenwart. Das Innewerden zeigt mir, was jetzt meine Aufgabe ist. Das Handeln läßt mich daraus etwas machen. Das führt zu einem dankbaren Leben, das uns in jedem Augenblick etwas Einzigartiges schenkt.



Quelle: Arbeitsgemeinschaft Kooperation-Kirchenzeitungen:
KirchenZeitung im Netz Nr. 33,  Vorarlberger Kirchenblatt,  martinus Kirchenzeitung,  TIROLER sonntag (2017)

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