Interview mit David Steindl-Rast OSB in «Radio SWR1» von Christopher Hoffmann
Was ist für David Steindl-Rast die größte Veränderung des letzten Jahrhunderts?
Im Laufe meines Lebens ist in unserer Gesellschaft die Ehrfurcht verloren gegangen. Ehrfurcht vor der Menschenwürde und auch vor der Würde der Natur und des Lebens.
Ehrfurcht auch vor dem Leben von Menschen mit Behinderung, das ist Bruder David wichtig. Denn er hat als Kind in der Volksschule im besetzten Österreich erlebt, wie die Nazis mit ihrem Euthanasieprogramm Menschen mit Behinderung zunächst weggesperrt und später systematisch ermordet haben:
Und in der ersten Klasse in der hintersten Bank ist ein geistig schwerstbehinderter Bub gesessen, der schon 16 Jahre alt war, immer gezeichnet hat, nicht reden konnte, aber jeden Tag in die Schule gekommen ist – und alle haben ihn lieb behandelt. Und 1938, sehr bald nachdem der Hitler gekommen ist, war er einfach verschwunden.
Für Bruder David ist hingegen jedes Leben ein Geschenk. Und jedes Leben ist staunenswert – im Staunen liegt für ihn eine Kraft.
Das Staunen ist der Beginn von allem und das Vertrauen aufs Leben. Wie sehr das Leben uns lebt: Die Verdauung, die Atmung, der Kreislauf, das ist uns alles geschenkt. Und wenn das Leben uns geschenkt wird, dann ist die richtige Haltung im Leben die Dankbarkeit dafür.
Dankbar sein für die kleinen Dinge des Alltags – das ist für David Steindl-Rast auch eine Lehre aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Er schildert mir, wie er als Jugendlicher einen Bombenangriff in Niederösterreich überlebte und was das mit ihm gemacht hat:
Ich war einfach auf der Straße, plötzlich sind die Bomben gefallen und da bin ich in eine Kirche geflüchtet, da ist es schon links und rechts heruntergekommen. Ich hab schon das Gefühl gehabt: Das war meine letzte Stunde. Und wie es dann vorbei war und wie ich herauskommen konnte war plötzlich jedes kleinste Detail so lebendig und klar: das Gras, das Unkraut am Straßenrand und jede kleinste Blüte und die Wolken und der Himmel: es war mir neu geschenkt. Und da müssen wir nicht warten bis die Bomben fallen. Es ist mir heute geschenkt. Morgen wissen wir nicht. Jeder Tag ist ein neues, überraschendes Geschenk.
Ich treffe David Steindl-Rast am Wolfgangsee, wo der 98-Jährige inzwischen lebt. Als junger Mann ist er in die USA emigriert und dort mit 27 Jahren in einen Benediktinerorden eingetreten. Bruder David glaubt aber:
Jeder Mensch ist ganz persönlich an einen Ort gestellt vom Leben. Dort bin ich mit einer einzigartigen Aufgabe betraut. Kein Mensch ist nutzlos! […] es handelt sich nur darum herauszufinden, wo wir dem Leben nutzen können, um Freude in der Welt zu verbreiten.
Mir fällt auf: In unserem Interview spricht er oft vom Leben, meint damit aber den Ursprung allen Lebens, Gott. Aber er ist sehr vorsichtig mit dem Wort Gott …
…weil viele Missverständnisse an das Wort Gott gebunden sind und manche Menschen so schlechte Erfahrungen haben, wie Gott ihnen vorgestellt wurde.
David Steindl-Rast spricht deshalb lieber vom «Großen Geheimnis» …
…das alle Menschen kennen, das Geheimnis des Lebens. Aber Geheimnis hat schon in dem Wort drinnen, dass wir dort daheim sind.
Gott als Geheimnis und als Heimat – da wo ich zu Hause sein darf. Ich mag dieses Gottesbild. Für Bruder David und auch für mich ist Gott aber noch mehr. Gott ist ein Du, der Glaube eine Beziehung…
Die große Frohbotschaft Jesu ist, dass diese Beziehung eine liebende und innige ist, wie zu einem Vater oder einer Mutter. Und das ist für Christen ein großer Schatz und etwas, was wir zum allgemeinen menschlichen Verständnis Gottes beitragen können. Die großen Religionen können einander ja helfen und einander ergänzen.
Sagt ein Mann, der sein ganzes Leben dem Dialog der Weltreligionen gewidmet hat. Der als Katholik bei buddhistischen Mönchen auch Zen studiert hat und diese Meditationsform praktiziert. Der sich wissenschaftlich mit den Weltreligionen beschäftigt und dafür renommierte Preise als interreligiöser Brückenbauer erhalten hat. Und der glaubt: Jeder Mensch ist – in einem ganz weiten Sinne – von Natur aus religiös. Weil alle Menschen…
… einen religiösen Kern haben, das heisst ganz tief drinnen haben alle Menschen das Bedürfnis sich mit dem großen Geheimnis des Lebens auseinanderzusetzen und das kann man Gottbegegnung nennen.
Quelle: Kirche im SWR, 29.09.2024 (siehe auch Audio zur Radiosendung)