Interview mit David Steindl-Rast OSB von Andreas Salcher
«Durch glückliche Fügungen war es mir erlaubt, einigen der großen Religionsführer wie Johannes Paul II und S.H. dem Dalai Lama persönlich begegnen zu dürfen. Persönlichkeiten, die mit ihrem Charisma und durch ihre historische Rolle tiefen Eindruck bei mir hinterlassen haben. Der Mensch, der mich spirituell am meisten bewegt hat, ist aber ein einfacher Mönch. An einem Septembertag im Herbst 2007 spazierte ich mit ihm durch die kleine Stadt Krems an der Donau und eine intensive Beziehung entstand.»
(Andreas Salcher)
Andreas Salcher
Wie soll man mit einer schwierigen Vergangenheit umgehen?
Bruder David
Eigentlich sollte man überhaupt nicht damit umgehen. Je weniger man sich damit identifiziert desto besser. Wenn man im gegenwärtigen Augenblick lebt, dann identifiziert man sich nicht mit der Vergangenheit, das ist das Entscheidende. Menschen, die sehr unter ihrer Vergangenheit leiden sind oft Menschen, die unter keinen Umständen dieses Leiden aufgeben wollen, sie sind besessen davon, es ist ihre Identität. Was wären sie denn, wenn sie plötzlich nicht mehr ein Opfer ihrer Eltern wären? Wenn man den langen Weg gehen will, zum Beispiel mit den Methoden der Psychoanalyse darin bohren will, habe ich nichts dagegen. Es gibt aber einen kürzeren Weg, und das ist im gegenwärtigen Augenblick zu leben. Dann kommen wir leichter von unseren kleinen Egos los und zu unserm wahren Selbst.
Andreas Salcher
Aber gerade, wenn wir schwer verletzt wurden, dann ist im Augenblick der Schmerz besonders groß, wir können ihm nicht entfliehen, ja wir glauben dem Schmerz nicht entkommen zu können.
Bruder David
Natürlich kann man einem Menschen im Augenblick des größten Leidens überhaupt nichts sagen, man kann nur bei ihm sein. Im Buch Hiob gehen dem leidenden gottesfürchtigen und gerechten Mann auch irgendwann alle Freunde, die ihm gute Ratschläge geben, nur mehr fürchterlich auf die Nerven. Aber man muss diesen Freunden zugutehalten, dass sie ganz am Anfang eine Woche lang im Schweigen bei ihm sitzen.
Und das ist das Entscheidende: Gegenwärtig sein, die Hand halten, Mitgefühl zeigen, das hilft. Das ist viel besser als alle Ratschläge, denn Ratschläge sind oft vor allem Schläge.
Wenn man etwas sagen könnte, dann müsste es lauten: «Was du jetzt im Augenblick an großen Schmerzen erlebst, ist offensichtlich auszuhalten. Und daher denke nicht daran, dass das Leiden in der Zukunft immer noch ärger werden wird, dass du das nicht wirst aushalten können. Lass die Zukunft in Frieden und bleibe im Augenblick.»
Wir leiden meistens an der Zukunft und nicht an der Gegenwart. Jetzt gerade ist es zwar schmerzhaft, aber erträglich. All is always now. Pain is inevitable, suffering is optional: Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist optional.
Andreas Salcher
Wie geht man um mit dem Gefühl: alles was ich weiß, alles was ich anderen beigebracht habe, hilft mir nichts? ‒ Bruder David erzählt mir von einer eigenen großen Verletzung, die er erlitten hat. Es ging um den Verrat eines Versprechens, das man ihm gegeben hatte, eine Aufgabe zu bekommen, auf die er sich schon sehr gefreut hat und auf die er sich schon sehr eingestellt hatte. Er kann es bis heute nicht verstehen, warum man ihm dann diese Aufgabe doch nicht gab.
Bruder David
Natürlich habe ich mich ständig gefragt, warum tun die das? Monatelang habe ich mich damit gequält und mich daran geklammert, dass ich ein Opfer bin. Es hat lange gedauert, bis ich in der Lage war, einfach loszulassen.
Andreas Salcher
Gespräche mit Freunden haben ihm sehr geholfen. Es hilft am meisten, wenn der Freund nicht wertet, wie «Das ist doch nicht so arg» oder Ratschläge gibt, sondern einfach zuhört.
Bruder David
Heute kommt das deshalb bei mir nicht mehr hoch, weil ich tagtäglich übe, die Vergangenheit zu lassen. Wenn ich zum Beispiel chronische rheumatische Schmerzen habe und mir dann sage: «Das wird jetzt immer ärger, das kann ja nicht besser werden», dann habe ich schon verloren. Mir hilft, wenn ich erkenne, dass es im Augenblick zwar sicher unangenehm, aber erträglich ist, sonst wäre ich ja nicht mehr da. Und dann wird es sofort besser.
Andreas Salcher
Voraussetzung dafür ist aber zweifellos das hohe Urvertrauen, das Bruder David auszeichnet. Dieses kann man zwar für sich selbst nicht mehr steigern, aber es ist das Wichtigste, das man seinen Kindern von Geburt an mitgeben kann.
Entscheidend ist für Bruder David auch dem Schmerz Sinn zu geben. Er war einmal als einziger Christ mit einer kleinen Gruppe von Menschen gemeinsam mit S.H. dem Dalai Lama auf einer Klausur in San Francisco. Einer der anderen Teilnehmer versuchte immer S.H. den Dalai Lama und den Buddhismus gegen die christliche Tradition auszuspielen nach dem Motto: Der Buddhismus hat so wunderbare Praktiken gegen das Leiden gefunden, während die Katholiken sich noch immer im Leiden suhlen.
S.H. der Dalai Lama hat das abgewehrt und geantwortet, dass auch im Buddhismus das Leid nicht dadurch überwunden wird, dass man den Schmerz zurücklässt, sondern dadurch, dass man den Schmerz für andere trägt.
Und da trifft sich das Christus-Ideal mit dem Boddisatva-Ideal. Im Gesicht S.H. des Dalai Lama spiegelt sich immer das Leid aber auch das Glück von Millionen von Menschen. Das erklärt seine so intensive Mimik, die manche Menschen oft missverstehen.
Die Liebe ist das Ja zur Verbundenheit mit den anderen, das hat überhaupt nichts mit quälendem Märtyrertum zu tun.
Was können Eltern ihren Kindern sagen, die gerade großes Leid erfahren mussten?
Bruder David
Es geht eben überhaupt nicht um das Sagen. Es geht um das Umarmen, vielleicht spazieren gehen, genau hinhören jedenfalls mitfühlen.
Erst im Nachhinein verstehen wir oft, dass unsere Verletzungen zu Wachstum geführt haben. Daher sollten wir zutiefst dankbar dafür sein. Der Augenblick des größten Leidens ist natürlich nicht der beste Augenblick, um Dankbarkeit zu lernen, das ist, wie wenn man mit Chopin beginnen würde Klavierspielen zu lernen. Wir können aber dankbar dafür sein, dass uns jeder Augenblick Gelegenheit dafür gibt, dankbar zu sein. Das eröffnet dann ungeheure Möglichkeiten der Kreativität. Wenn ich mich dagegen nur als Opfer sehe, dann ist alles abgeschlossen.
Andreas Salcher
Könnte Schule auch etwas zur Schule des Menschseins beitragen, wissend, dass zu viele Kinder keine liebevollen Eltern haben?
Bruder David
Das Wichtigste ist, die richtigen Lehrer auszuwählen. Genauso wichtig ist aber die Klassengemeinschaft insgesamt. Mir haben meine zwei Jahre in der damaligen Neulandschule ungemein geholfen, bevor dann die Nazis kamen. Das Großartige war, dass wir eine Gemeinschaft waren, dass wir einander ungemein verbunden waren. Natürlich hat die große Religiosität, die in der Schule spürbar war, sehr geholfen. Ich war damals zwischen Zehn und Zwölf und daher auch sehr ansprechbar. Auch der kulturelle Rahmen des gemeinsamen Singens oder der Gedichte war tragend. Ich zehre heute noch von dem spirituellen und kulturellen Fundament, das in diesen zwei Jahren meines Lebens gelegt wurde.
Andreas Salcher
Warum tun wir uns so schwer, einer Person zu vergeben, die uns sehr verletzt hat, auch wenn wir es rational sogar verstehen, dass es für uns selbst viel besser wäre? Wie kann man damit umgehen, ohne ein Heiliger zu sein?
‒Die hohe Kunst der Vergebung ‒ die drei Stufen zur Vergebung am Beispiel von betrogen und verlassen werden durch den Partner‒
Bruder David
Der Schlüssel ist das Geben und Nehmen.
Die einfachste, für viele Menschen schon sehr schwierige Stufe, ist es, aufzugeben.
Das ist etwas, das wir alle lernen müssen. Mütter sollten ihre Kinder das erste Mal aufgeben, wenn sie geboren sind, dann wenn sie in die Schule kommen und später nochmals in der Pubertät. Das ist leicht zu verwechseln mit dem «fallen lassen», ist aber etwas ganz anderes, eine nach oben gerichtete Handlung.
Aus diesem Geben kommt auch immer ein Nehmen: Giving up instead of letting down. If you really give it up, you take care.
Auch im Kloster haben wir alles aufgegeben, zum Beispiel: «Dein Auto gehört nicht mehr dir, sondern der Gemeinschaft. Ob du es wirklich aufgegeben hast, zeigt sich dann daran, ob du es weiterhin so behandelst, wie wenn es dein eigenes wäre.»
«A.» muss seine Partnerin aufgeben, auch jede Erwartung an sie.
Die zweite Stufe ist das Geben der Dankbarkeit.
Wir müssen es zu Herzen nehmen, bevor wir wirklich dafür dankbar sein können. «A.» kann es noch nicht sehen, aber er kann dankbar sein für die Möglichkeit. Oft wird uns ja erst im Nachhinein bewusst, wie wichtig eine bestimmte Niederlage für den weiteren Lauf unseres Lebens war.
Das schwierigste ist das Ver-Geben.
Es ist das intensivierte Geben zusammen mit dem allerschwierigsten Nehmen, dem Schuld auf uns nehmen. Vergeben können wir nur mit dem Herzen. Das heißt von der Stelle aus vergeben, wo wir alle eins sind. Wenn Du ins Herz gehst, dann gehst Du nicht in eine private kleine Klausur, sondern es ist wie in dem Märchen, wo Du den Teich hinunter gehst und auf einmal bist Du in einem großen Reich, wo alle gemeinsam sind.
Das heißt für «A.», dass es irgendwann den Zeitpunkt gibt, dass er in sein Herz gehen kann und dort alle Menschen versammelt findet, auch seine ehemalige Partnerin.
Es geht immer um dieses Eine: Im Alten Testament steht: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» ‒, das ist meiner Meinung nach eine Fehlübersetzung. Es heißt: «Liebe deinen nächsten a l s dich selbst». Denn es gibt nur ein Selbst. Wenn Du wirklich dein Selbst erkennst, dann hast du deinen Schwerpunkt an die Stelle verlegt, wo wir alle eins sind. Das ist zweifellos ein sehr langer Prozess, aber an deren Ende steht die Vergebung und damit die Heilung.
Es hört sich vielleicht sehr abgehoben, sehr theoretisch an, doch wenn wir mit einem Menschen, den wir sehr mögen, den wir sogar lieben, zusammen sind, dann spüren wir dieses Ganze. Irgendwann schließt unser Selbst dann alle ein.
Andreas Salcher
Was sind Deine drei Werte, die Du Kindern selbst in der Schule des Herzens lehren würdest?
Bruder David
Furchtlosigkeit: Angst ist die innere Verengung, die unser kleines Ego erlebt, weil wir uns von allem getrennt fühlen. Die scheinbare Abgeschlossenheit unseres Körpers verführt uns zu der Irrlehre, dass wir kleine isolierte Einzeller sind, und daher müssen wir uns fürchten.
Zartheit: Das ist die Verbindung von Kraft und Verwundbarkeit. Das verlangt die innere Stärke, dass wir den Mut haben, uns verwundbar zu machen.
Dankbarkeit: Weil sie uns hilft, immer in den gegenwärtigen Augenblick zu kommen. Man kann nicht in der Vergangenheit oder für die Zukunft dankbar sein. Im «Augenblick» sind wir immer mit unserem wahren Selbst und nicht mehr mit unserem kleinen Ego verbunden, denn das lebt von Vergangenheit und Zukunft.
Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Lebensfreude. Wir halten diesen Schlüssel in unseren eigenen Händen. Jeden Tag wird uns eine Vielzahl von Gelegenheiten geschenkt, uns zu freuen. Es fragt sich nur, ob wir diese vielen Gelegenheiten überhaupt wahrnehmen? Meistens wohl nicht. Der Grund ist ganz einfach. An schwierigen Tagen stehen unsere Schwierigkeiten so im Vordergrund, dass wir alles andere übersehen. Und an den guten Tagen nehmen wir alles ganz selbstverständlich, alles ganz undankbar als selbstverständlich hin.
Echte Dankbarkeit bezieht sich auf eine andere Person. Wir können nicht im selben Sinne Dingen oder der Natur dankbar sein.
Kann sich eine Dankbarkeit nicht auf eine Person richten, dann schwindet sie. Das Schöne ist, dass die Freude, die wir durch Dankbarkeit ausdrücken wieder zur Quelle, also zu uns selbst zurückfließt. Deshalb ist ein Mensch, der nicht von Herzen dankbar sein kann, ein beklagenswertes Geschöpf.
Oft können die Narben verletzter Gefühle diese Fähigkeit zur Dankbarkeit behindern. Das sind Menschen, die selbst dann, wenn sie Liebe erfahren, sich ständig quälen: Weshalb sollte jemand seine Liebe an mich verschwenden?
Mitgefühl: Das ist, wie wenn man ein Instrument spielt, die Resonanz mit dem anderen, das Mitschwingen in Freude und in Schmerz. Und das verlangt, dass wir uns einlassen.
Die Kirchen sollten Schulen des Herzens sein. Und das können sie nur, wenn sie die Mystik wieder entdecken. Die persönliche Erfahrung der Einheit mit dem Göttlichen. Für Menschen, die mit dem Begriff Gott nichts anfangen können: die Begegnung mit der letzten Wirklichkeit. Nie aber ist echte Lebensfreude dem Sinnlichen entfremdet, soweit sie auch darüber hinauswächst.
Was für Tiere der Selbsterhaltungstrieb ist, das ist für uns Menschen die Sehnsucht nach Sinn. Nur durch Liebe finden wir Sinn. Indem wir in Liebe aufgehen, werden wir Sinn.
Das Schweigen ist buddhistisch. Das Wort ist christlich. Das Verstehen ist hinduistisch.
Aus dem Schweigen kommt das Wort. Aus dem Wort kommt das Verstehen, das dann wieder ins Schweigen übergeht.
Andreas Salcher
Während seiner Studien des Zen-Buddhismus versuchte Bruder David genau den Sinn einer Lektion, die ihm ein Zen Meister gerade erteilt hatte, wiederzugeben, um zu prüfen, ob er auch alles gut verstanden hatte: «Wunderbar, genauso ist es: wie schön wäre es gewesen, wenn Du geschwiegen hättest.»
Als sie sich später in einem Gespräch immer mehr verloren, und der Zen Meister seinerseits versuchte, einen Gedanken mit Worten noch klarer auszudrücken, stoppte dieser plötzlich und sagte: «Ich rede zu viel, jetzt denke ich schon wie ein Christ.»
Für Bruder David ist selbst das Abstauben seiner wenigen Möbel in der Einsiedelei ein liebkosendes Berühren. Die jungen Mönche im Zen-Kloster Tassajara, erzählt er, die mit dem Saubermachen beauftragt wurden, wollten das praktisch, schnell und gründlich hinter sich bringen. «So geht das nicht. Wenn ihr den Besen in der Hand habt, soll die Hand zum Staub sagen: Verzeih, aber du bist zurzeit am falschen Platz. Erlaube, dass wir dir weiterhelfen, wo du hingehörst.»
Bruder David
Geben und Empfangen – die Spirale der Freude:
Die Mutter beugt sich über das Kind in der Wiege und reicht ihm die Rassel. Das Baby erkennt das Geschenk und erwidert das Lächeln der Mutter. Die Mutter ihrerseits hoch beglückt von der kindlichen Geste der Dankbarkeit, hebt das Baby hoch und küsst es. Das ist sie, die Spirale der Freude.
Ist nicht der Kuss ein größeres Geschenk als das Spielzeug? Ist nicht die Freude, die darin zum Ausdruck kommt, grösser als die Freude, die unsere Spirale ursprünglich in Bewegung setzte?
Die Aufwärtsbewegung der Spirale deutet jedoch nicht nur an, dass die Freude stärker geworden ist. Sie hat auch die ursprüngliche Trennung zwischen der Geberin und dem Empfänger aufgelöst. Wer kann im abschließenden Kuss der Dankbarkeit noch zwischen Geber und Empfänger unterscheiden? Eine Eskalation zum Guten hat stattgefunden.
Quelle: Aus Manuskript Der verletzte Mensch von Andreas Salcher