Interview von David Steindl-Rast OSB geführt von Rudolf Walter für das neu erschienene Buch Einfach leben - wie geht das?

dankbarkeit alles ist gelegenheit titellCopyright © - Barbara Krähmer

Das kleine Wort «Gelegenheit» beschreibt das Tor zur Aktivität und macht die Dankbarkeit zu etwas sehr Schöpferischem.

Natürlich sind wir nicht für alles dankbar. Aber alles kann eine Gelegenheit für Dankbarkeit werden. Wir können nicht dankbar sein, weil etwas misslingt. Aber wir können dankbar sein für die Gelegenheit, daraus etwas zu lernen: Geduld zum Beispiel. Oder Aufmerksamkeit. Und natürlich können wir für Krieg, Ausbeutung oder Hunger in der Welt nicht dankbar sein. Aber wir können — wenn wir damit konfrontiert werden — dankbar sein für die Gelegenheit, etwas zu tun. Sonst ist eine schwierige Situation nur ausweglos. Dieses kleine Wort «Gelegenheit» verlangt Achtsamkeit, es beschreibt das Tor zur Aktivität und macht die Dankbarkeit zu etwas sehr Schöpferischem.

Auch so etwas wie der katastrophale Angriff auf das World Trade Center war ein Ruf zur Dankbarkeit. Die allgemeine Reaktion war aber Angst. Die in der Folge wieder Schrecken und Gewalt hervorrief! Wenn wir wach gewesen wären, hätten wir uns gefragt: Wozu bietet uns das jetzt Gelegenheit — um zu wirklichem Frieden zu kommen? Wenn wir uns diese Frage nicht stellen, dann werden wir hineingezogen in einen Strudel von Reaktionen, die nicht wirklich Antworten sind, sondern Reaktionen des kleinen Ich, das immer Angst hat. Niemand ist in einem Krieg je Sieger. Aggression und Krieg stecken an. Sie infizieren auch die Sieger.

Dankbarkeit ist ein Schlüssel zur Freude. Freude macht uns lebendiger, kräftiger, verbindet uns mit den anderen.

Dankbarkeit ist ansteckend, das ist das Wunder: Ein dankbarer Mensch, der sich schon am frühen Morgen freut, einen neuen Tag vor sich zu haben, auch wenn das Wetter nicht gerade wünschenswert ist, wird freundlich in den Tag hineingehen, und wir wissen wie ansteckend Freundlichkeit ist. Ganz fremde Menschen, die einen anlächeln, können den ganzen Tag verändern. Wir können die Welt ändern dadurch, dass wir freudig ins Leben gehen. Freude macht uns lebendiger, kräftiger, verbindet uns mit den anderen.

Dankbarkeit ist keine Sekundärtugend wie etwa Höflichkeit. Sie ist elementarer, der Schlüssel zur Freude. Wenn wir alles nur als gegeben hinnehmen, dann entsteht keine Freude. Menschen, die alles haben, was man zur Freude brauchen würde, und nicht dankbar sind dafür, freuen sich nicht daran. Menschen, die sehr wenig haben, was Freude schenkt, aber für das Wenige dankbar sind, haben viel größere Freude. Es gibt Kulturen, in denen man sich nicht daran freut, wie viel man besitzt, sondern darüber, wie wenig man braucht, um glücklich zu sein.

Die Konsumwerbung suggeriert uns, dass es noch etwas viel Besseres gibt. Oder dass andere es noch besser haben als wir. Das ist, wie wenn man ein Gefäß immer größer machen würde, so dass es nie zum Überfließen kommt. Dem können wir vorbeugen, indem wir unser Gefäß freiwillig und bewusst kleiner machen statt größer. Dann fließt es früher über. Wenn man an einem Tag fastet oder weniger isst, freut man sich an dem Wenigen weit mehr als an anderen Tagen an der vollen Speise.

Wenn alles Geschenk ist, dann ist die einzig passende Antwort: Dankbarkeit. Darum gibt es alles. Aus Liebe! Und aus Liebe können wir uns wieder zurückschenken. Und so stehen wir in einem Kreislauf göttlichen Lebens.

Dankbarkeit beginnt mit der Einsicht, dass alles geschenkt ist. Augustinus sagt: Alles ist Gnade. Unser Dasein, die Welt. Alles unverdient. Und wenn alles Geschenk ist, dann ist die einzig passende Antwort: Dankbarkeit. Gemeint ist etwas Umfassenderes, als sich durch kleine Aufmerksamkeiten für etwas erkenntlich zu zeigen. Es geht letztlich um unsere Einbettung in das göttliche Leben. Alles, was es gibt, entspringt dem fruchtbaren Urgrund der Liebe, die sich ausdrücken will: Darum gibt es alles. Aus Liebe! Und aus Liebe können wir uns wieder zurückschenken. Und so stehen wir in einem Kreislauf göttlichen Lebens.

Dem «Vater», dem Ursprung schenken wir uns zurück: Ich habe alles von Dir empfangen, ich habe nichts von mir selber, ich habe Dir nichts zu geben als mich selbst. Im letzten Verständnis der Dankbarkeit ist auch die Antwort zu finden auf die große menschliche Frage: Wer bin ich? Ich bin Geschenk, das ich dankbar zurückschenken kann dadurch, dass ich mich verwirkliche. Es geht im Leben um diesen dynamischen Kreislauf einer Liebe, die alles hervorbringt und sich wieder zurückschenkt.

Wenn wir uns ständig im Sinne einer Konkurrenz und Missgunst mit anderen vergleichen, mag der Vergleich mit Menschen, denen es schlechter geht, auch ein Zugang zur Dankbarkeit sein. Aber auf dieser Bewusstseinsstufe zu stehen, ist nicht ideal, denn das Vergleichen kommt ja nur vom Ich. Das Selbst hat niemanden, mit dem es sich vergleichen kann, das Selbst ist unvergleichlich, weil es mit allem eins ist.

«Das Selbst» — das bin ich letztlich wirklich. Um das zu verstehen, ist ein Ansatzpunkt, zu fragen: Du lebst — was heißt das? Unzählige Lebensprozesse gehen in deinem Körper vor sich. Wer kontrolliert die denn? Bist du das? Kannst du jetzt dein Frühstück verdauen? Versuch's einmal. Das musst du etwas anderem überlassen, eben dieser Kraft in dir, die du selbst bist und die du mit allen anderen teilst. Und die sich nicht trennen lässt von der Kraft, die Bäume wachsen lässt und den Regen sendet und die Erde um die Sonne kreisen lässt und die Sonne in ihrer Bahn führt: Das alles ist eine Kraft, die auch in dir wirkt.

Dankbarkeit verbindet, was zerrissen ist: Sie heilt die Beziehung zu anderen, die Beziehung zwischen Ich und Selbst, und die Beziehung zum Göttlichen, zu der letzten Wirklichkeit. Sie ist nah am Herzen jeder Religion.

Dankbarkeit ist also zutiefst religiös in dem Sinne, dass sie wieder verbindet, was zerrissen ist: im tiefsten Sinn von Religion «religio, religare». Zerrissen ist unsere Beziehung zu anderen, die Beziehung zwischen Ich und Selbst, und die Beziehung zum Göttlichen, zu der letzten Wirklichkeit. Dankbarkeit ist also nah am Herzen jeder Religion, ein Verbindungsglied zwischen den verschiedenen Religionen und wichtig im religiösen Dialog.

Wir können ja nicht sagen: Mein Verhältnis zu allen anderen ist wunderbar, nur zu mir selber habe ich keine guten Beziehungen. Oder: Mit Gott habe ich eine wunderbare Beziehung, aber mit den Menschen komme ich halt nicht aus, oder die Natur ist mir völlig egal. Es hängt alles zusammen. Es gibt viele Menschen, die wirklich gut und voller Liebe zu anderen Menschen sind. Von ihnen sagt Jesus: «Was ihr meiner Schwester, meinem Bruder getan habt, das habt ihr mir getan.» Und Johannes sagt: «Wie könnt ihr sagen, dass ihr Gott liebt, wenn ihr den Nächsten nicht liebt». Diese Beziehung zum Anderen zu haben und dadurch zu Gott, das hat Jesus uns gelehrt. Wir haben das nicht verstanden. Jemand hat gesagt: Das Christentum hat nicht versagt, es ist nur nie versucht worden.

Eine Lebensaufgabe bis zuletzt!

Nur indem ich etwas übe, wird es zur Haltung. Am besten ist, man schreibt ein Tagebuch und notiert regelmäßig, wofür man dankbar sein darf. Man wird viel offener in den nächsten Tag gehen und bewusster leben. Was noch wichtig ist: die Stille suchen. Erst in der Stille können wir tiefe Dankbarkeit spüren. Wer dankbar ist, kann übrigens nicht unglücklich sein. Er weiß, dass er in Verbindung ist mit anderen, einbezogen in ein Netzwerk von Geben und Nehmen. Und er sagt Ja dazu: Dieses Ja ist das Wesen der Liebe.

Wenn ich dankbar dem Sein gegenüber bin, werde ich das auch im nächsten und übernächsten Augenblick sein können — und dann auch im letzten Augenblick, wenn es darum geht, das Ich endgültig loszulassen im Sterben.



Quelle: Auszug  aus Buch Einfach leben - wie geht das? (2013).

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