Von Herbert Pietschmann

In meiner ersten Lebenshälfte hatte ich einen Lieblingsroman: Somerset Maughams: «Of Human Bondage». Philip die Hauptfigur dieses Werkes, leidet an einem Klumpfuß. Als Schüler in einem Internat beschließt er, mit Gott einen Pakt einzugehen: Er werde bis zu einem bestimmten Tag alle Gebote treu einhalten, dafür habe ihn Gott an diesem Stichtag von seinem Klumpfuß zu befreien.

Als er am Stichtag frühmorgens die Decke wegschlägt, ist er sich seines Sieges sicher. Umso größer daher die Enttäuschung, als er seinen Fuß in unveränderter Form vorfindet! Der Internats-Direktor bemerkt Philips Unrast und Rebellion und lädt ihn zu einem Gespräch. Philip errötet zutiefst, als die Rede auf seinen Klumpfuß kommt. Aber der Direktor sagt ernst: «Ich frage mich, ob du nicht ein wenig überempfindlich auf dein Unglück reagierst. Bist du je auf die Idee gekommen, Gott dafür zu danken?» Philip presst die Lippen zusammen. «Solange du dich dagegen wehrst, wirst du Scham empfinden. Erst wenn du es als Kreuz betrachtest, das dir nur deshalb gegeben wurde, weil deine Schultern stark genug sind, es zu tragen, also als Gefallen Gottes, kann es zu einer Quelle des Glücks werden.»

Diese Stelle hat mich immer tief berührt! Dankbarkeit für all die wunderbaren Erlebnisse, die herrlich schöne Natur, die lieben Menschen ‒ Ja! Aber Dankbarkeit für schwer zu ertragende Schicksalsschläge?

Im Laufe meines Lebens ist mir immer deutlicher geworden, dass es zu einfach ist, die uns zustoßenden Ereignisse in «gute» und «schlechte», in Geschenke und Schicksalsschläge einzuteilen. Was uns formt, sind doch viel mehr die Zumutungen des Schicksals als die freudigen Ereignisse, für die wir ganz von selbst Dankbarkeit empfinden. Und ein Leben, das niemals gefordert wird, das nie an Grenzen stößt, nie Verzweiflung ahnt, bleibt doch schal!

Wie oft hat sich ein scheinbar sinnloser Schicksalsschlag später als entscheidend für gute Weichenstellungen entpuppt! Und wenn wir mit einem ganz besonders schwer zu ertragenden Verlust leben gelernt haben, ohne ihn zu verdrängen, dann sind wir dadurch ganz neue Menschen geworden, sind gereift und innerlich ausgeglichener.

Sollten wir vielleicht gerade für schwer zu ertragende Schicksalsschläge dankbar sein und die wunderbaren Erlebnisse einfach hinnehmen? Auch das wäre wohl keine vernünftige Einstellung. Allzu leicht schlägt sie um in Pharisäertum, in jene Haltung, die sich zähneknirschend gute Miene zum bösen Spiel abringt.

Vielleicht sollten wir einfach dafür dankbar sein, dass wir leben dürfen, dass wir in dieser Welt voller Wunder, freilich auch voller Bürden dabei sein dürfen. Dankbar sein für das Ganze des Lebens, nicht nur des eigenen, auch das der Mitmenschen, und einschließen, dass zu diesem Leben außer den schönen Seiten auch die Schicksalsschläge gehören, ohne die es gar keine Freude gäbe. Denn erst durch Schmerz wird Freude zu dem erfüllenden Glück. Ohne sie bliebe sie schal.

Nun weiß ich freilich, dass diese Überlegungen nur für mich selbst gelten. Niemals dürfte ich einem anderen Menschen, der gerade unter Schicksalsschlägen leidet, solche Gedanken mitteilen, sie kämen einem besonders subtilen Hohn nahe. Eine Aufforderung an andere, für die eigenen Probleme dankbar zu sein, wäre nichts anderes als ein Abdanken der Nächstenliebe.

Aber es gibt Ausnahmen! Als der Direktor in Maughams Roman zu Philip spricht, ist der Ernst zu fühlen, von Hohn ist dabei nichts zu spüren. Aber nur wer mit seinen eigenen Schicksalsschlägen so weit ins Reine gekommen ist, dass er oder sie deren positive Bedeutung für das eigene Leben erkannt hat, dürfte wagen, eine derartige Ausnahmeposition zu beziehen.

Gilt das Gesagte auch für den wohl gravierendsten Schicksalsschlag, der uns allen bevorsteht, für den eigenen Tod, für die Endlichkeit unseres Lebens? Können, wollen wir auch dafür dankbar sein? Wird nicht durch das stetig herannahende Ende unser ganzes Leben in seinem Sinn infrage gestellt?

«Werd‘ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! Du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
»,

sagt Faust zu Mephisto mit der Gewissheit, stets vorwärts zu drängen, niemals der Versuchung des Verweilens zu erliegen und damit in die Vergangenheit abzugleiten. Aber selbst Faust muss altern, muss irgendwann seinem eigenen Ende ins Auge sehen. Vor der Angst, ein «ewig strebendes» Leben dennoch zu verlieren, im Tode versinken zu sehen, ist auch Faust nicht gefeit. Angst macht uns doch alles, was nicht zu uns gehört, was «anders» ist, was wir daher nicht wirklich verstehen können. Der Tod aber ist das Schlechthin-Andere! Er bedroht nicht nur unser Leben, er scheint auch dessen Sinn zu vernichten. «Was ist der Sinn eines Lebens, das weiß, dass es sterben muss?», fragen die Philosophen.

Wir können uns dieser Urangst nicht entziehen, wollen wir sie nicht einfach verdrängen. Tatsächlich ist dies ja der Versuch unserer Spaß-Gesellschaft, in einer gewaltigen, kollektiven Anstrengung den Tod aus der Gesellschaft zu verdrängen. Aber dieser Weg führt in eine Sackgasse. Statt fröhlich zu leben, mehren sich gerade in den saturierten Spaß-Gesellschaften die Depressionen, Panik-Attacken und Selbstmorde.

Versuchen wir doch einen dialektischen Zugang, fragen wir nicht nach dem Sinn eines endlichen Lebens, fragen wir zunächst, was in einem Leben ohne Ende anders wäre!

Stellen wir uns also vor, wir könnten unendlich lange leben. Wir bräuchten keine Angst mehr vor dem Ende zu haben, aber das «Jetzt» hätte seine Kraft verloren. Denn ganz wesentlich zu sinnvollem Leben gehört es doch, die «Chance des Augenblickes» zu erkennen und zu nutzen. Jede und jeder von uns Menschen kennt doch solche Situationen: Wir treffen einen für uns wichtigen Menschen; es gibt einen ganz bestimmten Augenblick, in dem das richtige Wort Bindungen knüpfen, aber auch zerstören kann. Wir stehen im Streit mit einem lieben Menschen; es gibt einen ganz bestimmten Augenblick, in dem ein gutes Wort den Frieden wieder herstellen, aber auch endgültig zerbrechen kann.

In einem Leben ohne Ende wäre das nicht so; es gibt keine endgültigen Versäumnisse, keine verlorene Chance, alles kann irgendwann wiederholt werden. Damit ist aber das Leben schal und im eigentlichen Wortsinn «sinnlos» geworden.

Selbst der Ablauf eines menschlichen Lebens wäre gestört! Geburt ‒ Kindheit ‒ Jugend ‒ Reife ‒ Alter bilden doch einen sinnvollen Kreislauf, der die jeweils neue Phase aus dem Tod der vorhergehenden erstehen lässt. Die «ewige Jugend» ist zwar auch Anspruch der Spaß-Gesellschaft, aber im selben Sinne der falsche Weg wie die Verdrängung des Todes. Auch die eigene Jugend muss sterben, um der Reife Platz zu geben. Lassen wir das nicht zu, werden wir uns bald verlieren in einem Jugendwahn, der verhindert, dass sich unser Leben vernünftig entwickelt.

Wir haben also erkannt, dass der eigentliche Sinn unseres Lebens aus der Endlichkeit entspringt. Es wäre aber falsch, nun die Angst vor dem Tod durch Freude über unsere Endlichkeit zu ersetzen. Denn es bleibt wahr: Der Tod ist das Schlechthin-Andere, das uns niemand mit Sicherheit erhellen kann. Die Frage «Was ist mit mir danach?» kann nicht mit dem Hinweis auf die sinngebende Kraft der Endlichkeit beantwortet werden. Also müssen wir noch einen entscheidenden Schritt tun und uns die Frage stellen, was denn die Natur der Zeit sei. Denn das Drohen des «Danach» ist eine Frage an die Zeit.

Augustinus, einer der großen Kirchenväter, hat in seinen «Bekenntnissen» über die Zeit nachgedacht. Er tut dies in Form einer Zwiesprache mit seinem Gott und klagt, dass er nun schon sehr lange über die Zeit grübele, dass er auch genau wisse, wie viel Zeit vergangen sei, dass er aber noch immer nicht wisse, was die Zeit sei. Und dann kommt jene berühmt gewordene Passage, die wohl das Beste ist, was man über das Wesen der Zeit sagen könnte: «Was also ist ‹Zeit›? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es: will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.»

Augustinus stellt dann fest, dass «Zeit» notwendigerweise dreigeteilt sei in Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Friedrich Schiller fasste dies so schön zusammen:

«Dreifach ist der Schritt der Zeit,
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
Pfeilschnell ist das Jetzt verflogen,
Ewig still steht die Vergangenheit.
»

Augustinus denkt dann über den Zusammenhang zwischen dem Sein und der Zeit nach. Wenn wir versuchen, die Zeit nicht nur in unserem Bewusstsein zu finden, sondern auch außerhalb der menschlichen Existenz, kommen wir sofort in Schwierigkeiten. Denn ‒ so sagt Augustinus ‒ ganz offensichtlich stellen wir fest, dass etwas existiert, dass etwas «ist». Die Zukunft aber «ist» noch nicht, denn sie wird ja erst einmal sein. Die Vergangenheit «ist» nicht mehr, denn sie war ja einmal. Nur die Gegenwart könne Anspruch auf «Sein» erheben, aber die Gegenwart ist ‒ wie in dem Schiller‘schen Vierzeiler ‒ sofort wieder weg. Wir können auch sagen, was morgen ist, wird morgen sein und nicht heute. Was gestern war, war gestern und nicht heute. «Heute» aber selbst wieder in Zukünftiges, Vergangenes und sofort Verschwindendes, Gegenwärtiges. Was also «ist» dann wirklich?

Offensichtlich sind wir in eine ausweglose Situation gelangt. Wir können sie jedoch mit Augustinus lösen, wenn wir uns besinnen, dass es ohne Bewusstsein und Seele nicht sinnvoll ist, von Zeit zu sprechen. Also schließt Augustinus: «Denn es sind diese Zeiten als eine Art Dreiheit in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht: und zwar ist da Gegenwart von Vergangenem, nämlich Erinnerung; Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augenschein; Gegenwart von Künftigem, nämlich Erwartung. Erlaubt man uns, so zu sprechen, dann sehe ich auch drei Zeiten und gebe zu: ja, es sind ‹drei›.»

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Das wesentlich Neue, ja das Überraschende ist aber nun, dass alle drei «Teile» der Zeit in der Gegenwart sind: Denn Erinnerung an Vergangenes findet eben jetzt statt, ebenso wie Erwartung von Künftigem. Wir erinnern uns jetzt an das, was gestern war, wir erwarten jetzt, was morgen sein wird!

Wenn wir nun über den Sinn der Zeit nachdenken wollen, schlage ich vor, dass wir die Dreiteilung der Zeil neu überdenken. Die «Chance des Augenblicks» kann vertan oder ergriffen werden. Ob wir etwas tun oder lassen ist jeweils eine Entscheidung in Freiheit!

Damit erhält aber die Zeit eine ganz neue Dimension, denn die Dreiteilung in Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit verstehen wir nun als Akt des Entscheidens in Freiheit. Das, was noch offen, was noch nicht durch Entscheidungen festgelegt ist, ist Zukunft. Vergangenheit ist alles bereits Festgelegte, alles Entschiedene; und die Gegenwart ist der Akt des Festlegens, das Auseinanderteilen in Wirkliches und nicht mehr Mögliches durch die Entscheidung.

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Bezüglich der Materie ist dies nichts Neues. Aber bezüglich des Sinns alles Geschehens eröffnen sich nun völlig neue Aspekte! Denn wir können jeder unserer Handlungen immer noch neuen Sinn geben, solange wir leben. Eine Entscheidung in der Gegenwart kann eine lange Vergangenheit in ihrem Sinn ganz neu bestimmen. Wenn wir etwa in einer Partnerschaft an eine Krise geraten, so kann die Entscheidung, die Bindung zu lösen oder aus der Krise neu zu gestalten, dem bisherigen Leben ganz neue Bedeutung geben. Was materiell Vergangenheit bleiben muss, kann also im Bereich der Freiheit Zukunft sein!

Je älter ein Mensch wird, um so mehr materielle Vergangenheit hat er, um ihren Sinn bestimmen zu können. Also hat er auch umso mehr Zukunft, wenn er sich zur Sinngebung entschließt. Erst im Augenblick des Todes ist das Leben vollendet, materielle und sinnhafte Zeiten klaffen nicht mehr auseinander, sie sind eins geworden und treten aus der Abfolge «Zukunft ‒ Gegenwart ‒ Vergangenheit» heraus.

So verstehe ich auch die «Weisheit des Alters». Wer sich der Konsequenzen seiner Entscheidungen im Hinblick auf die Sinngebung der Vergangenheit bewusst ist, wird im Alter vorsichtig sein, weil durch jede Entscheidung viel mehr beeinflusst wird als in der Jugend! «Gegenwart» ist der Akt des Entscheidens. Weil aber die Zeit «vergeht», ohne dass wir sie aufhalten können, wird immer entschieden. Denn auch nicht zu entscheiden ist eine Entscheidung.

Entscheiden heißt Festlegen, denn was wieder zurückgenommen werden kann ist noch nicht wirklich entschieden. Festgelegt wird aber nicht im Denken, sondern in der Materie durch Handeln. In diesem Sinne ist Materie auch Voraussetzung für Freiheit und damit für Zeit! (Dass Materie und Zeit zusammen mit dem Raum eine untrennbare Einheit bilden, hat auch die moderne Physik als gesichert erkannt.)

Jede Entscheidung kann den Sinn des vergangenen Lebens neu bestimmen. Dies immer mitzudenken ist Verantwortung. Deshalb ist Freiheit auch immer ambivalent: Sie ermöglicht erst ein sinnvolles Gestalten des Lebens und zugleich gefährdet sie alles Bisherige in seinem Sinn. Wir sind daher immer versucht, uns der Freiheit zu entziehen. Die häufigsten Methoden sind Delegation oder Willkür. Willkür ist blind für die Folgen jeder Entscheidung, sie will keine Verantwortung gelten lassen. Delegation ist Flucht aus dem Jetzt.

Das Leben im «Jetzt» heißt, sich der Gunst des Augenblicks möglichst immer bewusst zu sein, heißt «Innehalten», auch bei großer äußerer Geschwindigkeit.

Wenn mein Tod bedeutet, dass ich nicht mehr frei bin, Entscheidungen zu treffen, dann heißt das auch, dass ich «keine Zeit mehr habe», dass ich nicht mehr der Dreiteilung in Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit unterworfen bin. Damit erübrigt sich aber auch die Frage nach dem «Danach», denn es ist eine Frage nach der Zukunft, die als Teil des Ganzen der Zeit nicht mehr existiert. Das «Ganze der Zeit» ist es dann, dem ich unterworfen bin. In unserer Tradition wird es auch «Ewigkeit» genannt.

Freilich bleibt der Tod das «Schlechthin-Andere», weil ich mir als lebender Mensch in der dreigeteilten Zeit keine Vorstellung vom Ganzen machen kann. Aber das scheint mir ein gütiger Zug des Lebens zu sein, denn wenn ich über alles, auch über das «Schlechthin-Andere» Gewissheit bekommen könnte, wäre mein Leben genau so schal wie das eines Menschen der «Spaß-Gesellschaft», der die Frage verdrängt. Die notwendige Ungewissheit in den wesentlichsten Fragen des Lebens ermöglicht erst jene Faustische Sehnsucht, die zu den Tiefen und Weiten des menschlichen Lebens führen kann.

Darum kann ich dankbar sein für die Endlichkeit meines Daseins, auch wenn mir die Endlichkeit des Daseins meiner Lieben tiefsten Schmerz bereiten wird.

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 146-151
© Herbert Pietschmann (2006)

Herbert Pietschmann, Prof. Dr. phil., *1936 in Wien, Studium der Mathematik und Physik an der Universität Wien, Habilitation in theoretischer Physik Wien und Göteborg 1966. Forschung am CERN in Genf, in Virginia (USA), Göteborg (Schweden) und Bonn. Seit 1971 O. Univ. Prof. der Universität Wien. Vortragsreisen in Europa, USA, Naher Osten, Japan und China. Seit 2004 Emeritus. Korresp. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Wiener Intemationalen Akadamie für Ganzheitsmedizin der New York Academy of Science und Fellow der World Innovation Foundation. Zahlreiche Publikationen.

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