Von Joan Halifax Roshi

Buddha sagte zu seinem Vetter Ananda: «Das Beste in einem heiligen Leben sind gute Freunde.» Diese Art Freundschaft verbindet mich mit Bruder David.

Freundschaft ist ein Hort. Die Verbindung zwischen spirituellen Freunden ist wie ein schützendes Dach, von starken Stützbalken getragen. So, wie im Buddhismus schützende Zuflucht gefunden wird in Buddha, der Lehre ‒ dem Dharma ‒ und der Gemeinschaft ‒ der Sangha ‒, so ist auch die Freundschaft unter Gleichgesinnten eine Zuflucht. In diesem Schutz blüht die Dankbarkeit auf.

Bruder David trat vor drei Jahrzehnten in mein Leben. Er und sein Freund Vanja luden mich damals ein, mit ihnen zusammen nach Tassajara zu wandern. Auch wenn wir diese Wanderung dann doch nicht zusammen gemacht haben, berührten sich unsere Lebenswege seither immer wieder. Wir sind uns als Lehrer und Freunde begegnet, als Sinnsuchende und Forschende. Die Jahre vergingen und unsere Wege führten vermehrt in die Gegenden des Herzens. Dadurch wurden er und ich nicht nur immer ältere Freunde, sondern wir wurden selbst älter, und ich habe zusammen mit vielen andern eine neue Atmosphäre gefunden, in der wir atmen konnten. Dankbarkeit ist diese Atmosphäre.

Bruder David ist ein so genannter Christ. Ich bin eine so genannte Zen-Praktizierende. Jedoch im Herzen unserer so verschiedenen Übungen ist ein gemeinsamer Grund. Im Zen wird jeden Morgen, Mittag und Abend durch die liturgische Praxis Dankbarkeit erwiesen. Wir bieten Buddha, Dharma und Sangha unsere Dankbarkeit dar. Das bedeutet: Wir sind dankbar für die Erleuchtung aller Lebewesen, für den Ozean der Weisheit und des Mitgefühls und für die Verbundenheit aller Geschöpfe untereinander.

Wir danken unseren Vorfahren und unseren Lehrern. Das heißt: Wir bieten unsere Dankbarkeit allem dar, was vor uns schon da war, und auch all jenen, die uns auf unserem Weg geleiten. Unser Lehrer ist nicht nur der menschliche Lehrer, dem wir zugetan sind. Auch jeder Augenblick lehrt uns und ist somit unser Lehrer.

Wir sind dankbar für dieses Leben, das uns geschenkt wurde, und für die einmalige Gelegenheit, uns darin üben zu können, allen Lebewesen zu dienen. Das hilft uns wiederum, uns für das Geschenk des Lebens erkenntlich zu erweisen.

Auch wenn unsere Dankbarkeit als Buddhisten in den Bezugspunkten von Buddha, Dharma, Sangha ihren Ausdruck findet, ist Dankbarkeit im Grunde ohne Bezug. Es ist das Aufgehen des Bodhicitta, das Erwachen des Herzens, das durch unser Tun angeregt wird. Und dieses Entfalten können wir Dankbarkeit nennen. Es ist die letzte Wirklichkeit in ganzer Zufriedenheit, ganzer Leichtigkeit, ganzer Freude, ganzer Selbstlosigkeit und ganzer Hingabe für den fortwährenden Prozess der Erweckung.

In Bruder Davids Gegenwart haben viele von uns festgestellt, dass Dankbarkeit nicht nur ein Geisteszustand ist. Es ist beides: Weg und Reise. Häufig führt der Weg über Verlust und Kummer, und Leben sickert durch die Brüche in unserem Herzen zum Kern unseres Seins. Bruder David und ich verwenden häufig Poesie, um die Tür zu öffnen, die den Eingang zwischen «dieser Welt und jener Welt» schützt, wie es Rabia sagt. Für sie, die erste Dichterin und Mystikerin des Dari, der neupersischen Schriftsprache, die im 10. Jahrhundert lebte, bedeutet «diese Welt» unser tägliches Leben. Sie verwendet die Bezeichnung «jene Welt», um die transzendente Natur unseres Herzens zu beschreiben. Ihre Sorge über die Trennung dieser Welten ist vielen von uns wohl bekannt. Diese Sehnsucht nach Überwindung der Trennung ist es, die uns dazu bringt, die Tür zwischen den Welten aufzustoßen.

Jedes Wohlwollen ist von Fürsorge begleitet. Diese Fürsorge lädt uns ein, alles loszulassen. Für was auch immer wir dankbar sind, wir können es nicht behalten. Alles wird uns früher oder später verlassen. Die Wahrheit über die endgültige Vergänglichkeit unseres Lebens ist beides: niederdrückend und befreiend.

Ein zweiter Stein, der umgekehrt worden ist auf der Reise entlang dem Pfad der Dankbarkeit, barg die Entdeckung: Wir sind nicht getrennt von den anderen, weder im Leiden noch in der Erkenntnis. Wir teilen die gemeinsamen Bande von Krank-Sein und Freiheit. Das gibt uns den Raum, in dem wir unsere Absonderung und Entfremdung fallen lassen können, um festzustellen: Du und ich gehören der selben Welt an. Wir können nichts besitzen. Was auch immer wir zu besitzen glauben, wird uns verlassen.

Das folgende Gedicht der zeitgenössischen Dichterin Margaret Atwood zeigt uns auf seine Weise, dass wir nichts besitzen, und dass wir, viel eher, allem zugehören.

THE MOMENT

The moment when, after many years
Of hard work and a long voyage
You stand in the centre of your room,
House, half-acre, square mile, island, country,
Knowing at last how you got here
And say: I own this,

Ist he same moment when the trees unloose
     their soft arms from around you
The birds take back their language,
The cliffs fissure and collapse,
The air moves back from you like a wave
And you can't breathe.

No, they whisper. You own nothing.
You were a visitor, time after time
Climbing the hiII, planting the flag, proclaiming.
We never belonged to you.
You never found us.
It was always the other way round.

IN DEM AUGENBLICK

In dem Augenblick, in dem du nach vielen langen Jahren
Harter Arbeit und einer langen Reise
lnmitten deines Zimmers stehst,
Deines Hauses, eines halben Morgen Landes, einer Quadratmeile, einer Insel,
eines Landes, in dem du endlich weißt, wie du dahin gekommen bist,
Und sagst: das gehört mir,

In diesem Augenblick werden die Bäume
     ihre sanften Arme von dir lösen,
Die Vögel nehmen ihre Sprache zurück,
Die Felswände spalten sich und stürzen ein,
Die Luft weicht zurück von dir wie eine Welle
Und du kannst nicht mehr atmen.

Nein, flüstern sie. Dir gehört nichts.
Du warst ein Gast, von Mal zu Mal
Wenn du den Hügel erklommen die Fahne gehisst, ausgerufen hast.
Wir gehörten dir niemals.
Du hast uns niemals gefunden.
Es war immer umgekehrt.

Die Frage ist immer: Wie können wir uns öffnen, um einander zu gehören, um allen Lebewesen und Dingen anzugehören? Einmal war ich dabei, als Bruder David seine Brille abnahm und zu den Studenten, die zu seinen Füßen saßen, sagte: «Ich gehöre zu dieser Brille.» Weil er zu dieser Brille gehört, trägt er Sorge zu ihr. Wenn ich meine Studenten betrachte, wird mir klar, dass ich ihnen gehöre. Weiterblickend, gehören wir alle einander; wir gehören zu dieser Erde. Diese Sicht, allen Lebewesen und allen Dingen anzugehören, öffnet den Weg zur Dankbarkeit.

Wie kommt das? fragen wir. Was wir in der Dankbarkeit des Zugehörens finden können, ist Vertrautheit. Ich erinnere an den Zen-Koan, in dem ein Mönch seinen Meister fragt: «Welcher von den drei Körpern des Buddha fällt in keine Kategorie.» Der alte Meister antwortete: «Ich bin immer mit allen vertraut.» Diese Worte erklären seinem Studenten, dass er sich verlassen kann auf die Arme der Unmittelbarkeit und nicht auf den kategorialen Verstand. Ich bin immer mit allen vertraut! ‒ Die Güte aus solcher Erfahrung von Vertrautheit ist beides, innig und weit. Solche Vertrautheit ist das Herz der Dankbarkeit.

Das wahre Herz der Vertrautheit wird wundervoll ausgedrückt in den Worten von Zen-Meister Dôgen, den nichts trennt von Buddha, vom Fluss oder Berg.

Die Farben der Berge
Der Laut des Flusses
Ist alles Stimme
Meines Shakyamuni Buddha

Der alte Mann ist in allem, und alles ist in Buddha, alles erweckt sich selbst.

Bruder David sagt: Das Gefühl der Grenzenlosigkeit erhebt sich in eine Erfahrung des Lobpreisens. Und davon gehen großer Frieden und große Freude aus. In dem Gedicht von Dale Biron finde ich das ausgedrückt:

NO SOLICITATIONS ALLOWED

That year we met, I think
You really meant it, that part
About ‹no way› at first but then
My foot got in the door somehow
And caused quite a stir among us
Both, next a whole history happened.

There are some things so wonderfully
Mysterious that even mountains wiII
Not say them out loud, and they
Will simply stand there
In silence and in love
Madly with the sun and rain,
And moon.
Forever

KEINE BITTGESUCHE GEWÄHRT

Das Jahr, in dem wir uns trafen, ich denke.
du hast es wirklich gemeint, dieses
‹keinesfalls› zu Beginn, aber dann
geriet irgendwie mein Fuß in die Tür
und brachte einiges in Bewegung zwischen uns,
und dann folgte eine ganze Geschichte

Es gibt einige Dinge so wundervoll
geheimnisvoll, dass sogar Berge
sie nicht laut aussprechen, und sie
einfach dort stehen
schweigend und in Liebe
verrückt von Sonne und Regen
und Mond.
Für immer

Welche Tür hält dein Fuß offen? Welche mein Fuß? Welche Tür bleibt offen durch Bruder Davids Fuß? Wie sollen wir die Bewegung nennen, die wir verursachen? Liebe, Dankbarkeit, Gnade, Lobpreis? Alle kommen aus derselben Substanz: derjenigen des Vertrauens über alle Kategorien hinweg.

Was ist jenseits aller Kategorien? Im Fall Sechs der berühmten «Aufzeichnungen des Meisters vom Blauen Fels», der Koan Sammlung von Bi-Yän-Lu, erklärte Meister Ummon der Versammlung: «Ich frage euch nicht nach den Tagen vor dem Fünfzehnten des Monats. Über die Tage nach dem Fünfzehnten jedoch möchte ich ein Wörtchen von euch hören.» In der großen Halle blieb es still. Niemand antwortete. So gab er selbst die Antwort: «Jeder Tag ist ein guter Tag.»

Der fünfzehnte Tag des Mondmonats ist Vollmond, und entspricht klarer Erleuchtung. Armer Ummon: Niemand wusste die Antwort. Um ehrlich zu sein, seine Frage war eine Falle, wie wir aus seiner eigenen Antwort ersehen können. Jeder Tag ist ein guter Tag. ‒ Vor und nach der erleuchtenden Erkenntnis ist jeder Tag ein guter Tag.

Ich habe jahrelang mit Sterbenden und mit Gefangenen gearbeitet. Ist jeder Tag ein guter Tag für all diejenigen, die leiden? Da ist Schmerz, da gibt es akute körperliche und geistige Beschwerden, und dann gibt es das Leiden in all den Geschichten um den eigentlichen Schmerz herum. Jedes Jahr verbringe ich auch Zeit mit Menschen, deren Leben nur Schmerz ist und die dennoch nicht leiden. Wer sind diese Gesegneten? Wer findet in Schmerzen etwas, das befreit von der Schäbigkeit des Elends, und ist dankbar trotz dem Leiden? In solchen Menschen sind die Wurzeln der Erleuchtung, die Wurzeln der Freiheit, die Wurzeln der Dankbarkeit. Ihre Stärke liegt in der Fähigkeit, Dankbarkeit zu empfinden inmitten der totalen Niederlage. Itzak Perlman, der Geigenvirtuose: Seine Musik erhielt nach seiner Lähmung durch Poliomyelitis phänomenale Tiefe. Helen Keller, deren Taubheit und Blindheit geeignete Begleiter für grenzenlose Klugheit und Mitleid wurden. Nelson Mandela, dem die Jahre in Gefangenschaft zur Geburt echten Einfühlungsvermögens verhalfen, sogar in diejenigen, die ihn eingesperrt hatten. Dies ist der «Frieden der wilden Dinge», von dem das Gedicht von Wendell Berry1 spricht. Dies ist lebende Dankbarkeit.

THE PEACE OF WILD THINGS

When despair for the world grows in me
and I wake in the night at the least sound
in fear of what my life and my children's lives may be
I go and lie down where the wood drake
rests in his beauty on the water, and the great heron feeds

I come into the peace of wild things
who do not tax their lives with forethought
of grief. I come into the presence of still water

And I feel above me the day-blind stars
waiting with their light. For a time
I rest in the grace oft he world, an am free
.

DER FRIEDEN DER WILDEN DINGE

Wenn die Verzweiflung über die Welt in mir wächst
und das kleinste Geräusch mich nachts aufweckt
in Furcht davor, was aus meinem Leben und dem meiner Kinder werden könnte,
dann gehe ich hinunter und lege mich hin, dort wo der unbeholfene Enterich,
in seiner Schönheit auf dem Wasser ruht, und wo die großen Reiher ihr Futter suchen
Ich komme zum Frieden der wilden Dinge,
die ihr Leben nicht mit der Vorannahme
von Leid belasten. Ich komme in die Gegenwart ruhigen Wassers.
Und spüre über mir die tag-blinden Sterne,
die mit ihrem Licht warten. Für eine Weile
verbleibe ich in der Anmut der Welt, und bin frei.

Wir können uns fragen, wie es möglich ist, leer zu werden, um sich mit der Anmut der Welt zu füllen?

Ein großer Zen-Meister, Nansen, wurde von einem Universitäts-Professor aufgesucht. Er bot dem Professor Tee an. Als er den Tee einschenkte, füllte sich die Tasse, und Nansen schenkte weiter ein. Der Professor rief: «Aber, mein Herr, die Tasse ist voll.» Nansen erwiderte: «Nun, so ist auch ihr Kopf!»

Nansen meinte damit: Öffne dich, sei ohne Vorbehalt, streife deine Haut ab. Unser ganzes Bestehen ist in dieses Geheimnis miteinbezogen. Wir wissen nicht, woher wir kommen. Wir wissen nicht, wohin wir gehen. In der buddhistischen Praxis kommt Dankbarkeit aus der Grenzenlosigkeit unseres geöffneten Herzens, nicht aus Furcht vor den geschlossenen Räumen eines Verstandes, der nur mit Ideen gefüllt ist.

Dennoch, während wir dieses Leben durchschreiten, möchten wir erkannt werden, wir möchten gesehen werden in den Einzelheiten unserer Geschichte. Bruder David erzählt immer wieder die Geschichte von Henri J. M. Nouwen, der Dias von seinen weiten Reisen mitgebracht hatte. Als er merkte, dass niemand seine Dias sehen wollte, rief er: «Ich weiß, was geschieht, wenn ich in den Himmel komme: Gott wird sagen: ‹Henri, zeige mir deine Dias!›»2 So sehr sehnte Henri Nouwen sich danach, wahrgenommen zu werden. Wir alle möchten wahrgenommen werden. Wir möchten gefunden werden und nicht für immer verloren sein. Dankbarkeit ist, was wir empfinden, wenn wir gefunden werden.

LOST

Stand still, The trees ahead and bushes beside you.
Are not lost. Wherever you are is called Here,
And you must treat it as apowerful stranger,
Must ask permission to know it an be known.
The forest breathes. Listen. It answers,
I have made this place around you,
If you leave it you may come back again, saying Here.
No two trees are the same to Raven.

No two branches are the same to Wren.
lf what a tree or a bush does is lost on you,
You are surely lost.
Stand still. The forest knows
Where you are. You must let it find you.

VERLOREN

Steh still. Die Bäume da vorn und die Büsche neben dir
sind nicht verloren. Wo immer du bist, es ist Hier,
und Du musst das Hier behandeln wie ein starker Fremder,
musst um Erlaubnis bitten, um es zu erkennen und selbst erkannt zu werden.
Der Wald atmet. Lausche. Er antwortet,
Ich hab diesen Platz um dich herum geschaffen,
Auch wenn du weggehst, kommst du vielleicht eines Tages zurück und sagst, Hier.
Keine zwei Bäume sind gleich für den Raben.
Keine zwei Äste sind gleich für den Zaunkönig.
Wenn das, was ein Buch oder ein Strauch tut, bei dir verloren ist,
dann bist auch du verloren. Steh still. Der Wald weiß,
wo du bist. Lass ihn dich finden.

Das ist eine alte Erzählung der amerikanischen Ureinwohner, die David Wagoner3 in modernes Englisch übertragen hat.

«Steh still», sagt der Dichter. «Der Wald weiß, wo du bist.» Dieses Stillsein ist die Haltung des Erleuchteten, der für immer dient, indem er innehält. Wenn wir uns auf dem Weg des Bodhisattva befinden, erkennen wir: Das erste Ideal der Großzügigkeit ist, seiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen. Das Innehalten entspringt der Erkenntnis, die uns für immer reich macht, weil wir uns als nicht getrennt von den anderen wahrnehmen. Es ist ein Zeichen von Reife, wenn kleinlicher Neid umgewandelt werden kann in Großzügigkeit und Dankbarkeit. Dana Paramita heißt der Weg, auf dem wir uns unseres eigentlichen inneren Reichtums und des Reichtums der anderen bewusst werden (Sanskrit: Tugend der Großzügigkeit / Dana = Gabe / Paramita = Tugend). Mit solcher Erfahrung können wir leicht loslassen. Es gibt nichts, an das wir uns klammem müssen. Wir sind schon vollkommen, so wie wir sind. Unsere Gebote sagen, dass wir nicht den Geist des Mangels fördern sollen, weder in uns selbst noch in anderen, sondern den Geist der Großherzigkeit. Dana Paramita hat Dankbarkeit im Herzen. Das ist es, was Loslassen bedeutet.

Es gibt die Geschichte von einer frühen Inkarnation des Buddha, der einem hungrigen Tiger seinen eigenen Körper anbot. Da war kein Kleinmut; er sah sich selbst als Nahrung für alle Wesen. Solches Loslassen, in dem sich das Selbst vollständig aufgibt für ein Anderes, das unter Hunger leidet, ist eine Tat der grenzenlosen Dankbarkeit. Wir können fragen: Was ist Hunger in anderen oder in uns selbst? Was sollen wir anbieten? Möglicherweise unsere eigene Buddha-Natur.

Es gibt eine andere Geschichte über einen zerlumpten, alten Zen-Meister, der durch den tiefsten Winter reiste. Er wurde eingeladen, in einem Tempel zu übernachten. Der Schnee lag hoch aufgeschichtet außerhalb der Dharmahalle, in welcher der Besucher verweilte. Es war bitterkalt. Der alte Mann schaute sich um und sah, dass auf dem Altar ein hölzernes Abbild des Buddha stand. Er nahm die Figur vom Altar und zündete sie an, um sich warm zu halten. Aufgebracht erschien der Wächter des Tempels und protestierte. Der alte Zen-Priester fragte, ob die Asche Reliquien enthalte? Der Wächter antwortete: «Nein, die Statue besteht nur aus Holz.» Da segte der alte Zen-Mann zum Wächter: «Komm her, mein Freund, und wärme dich.»

Komm her, mein Freund, und wärme dich. Die einzige Reliquie, die wir hier finden, ist die Neigung zur Anhaftung und die Idee, die wir uns von den Dingen machen.

Ich erinnere mich an den Spaziergang, den ich mit Bruder David letztes Jahr zu unserem kleinen Santa Fe-Flüsschen und zum Wäldchen unterhalb des Klosters machte. Er entdeckte auf dem Weg einen Stein mit dem schwarzen Gewebe eines pflanzlichen Fossils. Jede Einzelheit der Flora und Fauna entzückte ihn, während wir durch das goldene Gras zum Fluss hinuntergingen. Er pflückte eine vertrocknete Blume nahe dem Flussufer und nahm sie später mit in sein Zimmer. Er war ganz klar und durchlässig an diesem klaren und durchlässigen mexikanischen Morgen im Spätwinter. In seiner Durchlässigkeit war Dankbarkeit für das Leben, so wie es ist, und für alles, was es ihm schenkte.

THOUGHTS

When all thoughts
Are exhausted
I slip into the woods
And gather
A pile of shepherd's purse
.

Like the little stream
Making ist way
Through the mossy crevices
I, too, quietly
Turn clear and transparent
.


GEDANKEN

Wenn alle Gedanken
Erschöpft sind,
Gehe ich in den Wald
Und sammle
Eine Hand voll Hirtentäschelkraut.

Wie das kleine Bächlein
Durch bemooste Felsspalten
Seinen Weg findet,
So, auf eine stille Weise,
Werde auch ich klar und durchscheinend.
(Ryōkan)4

Eine Zen-Geschichte aus China hat mich immer an Bruder David erinnert und an seinen Entschluss, möglichst einfach und erfüllt von Dankbarkeit zu leben. Sie lautet folgendermaßen: Der Laie Pang war ein großer Praktizierender, und ebenso seine drei Töchter. Eines Tages lud er seinen ganzen Besitz auf ein Boot. Dann ruderte er hinaus bis in die Mitte des Flusses und versenkte alles, was er besaß. Später erklärte er: «Ich habe diese Sachen nicht an andere verschenkt, weil ich sie nicht mit dem Unglück des Reichtums belasten wollte.»

So ist in dieser wundervollen Dankbarkeit, die Bruder David in unser Leben brachte, sowohl Anmut wie Achtsamkeit. Sie ist stimmig und praktisch. Da belastet uns nichts mit dem Unglück der materiellen Fülle. Wir sollen unsere innere Fülle entdecken, die Fülle des dankbaren Herzens.

So gehören wir zueinander, du und ich, Bruder David und ich, du und ich und alle Lebewesen, wie die Amsel über mir, die ihr nachgeahmtes Lied singt, wie Pablo Neruda der in seinem Gedicht PASTORAL (HIRTENGEDICHT) Berge, Flüsse und Wolken in Dankbarkeit nachahmt.5

Wir leben im Haus der liebevollen Freundschaft, wenn wir die Balken und das Dach sehen: die robusten Pfeiler, die durchsichtigen Wände und den Boden, die solide unbeschränkte Grundlage. Alle Dinge leben dort mit uns, wie in der Arche Noahs, welche die Welt zum anderen Ufer trägt, sofern wir die Augen haben, es zu sehen. Wenn wir dies als Tatsache wahrnehmen, dann springt die Begeisterung des Dichters auf uns über, und Dankbarkeit ist das andere Ufer, zu dem wir heimkehren. Mit Bruder David sind so viele von uns nach Hause gelangt. Unsere Freundschaften haben uns in Richtung der guten Wahrheit gebracht, derjenigen der Dankbarkeit für alle Dinge.

HIRTENGEDICHT

Ich beginne Berge, Flüsse, Wolken nachzuzeichnen,
nehme meine Feder aus der Tasche, ich zeichne
einen Vogel auf, der auffliegt
oder eine Spinne in ihrem Seidenbau,
es fällt mir weiter nichts ein: Luft bin ich,

freie Luft, in der das Korn hin und her wogt,
und mich bewegt ein Flug, die ungewisse
Richtung eines Blattes, das runde
Auge eines unbeweglichen Fisches im See,
die Statuen, die in den Wolken schweben,
das Anwachsen des Regens.

Es fällt mir weiter nichts ein als der durchsichtige
Sommer, ich singe nichts anderes als der Wind,
und so zieht die Historie,
Leichentücher und Ehrenzeichen
einsammelnd, mit ihrem Karren vorüber,
zieht vorbei, und ich fühle nichts als Ströme,
bleibe mit dem Frühling allein.

Hirte, Hirt, weißt du nicht,
dass man dich erwartet?

Ich weiß, ich weiß, aber hier am Wasser,
indes schrill die Grillen zirpen und glühn,
obwohl sie mich erwarten, will ich mich selbst erwarten,
auch ich will mich sehn,
will wissen am Ende, wie ich mich fühle,
und wenn ich hinkomme, wo ich mich erwarte,
will ich vor Lachen einschlafen.

 

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1 Wendell Berry zeitgenössischer Kentucky Farmer und Dichter

2 Es geht im Leben darum, unsere Verbundenheit zu feiern: Interview mit Bruder David von Michaela Gründler (2019) ‒ Audio-
  Interview Das glauben wir:  Spiritualität für unsere Zeit (2015): (27:23) Gott – ein Du und Vortrag Gottesbild und Glaubenszweifel
  (2003): (13:16) «Henry, zeig mir deine Dias»

3David Wagoner, (*1926, †2021) war Professor of English and Creative Writing an der University of Washington

4 Meister Ryōkan: Alle Dinge sind im Herzen: Poetische Zen-Weisheiten, aus dem Japanischen ins Englische übersetzt von John Stevens, vom Englischen ins Deutsche übertragen von Munish B. Schiekel (2013), 72

5 Übersetzung: Erich Arendt und Katja Hayek-Arendt, in: Karsten Garscha (Hrsg.), Pablo Neruda: Das lyrische Werk, Bd. II, Luchterhand
  1985

 

Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 152-164
© Joan Halifax Roshi (2006)

Joan Halifax Roshi, Ph.D. in med. Anthropologie, *30. Juli 1942. Vorlesungen über den Tod und das Sterben an zahlreichen Universitäten. Von 1972-1975 arbeitete sie zusammen mit Stanislav Grof im Maryland Psychiatric Research Center; sie fanden neue Wege im Umgang mit sterbenden Patienten und benutzten LSD als Hilfe in der Psychotherapie. Sie studierte mit Zen-Meister Seung Sahn und lehrte an der Kwan Um Zen School. Ordination von Thich Nhat Hanh und Inka (Siegel der Erleuchtung, ausgestellt von einem Zen-Meister zur Bestätigung eines Schülers) von Roshi Bernie Glassman, mit dem sie die Peacemaker Bewegung gründete. Seit 25 Jahren bekannt als Bürgerrechtlerin, buddhistische Lehrerin und Fürsprecherin für einen neuen Umgang mit demTod. Sie leitet das Upaya Zen Center and Buddhistische Kloster in Santa Fe, Arizona.

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