Von Thich Nhat Hanh

Manchmal sind wir nicht in der Lage die warmherzige, liebevolle und teilnehmende Seite in einer anderen Person wahrzunehmen. Wir denken dann, dass diese Seite im Anderen gar nicht vorhanden ist, und neigen zur Tendenz, Andere weder zu respektieren noch zu lieben. Wir müssen deshalb Wege finden, Keime der Liebe und des Mitgefühls in Anderen zu entdecken und anzusprechen, insbesondere auch bei Menschen, die älter sind als wir.

Wenn du dich selbst nicht respektierst, und wenn du dich selbst nicht liebst, dann ist es schwer für dich, Andere zu respektieren und zu lieben, auch wenn der Andere in der Rangordnung über dir steht wie ein großer Bruder, eine große Schwester im Dharma oder ein Lehrer. Hast du jedoch gelernt, in die Tiefen deines eigenen Wesens zu blicken, dann erkennst du darin all deine Vorfahren, mit ihren sämtlichen Stärken und Schwächen und dann wirst du auch deinem Körper und deinem Bewusstsein Respekt entgegenbringen. Aber wenn du in der Vorstellung verfangen bist, dein Körper sei dein Selbst und dein Geist sei dein Selbst, unterschätzt du deinen Wert wesentlich.

Du trägst alle deine Vorfahren in dir, mitsamt ihren Stärken und ihren Erfahrungen. Wenn du dich also von der Vorstellung des Ich lösen kannst, wenn du dich selbst, Körper und Geist, als einen Strom des Daseins begreifst, dann werden all deine Vorfahren und auch die klügsten, weisesten und mitfühlendsten, zusammen mit dir, deinem Körper und deinem Geist viel mehr Respekt entgegenbringen. Dann wirst du es vermeiden, deinen Körper, deinen Geist und dein Bewusstsein zu kränken. Und dann wird es dir nicht mehr schwer fallen, den Älteren in der Sangha mit Respekt zu begegnen.

Ich denke, dass es im Westen immer noch genügend Feierlichkeiten gibt, die Anlass geben, uns vor dem geistigen Hintergrund unseres Landes, unseres Volkes und unserer Vorfahren zu verneigen. Stirbt eine Person, so kommen wir zusammen, nehmen Anteil, teilen unsere Liebe und halten gemeinsam inne. Dieser Wunsch, Respekt zu zeigen und Ehrerbietung zu erweisen, ist noch immer lebendig. Wer vor der Flagge seiner Nation salutiert und dabei still steht und auf die Nationalhymne hört, zeigt damit seinen Respekt gegenüber Generationen von Vorfahren, die das Land aufgebaut haben, die viel Energie und Zeit investierten, um für Andere einen Lebensraum zu schaffen. Diese Wahrnehmung, dieses Erkennen, diese Dankbarkeit ist in dir. Du kannst nicht behaupten, dass dem nicht so sei. Indem wir an unsere leiblichen Vorfahren und an unsere Vorfahren im Geiste denken, die so viel dafür getan haben, damit unser Leben immer müheloser und einfacher werden konnte, inspirieren sie uns zu dieser Art der Dankbarkeit und Liebe. Wir sollten mehr Anlässe schaffen, die es unseren Kindern erlauben, ihre Dankbarkeit auszudrücken. Vor dem Mittagessen, beispielsweise, könnten wir uns eine oder zwei Minuten Zeit nehmen, um tief ein- und auszuatmen und unsere Speisen zu betrachten. Diese Speisen und all die Gerichte, die vor uns auf dem Tisch stehen, entstammen einer Tradition des Kochens. Über viele Großmütter und Mütter ist das Rezept an uns weitergegeben worden. Wenn wir mit dieser Achtsamkeit unsere Umgebung wahrnehmen, werden Liebe und Dankbarkeit aufkommen.

In der spirituellen Tradition ist es genauso. Viele Lehrer haben Zeit und Energie genutzt, um zu üben, und haben dank ihrer Erfahrung wiederum die Grundlagen für unsere Übungen geschaffen. Sind wir uns dessen bewusst, werden unsere Liebe und unser Respekt plötzlich ein natürlicher Bestandteil von uns selbst. Der ältere Bruder und die ältere Schwester, obwohl noch jung, gehören bereits zur Kategorie der Vorfahren. Wenn du ihm oder ihr also Respekt zollst, dann gilt dieser nicht nur ihm oder ihr, sondern all den Vorfahren, die zuvor da waren. Diese Tatsache macht es möglich, den Älteren mit Respekt zu begegnen, auch wenn sie eine Menge Unzulänglichkeiten aufweisen.

Sehe ich einen jungen Schüler, betrachte ich ihn ebenso respektvoll. Ich sehe nicht auf den jungen Schüler hinab. Ich kann in ihm oder ihr die Gegenwart all unserer Vorfahren sehen und so empfinde ich tiefen Respekt, ich vertraue ihm, ich vertraue ihr. Und ich kann sagen, dass ich mich vor ihm oder ihr mit wirklichem Respekt verneige, auch wenn sie oder er erst 14 oder 15 Jahre alt sind. Dieser Respekt gründet nicht auf dem Alter, sondern auf der Gegenwart aller Vorfahren mitsamt all ihren Einsichten und Erfahrungen in der Person vor uns. Das schenkt mir wirkliches Vertrauen. Deshalb verneige ich mich vor der älteren wie auch vor der jüngeren Generation mit dem gleichen Maß an Respekt und Dankbarkeit. Und deshalb leide ich auch nicht; die Kommunikation macht keine Mühe und fällt mir leicht.

Wir müssen den tiefsten Inhalt kennen und nicht einfach Formen imitieren. Die Form ist nicht ausreichend. Du berührst die Erde, du zollst jemandem Respekt. Respekt heißt, nochmals neu hinschauen. Wenn du es allein der Form wegen tust, hat das keinen großen Nutzen. Deshalb musst du wissen, weshalb du diese Handlungen vollbringst. Als junger Mönch mochte ich es nicht, wenn manche Menschen sich vor mir verneigten, denn ich dachte, dass meine Tugenden und meine Verdienste nicht ausreichten dafür, dass irgendjemand sich auf diese Weise vor mir verbeugte. Aber mittlerweile habe ich meine Einstellung geändert und bin der Meinung, dass wir einer Person erlauben sollten, drei tiefe Verbeugungen zu machen. Das ist Teil ihrer Übung. Es ist ihr Wunsch, den drei Juwelen Respekt zu zollen, und da ich Mönch bin, repräsentiere ich diese Juwelen. Man verneigt sich nicht vor meiner Person, vor meinem Selbst, sondern die Menschen verneigen sich vor den drei Juwelen. Darum sitze ich sehr aufrecht, übe bewusstes Atmen und halte mir vor Augen, dass die Menschen sich vor den drei Juwelen verbeugen und nicht vor mir, und so bleibe ich frei. Während der Zeit, in der sie die Erde drei Mal berühren, erlangen sie großen Frieden und große Verdienste und ich werde kein Opfer von Stolz und Arroganz, denn ich verstehe ihr Tun.

Jedes Mal, wenn ich einen Novizen zum Priester weihe und er seine Mönchsrobe zum ersten Mal trägt, sage ich zu ihm: «Wenn dir jemand Respekt entgegen bringt, sollst du nicht davonlaufen. Erinnere dich daran, dass du die drei Juwelen repräsentierst, du sollst sehr aufrecht sitzen und ein- und ausatmen und dadurch die Möglichkeit schaffen, dass den drei Juwelen Dankbarkeit erwiesen wird. Denke daran, dass die Menschen sich nicht vor deiner Person verneigen. Auch wenn es dir noch schwer fällt und du gelegentlich haderst, mach dir nichts draus. Nicht vor dir verneigen sie sich, sie verneigen sich vor den drei Juwelen, die du repräsentierst. Darum sitze sehr still, konzentriere dich auf deinen Atem und sei dir bewusst, dass alle Patriarchen hinter dir stehen ‒ vor ihnen verneigen sie sich, nicht vor dir. Solcher Art sind die Übungen, die ich anrege, und der Unterricht, den ich vermittle.

Betrete ich einen Raum und die Menschen stehen auf und verneigen sich auf diese bestimmte Weise, dann erkenne ich das als ihre Übung; das hat nichts mit mir zu tun. Und für mich heißt das, ich muss ruhig und mit ganzer Aufmerksamkeit bei meiner Übung bleiben und mich nicht beeindrucken lassen durch die Ehrungen, die mir entgegengebracht werden. Wir alle üben und ich werde keineswegs ein Opfer von Stolz und Überheblichkeit. Jedes Mal, wenn ich die Fünf Übungen der Aufmerksamkeit einem Publikum von siebenhundert, achthundert oder tausend Menschen vermittle, bin ich mir bewusst, dass sie die Lehre von Buddha und von den Patriarchen erhalten. So sitze ich dort und bin sehr frei. Die Ehrerbietungen der Leute haben keinerlei Einfluss auf mich: Das ist meine Übung. Und ich hoffe, dass meine großen Brüder und Schwestern, die dharmacaryas, ebenso üben werden wie ich, damit sie frei bleiben. Das Geschenk dabei ist Bescheidenheit, Gleichmut, Dankbarkeit.

Dankbarkeit zeigen

Buddha, mein Meister, ich gelobe, dass ich in all meine täglichen Handlungen Dankbarkeit einbringen werde. Zu meiner Übung gehört es, Sätze wie die folgenden auszusprechen:

«Wie tut es gut, deine Stimme zu hören!»

«Welch ein Glück habe ich, dass ich in deiner Gegenwart leben darf, mein Lehrer, dass ich mit dir gehen und die Stetigkeit deiner Praxis erfahren darf.»

«Wenn ich eine jüngere Schwester sehe wie dich, die intelligent, glücklich und fleißig ist, bin ich guter Dinge für die Zukunft des Buddhismus.»

«Weißt du, Mutter, wie viele Tugenden, Talente und Beispiele liebender Zuneigung du an mich weitergegeben hast?»

«Mein Kind, ich bin oft ungeschickt gewesen. Es gab Zeiten, in denen ich deine Probleme und dein Leid nicht verstanden habe, und ich habe Dinge gesagt und getan, die dich schmerzten. Das tut mir sehr leid und ich bitte dich, mir zu vergeben. Ich verspreche, dass ich künftig geschickter sein werde. Wenn du mich liebst, dann hilf mir, dieses Versprechen zu halten.»

«Ich schätze die Momente so sehr, in denen ich in deiner Nähe leben kann, mein Freund, Lehrer, Vater, Kind. Das Glück meint es gut mit mir an jedem Tag, dem mir die Freude zuteil wird, mit dir zusammen zu sein.»

Buddha, mein Meister, bitte gestatte mir, meine Dankbarkeit und meine Wertschätzung dir gegenüber auszudrücken. Gäbe es keinen Buddha, so gäbe es nicht das wundervolle Dharma, das Buddha weitergegeben hat, es gäbe nicht die Sangha, den Körper, der dieses wundervolle Dharma übt und erhält. Wie könnte ich also heute spirituelles Glück erfahren? Ohne Zweifel haben meine Vorfahren und ich in früheren Leben gute Samen gesät, sodass ich in diesem Leben dem Tathagata begegnen und die wundervollen Früchte der wahren Lehre Buddhas erfahren durfte. Buddhas Verständnis und Mitgefühl haben in mir so viele Sorgen, Ängste und Missverständnisse verstummen lassen. Selbst wenn ich hunderttausend Leben hätte, um meine Dankbarkeit für die Gnade dieses Verständnisses zu zeigen, es würde mir nicht gelingen, ihr gerecht zu werden.

Verehrter Buddha, ich berühre die Erde dreimal, als Ausdruck meiner tiefen Dankbarkeit dir gegenüber.

Ja, danke

Für die Meditation im Gehen möchte ich gerne einige Ratschläge speziell für Kinder geben. In Frankreich rate ich Kindern, während dem Meditieren im Gehen das Mantra JA, DANKE zu benutzen.

Während des Einatmens gehe zwei Schritte und sage dabei JA, JA. Während des Ausatmens gehe zwei Schritte und sage dabei DANKE, DANKE.

Kinder sollten vor allem lernen Ja zu sagen, sie sind manchmal zu sehr daran gewöhnt Nein zu sagen.

Lerne Ja zu sagen zum blauen Himmel, zum Licht der Sonne, zum schönen Planeten Erde, zu den Vögeln, zu den Bäumen. Es gibt viele wundervolle Dinge um uns, darunter auch unser Vater und unsere Mutter. Wir haben großes Glück, wenn wir einen blauen Himmel, saubere Luft, klares Wasser und unsere Eltern haben. Darum erkenne, wenn du Ja sagst, dass du glücklich bist ‒ dies kann dir bereits große Freude bringen.

Wenn du Danke sagst, bist du voller Dankbarkeit. Wenn ich ein Kind sehe, das während dem Gehen JA, DANKE übt, ist das sehr bewundernswert. Für Kinder ist es nicht notwendig, dass sie die Gehmeditation so lange üben, wie die Erwachsenen. Sie können an der Hand ihres Vaters, ihrer Mutter oder eines Onkels gehen und nur fünf Minuten lang JA, DANKE üben. Danach können sie, wenn sie wollen, losrennen und miteinander spielen. Ich bin mir sicher, dass wer in diesen fünf Minuten gut übt, eine Menge Frieden und Freude daraus ziehen wird.

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 146-151
© Thich Nhat Hanh (2006)

Thich Nhat Hanh, *11. Oktober 1926, †22. Januar 2022. Vietnamesischer buddhistischer Mönch, bedeutendster Vertreter eines «engagierten Buddhismus». Während des Vietnam-Krieges arbeitete er unablässig für die Versöhnung zwischen Nord- und Süd-Vietnam. Seine lebenslangen Bemühungen um Frieden veranlassten Martin Luther King Jr. dazu, ihn für den Friedens-Nobelpreis von 1967 vorzuschlagen. Er lebte lange in einer kleinen spirituellen Gemeinschaft in Plum Village, Südfrankreich, wo er lehrte, schrieb, im Garten arbeitete und sich weltweit für Flüchtlinge einsetzte. Er hat in Europa und Amerika viele Achtsamkeit-Seminare geleitet und half Kriegsveteranen, Kindern, Umweltschützern, Psychotherapeuten, Künstlern und Tausenden von Menschen auf der Suche nach Frieden in ihrem Herzen und in der Welt.

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