Von Thomas Matus OSB

Als ich Kindheitserinnerungen mit Bruder David austauschte, wurde mir bewusst, wie unterschiedlich unser jeweiliger Hintergrund war, und das Verwunderliche und Erfreuliche ist, wie viel wir jetzt gemeinsam haben. Ich bin dankbar, dass ich mit ihm einen Glauben teile, der über eine einzige Glaubensrichtung hinausgeht, ein Mönchtum, das uns mit spirituellen Personen vieler Glaubensrichtungen verbindet, und eine Sensibilität gegenüber der Erde, welche die wichtigste ethische Frage dieses Jahrhunderts aufwirft.

Bruder David ist geboren und aufgewachsen in Österreich, in einer katholischen Familie, die ihn, durch seine Mutter und die Großmutter mütterlicherseits, mit den USA verband und mit anderen Religionen, vor allem dem Judentum: Davids Großtante war ein Opfer des Holocaust in Auschwitz. Religiöse Praxis war ein natürlicher Teil seiner Erziehung, obwohl die Religion, die er kennen lernte, alles andere als beengt war.

Ich wurde in Los Angeles geboren. Mein Vater war Sohn polnischer Immigranten, nominell katholisch; meine Mutter die Tochter eines Priesters der South Baptist Convention. Beide hatten die jeweiligen elterlichen Glaubensrichtungen abgelehnt, und sie boten mir moralische und spirituelle Werte, die auf eine Form der Religion hinwiesen, die aus meinem eigenen Wachsen als Person kommen sollte und nicht von einer Kirchenkanzel. Ich habe keine Erinnerungen daran, je einen Gottesdienst mit meinen Eltern besucht zu haben. Jesus wurde gelegentlich erwähnt und vor dem Weihnachtsessen las meine Mutter gewöhnlich die Geburtsgeschichte nach Lukas vor.

Einige unserer Nachbarn waren jedoch Christen, insbesondere das britische Paar auf der anderen Seite des Broadlawn Drive in den Hollywood Hills. George O'Neill war ein irischer Anhänger der Anglikanischen Kirche aus Ulster und seine Frau Engländerin, ein früherer Schwimmchampion und die erste Frau, die durch den Ärmelkanal geschwommen war. Ihre Tochter Doreen war meine liebste Spielkameradin; sie war zwölf und ich vier. Mrs. O'Neill war an Krebs erkrankt und ich erinnere mich daran, wie ich sie das erste Mal traf: Doreen nahm mich mit in das Zimmer ihrer Mutter, diese saß im Bett. Ich stand zögernd in der Tür, und so sagte sie: «Hab keine Angst, mein Schatz, komm rein.» Mein Bild von ihr war das einer großen schlanken Frau mit kräftiger Stimme und einem freundlichen Lächeln.

Einige Monate später kam Doreen in unser Haus und fragte, ob sie in unserem Garten ein paar Rosen schneiden dürfe, um sie ihrer Mutter zu geben, die «von uns gehen würde». Wir machten einen Strauß und ich behielt eine Rose, um sie ihr zu geben. Mr. O'Neill hielt mit dem Auto vor unserem Haus; Doreen und ich gaben ihrer Mutter die Rosen.

Aus Neugierde fragte ich: «Wo gehen Sie hin?» Mrs. O'Neill antwortete: «Ich gehe ins Krankenhaus.» Aus einem seltsamen Impuls heraus sagte ich: «Und wo gehen Sie dann hin?» Sie antwortete: «Ich gehe in den Himmel, mein Schatz.» «Wo ist das?», fragte ich. Sie sagte: «Das ist dort, wo Jesus und die Engel sind.»

So hörte ich Worte über Jesus, die mit etwas zusammenhingen, das ich nicht verstehen konnte ‒ das Geheimnis des Todes ‒, aber die Frau, die sie sprach, vermittelte den Eindruck eines Wissens über ihn, das sie persönlich gesammelt haben musste. Meine vierjährigen Ohren waren perfekte Lügendetektoren. Ich konnte aus dem Klang der Stimme einer Person heraushören, ob die gesagten Worte mit dem übereinstimmten, was im Verstand und im Herzen dieser Person war. Die Stimme von Mrs. O'Neill klang vollkommen ehrlich und so schloss ich, dass sie Jesus irgendwie gekannt haben musste und froh war dorthin zu gehen, wo er war.

Kurz nachdem Doreens Mutter weggegangen war, stellten meine Eltern eine Köchin und Haushälterin ein, die bei uns wohnte. Sie hieß Marybelle und war Zeugin Jehovas. Sie war außerdem eine Pianistin und ich erinnere mich an das erste Stück klassischer Musik, das ich jemals gehört habe, als sie Liszts Liebestraum Nr. 3 auf unserem Schuman Baby Grand Piano spielte. Sie übersetzte den Titel für mich und sagte: «Auf Deutsch bedeutet es ‹Ein Traum von Liebe›.» Ich hörte mir das ganze Stück an und war sofort in der Lage, die einleitende Melodie zu summen. Ein andermal bat ich sie: «Marybelle, spiel ‹Leeberstrawm›», und sie tat es.

Nach einer Woche brachte sie von Zuhause eine Schallplatte mit der Oper Porgy and Bess von George Gershwin und legte sie auf unserer elektronischen Victrola auf, während sie das Wohnzimmer putzte. Ich hörte mir den ersten Akt mit «Summertime» an, dann folgte die Beerdigungsszene und der Chor sang: «Jesus geht über das Wasser ‒ steht auf und folgt ihm!» Marybelle hörte, wie ich gemeinsam mit dem Chor sang: «Jesus geht über das Wasser ...» Als sie kam, um die Schallplatte zu wechseln, setzte sie sich deshalb auf dem Diwan neben mich und erzählte mir, dass die Geschichte, auf die diese Zeilen sich bezogen, aus dem Evangelium des Heiligen Markus stammte und sich darin die Jünger draußen auf dem See Genezareth befinden, in Mitten eines Sturmes. Sie haben Angst, aber Jesus kommt auf sie zu, steigt in das Boot und beruhigt die See. Dann sagt er: «Fürchtet euch nicht, Kleingläubige.»

Marybelle erklärte mir, dass, wenn wir uns fürchten oder in Gefahr sind, wir nur glauben müssen und er kommt zu uns, um uns zu retten. Ihre Stimme bestand ebenfalls meinen Lügendetektortest. Nun hatte ich drei Bilder von Jesus: Er war ein Säugling in Bethlehem, er wuchs heran, um der Mann zu sein, der auf dem Wasser gehen konnte, und nun lebte er im Himmel bei den Engeln. Man könnte dies eine sehr einfache «Christologie von unten» nennen, wie Theologen heute sagen würden.

Später hörte ich durch meinen Vater einen weiteren musikalischen Kommentar zum Markusevangelium, der auf indirektem Wege mit dem Disney-Film Pinocchio zu tun hatte. Papa bemühte sich sehr, nicht mit polnischem Akzent zu sprechen, aber einige wenige englische Wörter fielen etwas seltsam aus: «bolt» [zu Deutsch: Blitz] klang wie «boat» [Boot], «fate» [Schicksal] hörte sich an wie «faith» [Glaube], während «three» [drei] so etwas war wie das polnische trzy. Dies wurde wichtig für das Lied, das ich hören sollte.

Eines Abends lud Wenda Brainard meine Eltern zum Abendessen zu sich nach Hause ein, wo sie oft Schauspieler wie Bud Abbott und Donald O'Connor bewirtete. Wenda war ein ehemaliger Stummfilmstar, der, nachdem der Tonfilm eingeführt worden war, in die Kostümabteilung der Universal Studios wechselte, nur einige Blöcke von unserem Haus entfernt. Ihr Sohn Max war schon als Jugendlicher ein Erfinder, der, bevor er zwanzig wurde, schon mehrere Patente angemeldet hatte und dem ein Vollstipendium für das Studium an der CalTech angeboten wurde, das er ablehnte. Ihr Haus war voll von den neuesten elektrischen Geräten, einschließlich eines Plattenspielers. An diesem Abend machte Max eine Aufnahme von meinem Vater, wie er das Lied von Jimminy Cricket aus Pinocchio «Wenn du dir etwas von einem Stern wünschst …» sang, dessen zweite Zeile lautet: «Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, tritt das Schicksal ein und begleitet dich ...» Am nächsten Tag hörte ich mir die Aufnahme an und was ich Papa singen hörte, war: «Wie ein Schiff draußen auf der blauen See, tritt der Glaube ein und begleitet dich.» Und ich dachte: «Papa singt auch über Jesus und das bedeutet Jesus‘ anderer Name ist ‹Glauben›!» Ein weiteres Mosaiksteinchen wurde meiner kindlichen Christologie beigefügt.

Diese nur halb verstandenen und missverstandenen Worte über Jesus vermittelten mir ein vollkommen klares Bild des Mannes. Ich wusste, er war jemand, den Leute wie Mrs. O'Neill und Marybelle kennen lernen konnten, ohne ihn jemals zu treffen, jemand, an den auch ich ohne eine Spur von Angst denken konnte. Zwei Frauen, deren Stimmen nicht den leisesten Hinweis auf Unehrlichkeit erkennen ließen, lehrten mich, was ich damals über ihn wissen musste. Ich bin dankbar für das Priestertum dieser beiden unfehlbaren Frauen. Das Priestertum von Elizabeth Rast und ihrer Mutter, Davids Großmutter, muss genauso gewesen sein. Das ist der Jesus, auf den David und ich unseren Glauben bauen können.

Nun muss Glauben, der aus dem Innern eines Menschen kommt, mit diesem Menschen wachsen können, und ich bin dankbar, dass meiner dies tat, erneut dank der schönen Tenorstimme meines Vaters. Mein glücklichstes Weihnachtsfest aller Zeiten, im Jahr 1947 (kurz vor meinem achten Geburtstag), gab mir einen Hinweis auf eine Christologie von oben, die Jesus als eine göttliche Person ansieht, die in einen Stall in Bethlehem hinabgestiegen ist, während sie für immer der König der Engel blieb.

Vor dem Essen mag meine Mama vorgeschlagen haben, dass wir ein Weihnachtslied singen. Papa sagte: «Ich bringe dir ein Weihnachtslied auf Latein bei!», und er begann Adeste, fideles zu singen. Stück für Stück brachte er es mir bei. Meine Brust weitete sich durch die tiefen Atemzüge und durch meinen Stolz auf meinen Papa, der auf Latein singen konnte, wovon ich vage wusste, dass das eine Sprache war, die zur Zeit Jesu gesprochen wurde, vor Tausenden von Jahren.

Der Katholizismus meines Vaters war von tiefen und dunklen Ängsten überschattet, die durch den Moralismus jansenistischer Priester auf seine Psyche gelegt wurden. Trotz seiner natürlichen Intelligenz war er nicht in der Lage, durch die schreckliche Dunkelheit hindurch zu sehen, und die göttliche Liebe, wie sie in der katholischen Vision der göttlichen Inkarnation zum Ausdruck kommt, wahrzunehmen, eine Vision, die im 15. Jahrhundert in einem Hochrelief von Andrea della Robbia ihren Höhepunkt fand, welches sich heute in der Heiligen Einsiedelei von Camaldoli befindet. Maria hält den nackten Säugling an den Hüften, während er auf ihrem Schoß steht, die Hand zum Segen erhoben. Auf der anderen Seite der Madonna stehen vier heilige Eremiten: Johannes der Täufer, unbekleidet bis auf ein Lendentuch, zeigt ein sowohl klassisches als auch christliches Ideal männlicher Schönheit; Maria Magdalena, die auf Grund künstlerischer Konventionen nicht unbekleidet porträtiert werden durfte, hält in ihren Händen eine Vase aus Alabaster, die an die Form ihrer Weiblichkeit erinnert; der heilige Antonius von Ägypten und der heilige Romuald aus Ravenna vervollständigen die Szene. Die Hände aller vier Heiligen zeigen auf die Seite des fleischgewordenen Wortes. Jahre nachdem ich selbst Katholik geworden war und della Robbias Meisterwerk entdeckt hatte, verstand ich die Botschaft und war frei von den Ängsten, die vom Unterbewusstsein meines Vaters auf mein eigenes übergegangen waren.

Meine eigene Annahme des Katholizismus, in seiner benediktinischen und kontemplativen Version, kam später. Es ist die letzte Geschichte, die ich erzählen möchte und die von einer weiteren Vermittlung geheiligter Tradition durch eine Frau handelt. Meine Mutter Boots ‒ ich nenne sie bei ihrem Kosenamen, wie mein Vater Tony es getan hat ‒ hatte einen scharfen Verstand. Ohne gegen den Puritanismus zu polemisieren, aus dem sie herausgewachsen war, vermittelte sie mir diskret die Vorstellung einer universellen Weisheit, deren Stimme in der Lehre Jesu widerhallte. Andere Religionen bezogen ihre Lehren aus derselben Quelle.

Eines Tages gab mir Boots ein Buch ‒ das war 1954 und das Buch war die Autobiographie eines Yogi von Paramahansa Yogananda, eines bengalischen Meisters, der, bis zu seinem Tod 1952, 30 Jahre lang in Kalifornien gelebt hatte. Boots zeigte mir eine Seite, auf der die spirituellen Effekte der hindustanischen Musik erklärt wurden, die in Indien als eine Art Yoga erlernt und praktiziert wird. Natürlich wollte sie, dass ich das ganze Buch las, was ich auch sofort tat. Es hat mich tief ergriffen, angefangen mit dem ersten einleitenden Satz: «Die charakteristischen Merkmale der indischen Kultur sind die Suche nach ultimativen Wahrheiten und der gleichzeitigen Schüler-Guru-Beziehung. Mein eigener Weg führte mich zu einem christusähnlichen Weisen, dessen schönes Leben für die Ewigkeit geschaffen war. Er war einer der großen Meister, die Indiens einzig verbliebener Reichtum sind. Es gibt sie in jeder Generation und sie bilden ein Bollwerk, das ihr Land vor einem Schicksal wie dem Babylons oder Ägyptens schützt.»

Yogananda nannte seinen Guru «christusähnlich», aber er verstand Christus selbst als einen himmlischen Meister, mit dem der Guru seines Gurus, der legendäre Babaji, in «ewiger Kommunion» stand. Es gab eine andere Christologie in der Autobiographie eines Yogi, eine «Christologie aus dem Innern», die letztlich das Kriterium wahren Glaubens für mich wurde. Ohne diesen direkten und inneren Zugang zur res, der Realität, an die ich glaube, verschwindet mein Glaubensakt im trockenen Sand der Worte und Konzepte. Was ich in Meister Yogananda entdeckt zu haben schien, war in Wirklichkeit eine Bestätigung der Summa des heiligen Thomas von Aquin: «Der Akt des Glaubenden endet nicht in dem, was gesagt wird, sondern in der göttlichen Realität.»

Dieses Buch, das mir Boots gab, war zwei Jahre später für mich da, um von mir gelesen zu werden, als sie und Tony sich trennten und ich mit dem Dilemma meiner eigenen Identität konfrontiert wurde: Sollte ich einen Partner haben? Und von welchem Geschlecht? Die Antwort, die mir das Buch ‒ und mein Herz ‒ gab, war: Sei ein Yogi, sei ein Mönch.

Bruder David erzählte mir einst, dass er sich, kurz nachdem er in die USA gekommen war und an seiner Habilitation arbeitete, dieselbe Frage gestellt hatte und er sich entschied, dass, was immer er zuerst finden sollte ‒ das richtige Mädchen oder das richtige Kloster ‒, seine Entscheidung bestimmen sollte. Er fand Mount Saviour in Upstate New York. Etwa zur selben Zeit fand ich während meines letzten Jahres an der High School das perfekte Mädchen für mich. Maryann Kahl war eine streng gläubige Lutheranerin, aber sie sprach nie mit mir über Religion. Ich erinnere mich an ihre Augen, sie verrieten Liebe mir gegenüber, aber zu dieser Zeit suchte ich nach dem richtigen Kloster und wollte nicht zu lange in diese Liebe blicken. Ich danke Maryann auch, weil Christus in ihr mich ansah, und ich habe seinen Blick später in vielen anderen Augen wahrgenommen.

Auch in den Augen von Bruder David. Wir trafen uns einige Jahre später, nachdem ein gemeinsamer Freund mir von ihm erzählt hatte. Ich war in Honolulu zu Besuch bei meiner Mutter und er hielt eine Vorlesung an der Universität von Hawaii. Wir versammelten uns danach mit einigen Freuden zu einer einfachen Eucharistie zu Hause. Ich will mit diesem Wort Eucharistie enden, das man mit Danksagen oder einfach mit Dankbarkeit übersetzen kann. Es ist das Sakrament unseres Dankes für die Lehren, die wir gelernt, meditiert und erfahren haben, und für Meister, männliche wie weibliche, die uns mit ihren Worten und mit ihren Augen unterrichtet haben.

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 49-61
© Thomas Matus OSB (2006)

Thomas Matus OSB, Dr. phil., Kamaldoleser Mönch *1940 in Hollywood, Kalifornien. Er studierte in Los Angeles, Rom und New York. 1977 wurde er mit der Arbeit «The Christian Use of Yoga: A Theoretical Study Based on a Comparison of the Experience of Symeon the New Theologian With Some Tantric Sources» promoviert. Eingeweiht in den Krishna Yoga wurde er von Paramahansa Yogananda Nachfolgern. Konversion zum Katholizismus 1961. Eintritt ins Kloster New Camaldoli, Big Sur 1962. Seit 1967 lebte er mit Unterbrechungen im Kloster von Camaldoli in Italien, zwischen 1989 bis 2005 besuchte er mindestens einmal jährlich Indien und lebte im Saccidananda Ashram, Shantivanam. Auch verbrachte er einige Zeit im Kamaldoleser Kloster in San Paolo, Brasilien; danach ist er nach Berkeley, CA, zurückgekehr. Unter seinen Publikationen u. a. «Belonging to the Universe» mit Fritjof Capra und Bruder David Steindl-Rast.

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