Von Odilo Lechner OSB

Dankbarkeit, darauf hat uns unser benediktinischer Mitbruder David Steindl-Rast immer wieder aufmerksam gemacht, erwächst aus der «Achtsamkeit des Herzens». Wir sind so wenig dankbar, weil wir so wenig achten auf das, was um uns und in uns ist.

Dank für Neuentdeckungen des Lebens

Wir werden der Kostbarkeit vieler Dinge erst inne, wenn sie bedroht oder uns genommen sind. Deutlich wurde mir dies bei einem Krankenhausaufenthalt vor drei Jahren anlässlich einer Hüftoperation. Ich erlebte neu, was es bedeutet, sich aufrichten, wieder die ersten Schritte tun oder gar ins Freie gehen zu können. Damals las ich die Erzählung «Leibhaftig» der ostdeutschen Schriftstellerin Christa Wolf. Da wird ein Krankenhausaufenthalt geschildert, der an die Grenze zwischen Leben und Tod führt. Als die Patientin sich wieder aufrichten kann und nach verregneten Wochen einen Sonnenuntergang sieht, kann ihr farbentwöhntes Auge das Schauspiel kaum fassen: «Und das alles soll die reine Verschwendung sein, niemandem gezielt zugedacht, von niemandem für niemand inszeniert?» Thea, die beste von allen Krankenschwestern glaubt das nie und nimmer: «Sie jedenfalls ist froh, dass sie weiß, wem sie danken kann für einen Sonnenuntergang und für so vieles andere mehr.» Ja, das zeichnet den Glaubenden aus: wissen, wem man danken kann, und dadurch das Lobwürdige entdecken und zu Wort bringen.

Dank für die Sprache

Wir können danken, weil wir die Sprache haben. Als Bub war mir, von allen natürlich nicht besonders beliebten Proben, der Schulaufsatz die Liebste. Ich fand es reizvoll, zu einem uns gestellten Thema mir etwas einfallen und solch einen Stoff zu einer eigenen Gestalt werden zu lassen. In meiner Studienzeit durfte ich der Philosofie des Personalismus des 20. Jahrhunderts in den Schriften etwa von Martin Buber und Ferdinand Ebner begegnen: Der Mensch ist Mensch, weil er angesprochen, angerufen wird und antworten kann, weil er im Letzten vom schöpferischen Urwort, vom Anruf Gottes lebt und sich verwirklicht, indem er antwortet.

Dank für Augustinus

Besonders geprägt hat mich, dass ich eine Dissertation über Augustinus schreiben durfte und mich dabei auch näher mit seinen «Bekenntnissen» befasste. Sind sie eine Lebensbeschreibung, eine Lebensbeichte, ein Bekenntnis des Glaubens? Sind sie Lobpreisungen und hymnische Gebete? Mir ging auf: Confessio versteht Augustinus als Selbstaussage des Menschen, ja des Seins. Der Mensch kann sich ausdrücken, sein Leben ins Wort bringen, anderen berichten ‒ den ihm Nahestehenden, in ihnen aber dem ganzen menschlichen Geschlecht (narro haec generi meo, generi humano ... Conf. II 3,5). Er kann sein Elend bekennen und die barmherzige Führung Gottes. Er sagt sich aus auf seinen Ursprung hin und auf sein Ziel: quia fecisti nos ad te (Conf. I 1,1). Die Selbstaussage des Menschen wird Ruf zu Gott, wird Lobpreisung Gottes. Die Sprache des Menschen aber wird Stimme alles Seienden: clamant, quod facta sint ‒ Himmel und Erde rufen, dass sie erschaffen sind (Conf. XI 4,6).

Dank für die Schöpfung

Natürlich kamen mir auch immer wieder Zweifel, ob wir als aufgeklärte Menschen noch so unbefangen wie die früheren Gott für die Wunder seiner Schöpfung danken können. Manchmal drängte es mich, etwa beim Anblick einer weiten Berglandschaft in der Abendsonne, Gott für das wunderbare Geschenk dieses Abends zu danken. Aber wusste ich nicht um die vielfältigen Kausalitäten der Erdentwicklung, die zu dem Zustand dieses Gebirgsmassivs geführt hatten, um all die Gesetzmäßigkeiten von Licht und Bewölkung, von der Organisation meiner Sinnesorgane, die mir diesen Eindruck vorstellten? Aber gerade die Vielfalt einer Entwicklung durch die Jahrmillionen ließ mich an Augustins Reflexionen des Ursprungs, des einen Wortes denken, in dem alles vorentworfen und geschaffen ist. In ihm bin ja auch ich in diesem Augenblick meines Sehens und Erlebens mitgemeint, seit Ewigkeit zur Antwort der Lobpreisung gerufen. Gott hat uns auf ihn hin geschaffen, er erweckt uns dazu, dass es uns erfreut, ihn zu loben: Tu excitas, ut laudare te delectet (Conf. I 1).

Dank für den benediktinischen Lebensrhythmus

Unvergessen ist mir der Ausruf eines Professors, als ich ihm sagte, dass ich Benediktiner geworden sei: «Oh, das ist jubilatio.» Das machte mir bewusst, wie dankbar ich dafür sein muss, dass ich im klösterlichen Rhythmus leben darf und immer wieder zum Lob Gottes gerufen werde. Natürlich ist das Leben eines Benediktiners nicht permanenter Jubel. Die Confessio Augustins, die Confessio der Psalmen des Stundengebets sind ja auch immer Bekenntnis von Elend und Versagen. Und die Selbstaussage des Menschen bleibt immer ungenügend, weil der Mensch so vieles nicht weiß, nicht einmal von sich selber. Aber gerade darum ist die Confessio als Bekenntnis des Nichtwissens ein Schritt hin zu dem, der alles weiß. Darum brennt Augustin darauf, Gott sein Wissen und sein Unwissen zu bekennen, die Anfänge der Erleuchtung durch ihn und den Rest der eigenen Finsternis (confiteri scientiam et imperitiam meam, primordia inluminationis tuae et reliquias tenebrarum mearum, Conf. XI 2,2). In den Psalmen des Stundengebets kann ich immer wieder mein Leben zusammenfassen, die verschiedenen Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg, die verschiedenen Stimmungen von Freude und Trauer, von Empörung und Befriedung. Der Rhythmus von Gebet und Arbeit stellt die vielen Abschnitte des Tages und Lebens in einen großen Zusammenhang, in das Ganze eines Weges zu Gott.

Dank für den Sinn der Geschichte

Schwer wird freilich das Danken angesichts des Bösen in der Welt, der vielen dunklen Seiten der Geschichte. Da erinnere ich mich dankbar an ein Kindheitserlebnis vom September 1943, also mitten in Kriegs- und Nazizeit. Wir 12- bis 13-jährigen erwarteten mit Spannung den neuen Klassenlehrer in der politisch angespannten Situation unseres Münchner Gymnasiums. Er begann seinen Geschichtsunterricht mit der Frage: «Was, Buben, glaubt ihr, ist das wichtigste Ereignis der Weltgeschichte?» Wir tippten auf den Anfang des Mittelalters, des Jahresstoffs, und meinten: die Völkerwanderung. Er lächelte und meinte, die sei nicht so wichtig. Wir gaben noch viele Antworten, auch so zeitgemäße wie: der damals tobende Zweite Weltkrieg oder die nationalsozialistische Machtergreifung. Immer wieder erfuhren wir: Nicht so wichtig. Schließlich sagte der Professor: «Das wichtigste Ereignis ist selbstverständlich das, nach dem wir unsere Jahre zählen.» Das war ein Erkennungszeichen, das uns Christen in der Klasse freute, zugleich auch etwas beschämte, weil keiner von uns daran gedacht, geschweige denn es zu sagen gewagt hatte.

Mir ging freilich damals anfanghaft auf, was den Christen im Wirrwarr der Geschichte und der Bewertungen von Geschichte auszeichnet. Er weiß um Ursprung und Ziel der Geschichte und um ihre Mitte, in der dieser Ursprung und dieses Ziel in sie eingetreten sind und sie durchwirken. So werden in der Erinnerung gerade auch Zeiten der Bedrängnis wichtig, weil in ihnen der Gang der Geschichte spürbar wurde, aber auch die Herausforderung, ihn zu deuten und in freier Entscheidung mitzugestalten. Später begegnete ich den Zeugnissen von Menschen, die, wie die Studenten der Weißen Rose, damals lebten und sich mutig einer solchen geschichtlichen Herausforderung stellten. Ich erfuhr, dass Hans Scholl und Alexander Schmorell 1942 in unserer Klosterbibliothek Orientierung und Besinnung gesucht hatten. Ich hörte 1993 Joseph Rovan, den großen Mann der französischen Résistance und zugleich der deutsch-französischen Versöhnung, in einer Gedenkrede auf ihren Mitstreiter Christoph Probst sagen: «Wir wissen nicht, wozu wirklich die Tat helfen kann, die wir eines Tages aus dem Befehl des Gewissens her unternehmen.» Im Sinne von Kant meinte er, es kämen immer wieder Momente, «in denen jeder von uns aufgerufen ist, so zu handeln, als würde das Schicksal der gesamten Menschheit von ihm abhängen».

So ist mir früh bewusst geworden, was vor einiger Zeit Umberto Eco, der große Mediävist und Schriftsteller trotz seiner erkenntnistheoretischen Skepsis sagte: «Nur wenn man einen Sinn für die Richtung der Geschichte hat ... kann man die irdische Wirklichkeit lieben und glauben, dass noch Platz für die Hoffnung ist. Wenn es diese Hoffnung nicht gibt, wäre es gerechtfertigt, ... uns vor die Mattscheibe zu setzen und zu warten, dass uns jemand unterhält, während die Dinge laufen, wie sie sind.» Ich bin dankbar dafür, dass ich immer wieder Menschen begegnete, die auch in Bedrängnis und im Scheitern den Sinn der Geschichte bezeugten.

Dank für das innere Wort

Gerade weil ich im 20. Jahrhundert den Abbruch vieler äußerer Traditionen und Strukturen erlebte, wurde mir noch einmal Augustinus bedeutsam, seine Mahnung: redi in te ipsum, die Verankerung der Wahrheitserkenntnis im homo interior. Im Inneren leuchtet Wahrheit auf, die Welt der Ideen, nach der wir äußere Dinge beurteilen; weil dieses Aufleuchten für Augustinus durch die Einstrahlung, die Illumination der ewigen Wahrheit ermöglicht wird, ist Intuition immer schon in den Weg eingefaltet, der zum Berühren der ewigen Wahrheit selber führt (vgl. Enarratio in Ps 41,10: acie mentis aliquid incommutabile, etsi perstrictim et raptim, perspicere potuimus). So dürfen wir im Erkennen des Menschen, in Dichtung und Musik durchaus eine oft nicht bewusste Mystik des Alltags entdecken. Solches blitzhafte Aufleuchten ewiger Wahrheit lässt sich nicht festhalten, geschweige denn im äußeren Wort fassen. Dem äußeren, lauthaft gesprochenen Wort und dem in der Seele vorgestellten liegt das verbum internum zu Grunde, das Wort des Herzens, erhaben über die Verschiedenheiten der Sprachen, das Wort im eigentlichen und höchsten Sinn (cui magis verbi competit nomen, De Trin. XI 11,20).). Das äußere Wort ist sicher als anregender Anstoß notwendig, aber es ist der innere Lehrer, die Wahrheit selbst, die zur Einsicht führt, innere Zustimmung und Überzeugung schenkt. Niemand, schreibt Augustin, sieht im Buch selbst, dass es wahr ist, oder in dem, der es geschrieben hat, sondern vielmehr in sich (in se potius), sofern seinem Geist ein ganz und gar nicht gewöhnlicher Glanz eingeprägt ist (non vulgariter candidum), das Licht der Wahrheit (lumen veritatis, Ep. 19).

Dank für ein Beispiel

In einer Zeit, in der in Gesellschaft und Kirche äußere Strukturen und Aktivitäten im Vordergrund standen und in der viele Menschen innere Erfüllung abseits unserer westlichen Traditionen in der Esoterik suchten, durfte ich David Steindl-Rast begegnen und erfahren, wie sehr ein kirchenfernes Publikum mit spürbarer Aufmerksamkeit der Sehnsucht seine geistliche Botschaft aufnahm, die sich an das Innere des Herzens wandte. Ich bin ihm von Herzen dankbar für das Beispiel eines Benediktiners, der aus der Kraft des lnneren die Menschen unserer Zeit, Menschen ganz verschiedener religiöser und geistiger Herkunft anzusprechen und zur geheimen Mitte unseres Menschseins zu führen vermag. Wir alle dürfen dankbar sein für diese Gewissheit, dass Gott den Menschen nie allein lässt und seine Wahrheit ihm immer wieder neu aufleuchtet.

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 43-48
© Odilo Lechner OSB (2006)

Odilo Lechner OSB, Dr. theol., *25. Januar 1931, †3. November 2017 wirkte fast vier Jahrzehnte lang als Abt von Kloster Andechs und St. Bonifaz in München. Die Frage nach einem gelingenden Leben thematisierte der Altabt bereits in vielen Büchern und Vorträgen.

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