Von Willigis Jäger OSB

Vieles verbindet uns beide, Bruder David und mich, obwohl unser Leben seinen Lauf in zwei verschiedenen Kontinenten nahm. Beide haben wir noch den letzten Weltkrieg miterlebt, was unser Leben geprägt hat. Beeinflusst von einer notgedrungen irritierenden Jugendzeit fanden wir den Weg in ein Benediktinerkloster, Bruder David in den USA, ich in Deutschland. Für beide spielte die Mystik im Leben eine wichtige Rolle. Obwohl Mystik eigentlich in die Stille führt, hat sie uns, ob wir wollten oder nicht, an die Öffentlichkeit gespült. Der Hunger nach religiöser Erfahrung, der nicht zuletzt durch die New-Age-Bewegung zutage trat, führte uns suchende Menschen zu, denen wir uns nicht verweigern konnten. Und so führten wir beide, jeder auf seine Weise, die Menschen in die christliche Mystik ein.

Innere Landschaft

Im Laufe unseres Lebens bildet sich bei vielen Menschen eine innere Landschaft aus, in der die schmerzlichen Erfahrungen die Oberhand gewinnen. Sie bestimmen das Leben der Menschen übermächtig und lassen das Gute, das ihnen widerfahren ist, leicht in Vergessenheit geraten. «Meine Mutter hat mich nicht genug geliebt, mein Vater hat mich geschlagen, in der Schule wurde ich benachteiligt.» Solche Erlebnisse prägen unser Leben und können bis zum Selbsthass und zum Hass gegen andere führen. Wer das Gute vergisst, das ihm widerfahren ist, wird leicht böse. Wir sehen zu schnell den Splitter im Auge des anderen und übersehen den Balken im eigenen Auge. Wir deuten auf den blinden Fleck bei unseren Mitmenschen und sind unfähig, die eigenen blinden Flecken wahrzunehmen.
Was Bruder David mit seiner Aktion «Gratefulness» zurzeit bewirkt, ist genau das, was unserer Spezies fehlt. Dankbarkeit, wie er sie zu einem Lebensweg und zu seiner pastoralen Arbeit gemacht hat, verändert in uns solche Prägungen aus der Vergangenheit und verändert damit unsere Grundeinstellung zu den Menschen, zu unserem Beruf und zu unserer Umwelt. Dankbarkeit hebt Schätze ans Licht, die nicht nur unsere Biografie, sondern auch unsere Mitmenschen in einem neuen Licht erscheinen lassen.
Und noch etwas wird uns dadurch geschenkt: der Wunsch, anderen Menschen in Dankbarkeit zurückzuerstatten, was uns gegeben wurde. Bruder David hat mit seiner Website «Gratefulness» Tausende von Menschen in eine neue Lebensfreude und Lebensbejahung geführt. Die Aktion «Gratefulness» scheint mir ein wichtiger Baustein für die Zukunft unserer Gesellschaft zu sein. Ich möchte das im Folgenden begründen.

Gestaltwerdung

Unsere prähominiden Vorfahren waren symbiotisch eingebunden in die Natur. Langsam löste sich der Mensch aus dieser paradiesischen Einbindung und entwickelte ein personales Bewusstsein. Was wir Ursünde nennen, hat mit Sünde nichts zu tun. Es ist das Erwachen des personalen Bewusstseins aus einem paradiesischen Eingebundensein und ein bedeutsamer Schritt in der Evolution unserer Spezies. Doch kaum hatten wir diese Entwicklungsstufe erreicht, begann der Mensch sich abzugrenzen und andere auszugrenzen. Kain fühlte sich benachteiligt. Er erschlug daher seinen Bruder Abel. Dieser Egozentrismus belastet heute noch unsere Spezies. Die ganze Menschheitsgeschichte ist überschattet von Gewalt, Mord und Krieg.
Warum haben wir uns so entwickelt? Als der Mensch Geist erreicht hatte, fragte er nach dem Sinn seines Lebens. Es ist die Urfrage des Menschen. Im Gilgamesch-Epos, das um das Jahr 2700 vor Christi Geburt geschrieben wurde, zieht sich als roter Faden die Frage hindurch, ob ein Mensch dem Tod entrinnen könne, was von ihm nach dem Tod bleibe und was ihm angesichts eines Seins zum Tode noch an Lebenssinn übrig bleibe. Gilgamesch erkannte bereits: «Je mehr der Glanz der Dinge blendet, desto blinder wird das innere Auge des Menschen.» Das Ich ist vom «Glanz der Dinge» geblendet. Die «Ichheit» und «Meinheit» dominiert (Meister Eckhart).

Wer sind wir?

Die Menschheit muss sich aus der Ich-Zentrierung befreien. Wirklichkeit ist nicht das, was unser Ich uns ständig vorgaukelt. In unserer Gestaltwerdung haben wir fünf Sinne und Verstand entwickelt. Damit versuchen wir, die Wirklichkeit zu begreifen. Doch das gleicht einer farbigen Brille, die uns nur ganz bestimmte Dinge erkennen lässt und vieles andere ausgrenzt. Das Ich scheint zur Selbstbefreiung unfähig zu sein. Der Weg führt über das Lassen. Nur wenn es gelingt, eine neue transpersonale Bewusstseinsebene zu erreichen, haben wir meines Erachtens Überlebenschancen.
Die Frage ist: Wer sind wir? Wir haben zu erkennen, dass wir etwas anderes sind, als unser Ich uns ständig vorspricht. Die transpersonale Psychologie teilt die Entwicklungsstufen des Bewusstseins in personale, feinstoffliche, kausale und kosmische Stufen ein. Grave und Beck, zwei amerikanische Wissenschaftler, sprechen von einem Primärbewusstsein und einem Sekundärbewusstsein. Das Sekundärbewusstsein erreicht der Mensch, wenn er sein personales Bewusstsein öffnen kann, um die Einheit mit allem Leben zu erfahren. Wie gelangen wir auf diese nächste Bewusstseinsstufe, die offensichtlich die nächste Stufe in der Menschheitsentwicklung ist?
Als erstes haben wir zu erkennen, dass wir etwas anderes sind, als wir meinen zu sein. Unser wahres Wesen liegt hinter dem Schleier des Ich. Die Geschichte des Jüngers der Göttin, der ihr Antlitz sehen wollte, erläutert uns das. Er war geplagt von der Sehnsucht, das Antlitz der Göttin zu sehen. Doch das Antlitz der Göttin im Tempel war mit einem Schleier verhüllt, und es ging die Rede, wer den Schleier lüfte und das Antlitz der Göttin sehe, der müsse sterben. Der Jünger sagte sich: Lieber sterben, als ewig von dieser Sehnsucht geplagt zu sein! Er ging in den Tempel und lüftete den Schleier. Und was sah er? Er sah sein eigenes göttliches Wesen.
Der persische Mystiker Rumi drückte dies wunderbar aus: «Bevor es Garten, Weinstock oder Traube gab in dieser Welt, war unsere Seele bereits trunken vom Wein der Unsterblichkeit.» Und Rose Ausländer sagt es auf ihre poetische Weise: «Vor seiner Geburt war Jesus auferstanden. Sterben gilt nicht für Gott und seine Kinder. Wir Auferstandenen vor unserer Geburt.»
Die Rettung unserer Spezies liegt auf der nächsten Bewusstseinsebene, die offensichtlich von der Evolution für uns bereitgehalten wird. Voraussetzung dafür ist die Erkenntnis, dass in uns weit umfassendere Erfahrungsebenen angelegt sind, als unsere Ratio sie uns lehrt. Wir nennen sie die transpersonalen Stufen. Das setzt die Akzeptanz der Mystik als entscheidende Erkenntnisstufe voraus. Es ist die Erfahrungsebene, wie sie uns die spirituellen Wege des Ostens und Westens beschreiben und lehren. Sie sind der Weg heraus aus der Enge der Egostruktur. «Je tiefer meine Erfahrung, um so größer mein Mitgefühl», sagt ein Wort der östlichen Schulen. Eine mystische Erfahrung ist eine Erfahrung der Non-Dualität. Das Ich tritt zurück und die Einheit im alles verbindenden Leben tritt hervor. Ich möchte das an einem Beispiel klar machen.

Die Erde ist ein Feuerball

Um diesen Feuerball legt sich eine Kruste von 5 bis 30 Kilometern Dicke. Nur weil diese Kruste da ist, können wir auf dem Feuerball leben. Die Kruste war einmal Feuer. Sie ist zu Stein gewordenes Feuer. Das Göttliche ist der Feuerball. Der Mensch und die ganze Schöpfung sind die Kruste. Was wir Schöpfung nennen, ist also gleichsam die Kruste Gottes. Gott und Mensch, Gott und Schöpfung kann man nicht auseinander nehmen. Die Schöpfung ist «formgewordener Gott». Gott und die Schöpfung sind Nicht-Zwei. Auf den Menschen bezogen heißt das, dass der Mensch in seinem tiefsten Wesen ein Feuerball ist, göttliches Leben ist. Um dieses Feuer legt sich eine Kruste, die wir Ich nennen. Die Kruste gibt uns eine menschliche Identität. In Wirklichkeit sind wir göttliches Leben. Wir lassen uns vom Ich täuschen, wie wir uns von der Erdkruste täuschen lassen, die uns eine gewisse Festigkeit vorspiegelt.
Unser Ich ist wesentlich nichts anderes als geronnener Geist. Im Zen sagen wir daher: «Leerheit ist Form und Form ist Leerheit.» Jesus sagte: «Ich und der Vater sind eins.» Jeder von uns kann sagen: «Ich und der Vater sind eins.» Die Erdkruste ist abgekühltes Feuer. Unser wahres Wesen ist «göttliches Feuer». Unser Ich ist nur die Lava, festgewordenes Feuer. Recht verstanden, dürfen wir sagen: «Ich bin Gott und Gott ist ich.» Beide lassen sich nicht trennen. Aber nicht unser Ich spricht so, sondern unser göttliches Wesen spricht so aus uns.
Meister Eckhart drückte dies folgendermaßen aus: «Es ist uns zu verstehen gegeben, dass wir ein einiger Sohn sind, den der Vater ewiglich geboren hat aus dem verborgenen Dunkel ewiger Verborgenheit (und doch) innebleibend. … Hier habe ich ewiglich geruht und geschlafen in der verborgenen Erkenntnis des ewigen Vaters, innebleibend unausgesprochen. Aus dieser Lauterkeit hat er mich ewiglich geboren als seinen eingeborenen Sohn in das Ebenbild seiner ewigen Vaterschaft, auf dass ich Vater sei und den gebäre, von dem ich geboren bin.» (Predigt 23)

Woher komme ich? Wer bin ich?
Warum bin ich da? Wohin gehe ich?

Zurück zu den Fragen des Gilgamesch. Religionen versuchen diese elementaren Fragen zu beantworten: Warum gibt es den leiblichen Tod? Was kommt danach? Warum geht es den einen gut und den anderen schlecht? Diese Fragen sind uns nicht vorgesagt worden, sie steigen mit unwiderstehlicher Gewalt in jedem Menschen auf, es sei denn, er unterdrückt oder überspielt sie eine Zeit lang. Diese Fragen bedürfen einer immer neuen Antwort. Religionen haben die Aufgabe, immer wieder auf die eigentlich wichtigen Dinge des Lebens hinzuweisen, auf Liebe Zuwendung, Geborgenheit, Anerkennung, Vergebung. Diese sind nicht einfach machbar, sondern machen eine gewisse Geisteshaltung erforderlich. Wenn eine Spezies Geist erreicht hat, dann hat sie diesen Geist entwickelt, um ihn für ihren Fortbestand und für ein harmonisches Zusammenleben einzusetzen. Dazu gehören dann auch Regeln und Gebote, die die Menschheit vor der Selbstzerstörung schützen.
Die entscheidende Frage bleibt: Wer motiviert den Menschen, sich entsprechend zu verhalten? Die Religionen schaffen es offensichtlich nicht. Nur wenn es uns gelingt, das Ich in eine höhere, in die mystische Erkenntnisstufe einzubinden, erhalten wir die Kraft, uns aus der Umklammerung des Ich zu befreien. Auf dieser Stufe erfahren wir die Einheit mit allen Wesen. Das Leid der anderen wird zu unserem Leid. Ich helfe mir selber, wenn ich dem andern helfe. Auf dieser Stufe erkennen wir auch, wie viel Gutes wir von den anderen erfahren. Aus der Einheitserfahrung entspringt das, was Bruder David «Gratefulness» nennt. Dankbarkeit wird zu einer Grundhaltung unseres Lebens, weil wir das Gute erkennen, das uns andere geschenkt haben. Daraus kommt das Verlangen, auch anderen in Dankbarkeit Gutes zu tun. Bruder David lebt es vor und nimmt viele Menschen auf diesem Weg mit. Das macht auch uns dankbar, dass wir ihn kennen lernen durften.

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 137-142
© Willigis Jäger OSB (2006)

Willigis Jäger OSB, *7. März 1925, †20. März 2020 Benediktinermönch und Zen-Meister (Ko-un Roshi). Seit 1946 Benediktiner in der Abtei Münsterschwarzach. Nachdem er bereits in Deutschland erste Kontakte mit Zen hatte, schickte ihn der Orden nach Japan, wo er sechs Jahre lang ein Zen-Training in Kamakura absolvierte. Wieder zurück, gründete er 1983 in Würzburg das Meditationszentrum St. Benedikt, das er bis 2002 leitete. Ab 2002 wurde er exklaustriert («beurlaubt»), war aber nach wie vor Mitglied seiner Klostergemeinschaft. Ab Herbst 2002 baute er das Tagungszentrum Benediktushof-Holzkirchen bei Marktheidenfeld auf.

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