Von Anselm Grün

Mit dem Alter kommen die Gedenktage. 2005 habe ich meinen 60. Geburtstag gefeiert und zugleich mein 4O-jähriges Professjubiläum. Solche Tage sind für mich immer Tage tiefer Dankbarkeit. Wenn ich zurückschaue auf die 60 Jahre meines Lebens und die 40 Jahre im Kloster, dann staune ich immer wieder, wie das Leben sich formt. Da gab es Zeiten in meinem Leben voller Unsicherheit. Kurz vor dem Abitur war ich noch hin und her gerissen, ob das Leben in einem Benediktinerkloster für mich sinnvoll und lebbar sei. Und ich schrieb meinem Onkel, der selbst Mönch in Münsterschwarzach war, in jener Abtei, in die ich eintreten wollte, recht kritische Briefe. Als Schüler hatte ich natürlich auch die Durchschnittlichkeit der Mönche kennen gelernt und mich daran gerieben. Ich fühlte mich zu mehr berufen. Mein jugendlicher Ehrgeiz war nicht immer gerecht im Urteil über die Mönche, denen ich begegnet bin. Mein Onkel schrieb mir zurück und versuchte, das Mönchsleben von der positiven Seite her zu schildern. Schließlich bin ich trotz meiner Fragen in die Abtei Münsterschwarzach eingetreten.

Die ersten Jahre waren nicht leicht. Nach dem Noviziat stürzte ich mich mit Feuereifer auf das Studium der Philosofie. Die Bücher von Martin Heidegger, von Jean Paul Sartre und Albert Camus, von Karl Jaspers und Ernst Bloch studierte ich, um von der Philosofie her die Geheimnisse des menschlichen Lebens zu erkunden. Im Theologiestudium kam ich dann auf einmal mit meinen Gefühlen in Berührung. Da brach mein Erstlingseifer zusammen. Ich musste mich von den Büchern ab- und meiner eigenen Seele zuwenden. Damals dachte ich, mein Leben würde wohl nie gelingen. Ich musste von meinem idealen Selbstbild Abschied nehmen und mich mit meiner Brüchigkeit und Durchschnittlichkeit aussöhnen. Das war ein schmerzlicher Prozess, der mich in eine tiefe Krise stürzte. Wenn ich zurückschaue, erfüllt mich eine tiefe Dankbarkeit, dass mein Leben dennoch so fruchtbar geworden ist. Und ich kann auch dankbar sein für die schweren Zeiten, in denen ich weder ein noch aus wusste.

Wenn ich heute zurückschaue, so erkenne ich, dass mein Leben nicht solche Frucht gebracht hätte, wenn alles in meinem Leben glatt gegangen wäre. Ich wäre dann vielleicht ein ewiger Musterschüler geworden, ehrgeizig und fleißig, aber nur vom Verstand und Willen bestimmt, ohne seelischen Tiefgang. Die Verunsicherung hat mich dazu geführt, Hilfe zu suchen in der Meditation und in der Beschäftigung mit der Jungschen Psychologie. Sie hat mir die Begegnung mit Graf Dürckheim ermöglicht, der Jungsche Psychologie mit Zen-Meditation verbunden und mir ein neues Gespür für meinen Leib vermittelt hat. Auf diesem Weg hat sich mein Glaube verleiblicht und meine Theologie wurde menschlicher. Wenn ich heute zurückschaue, kann ich voller Dankbarkeit erkennen, dass Gott mich geführt hat, dass Gott für mich das Richtige ausgesucht hat. Ich war als junger Mönch sehr ungeduldig. Mein Ehrgeiz hätte mich sicher dazu geführt, maßlos zu werden und rein intellektuell immer mehr zu studieren. Die Krise hat mich mit meinem Herzen verbunden.

Dankbarkeit bedeutet für mich: Einverstandensein mit meinem Leben, im Einklang sein mit dem, der ich geworden bin. Und sie heißt für mich: Einen tiefen inneren Frieden zu spüren, zu erkennen: Es ist alles gut, so wie es ist. Zugleich ist diese Dankbarkeit aber auch von der Haltung der Demut geprägt. Ich weiß, dass ich mir nichts einbilden kann auf das, was geworden ist. Es hätte auch anders kommen können. Gott hat mich vor größeren Fehltritten bewahrt. Ich stand nie am Abgrund. Gott hat mich nur soviel Dunkelheit und Chaos erleben lassen, wie ich aushalten konnte. Er hat mich nie über mein Maß hinaus gefordert und geprüft. Ich weiß nicht, wie ich in extremen Situationen reagiert hätte. Dankbarkeit bewahrt vor Stolz. Alles ist Geschenk, von Gott, aber auch von meinen Eltern und von meinen Lehrern und Erziehern, denen ich viel zu verdanken habe. Von ihnen habe ich gelernt, auf das Leben zu vertrauen und in allem nach Gott Ausschau zu halten.

Die Dankbarkeit lehrt mich, dass ich mich auf keiner Fähigkeit und auf keinem Werk ausruhen kann. Ich weiß nicht, wie lange mein Geist noch wach bleibt, wie lange mein Leib bei all den äußeren Belastungen noch mitmacht. Ich habe keine Garantie, dass ich nicht durch einen Unfall oder durch eine Krankheit in meiner Schaffenskraft beeinträchtigt werde. Die Dankbarkeit lehrt mich, all das dankbar anzunehmen, was Gott mir geschenkt hat, aber auch bereit zu sein, es loszulassen, wenn er mich dazu auffordert. So befreit mich die Dankbarkeit von der Angst, ob ich einmal krank werde und davor, wie es im Alter weitergehen wird. Die Dankbarkeit führt zur Gelassenheit.

Ich habe Menschen erlebt, die nie zufrieden waren mit dem Lob, das sie erhalten haben. Wenn ich ihnen für etwas gedankt habe, das mir gut gefallen hat oder das für mich und meinen Weg wichtig war, dann haben sie oft so reagiert, dass sie sich klein gemacht haben. Es sei doch nicht der Rede wert. Das sei doch nichts Großes gewesen. Ich spürte oft, wie mich diese Reaktion aggressiv machte. Vielleicht war dieses Sich-klein-Machen nur ein Versuch, noch mehr Lob zu bekommen. Dann hat mich die Unersättlichkeit gestört. Oder aber es war die Unfähigkeit, ein Lob dankbar anzunehmen. Wenn ich einem Undankbaren danke oder ihn lobe, dann bleiben mir oft die Worte im Hals stecken. Ich bekomme ein ungutes Gefühl. Wenn ein anderer sich für mein Lob bedankt, dann fühle ich mich im Einklang mit mir und mit ihm. Wir haben beide gedankt und im Danken Gemeinschaft erfahren. Wir haben beide gespürt, dass letztlich alles Gute von Gott kommt. Aber es ist gut, es dem Empfänger von Gottes Gaben auch zu sagen, dass ich dafür dankbar bin.

Die Dankbarkeit befreit mich von dem Zwang, mich mit anderen zu vergleichen und meine Werke und meine Fähigkeiten über die anderer zu stellen. Die Dankbarkeit ermöglicht es mir, mich mit dem andern zu freuen über das, was ihm gelungen ist. Ich muss weder ihn noch mich abwerten oder entwerten. Mein Wert verliert nicht, wenn ich den Wert des andern dankbar anerkenne. So verbindet die Dankbarkeit mich mit dem andern. Ich bin nicht sein Konkurrent und er nicht meiner. Vielmehr schauen wir gemeinsam auf das, was Gott uns schenkt, manchmal dem andern und manchmal mir, manches mir und manches dem andern. Die Dankbarkeit ermöglicht ein gutes Miteinander und befreit uns von einem ständigen Gegeneinander, von dem Zwang, uns ständig mit andern vergleichen zu müssen. Jeder Mensch hat genügend Grund, dankbar zu sein. Ich bin nicht nur dankbar für das, was Gott mir geschenkt hat, sondern auch für die Menschen, die er mir geschenkt hat, und für die Menschen, denen er viele Gaben mitgegeben hat, die ich bei mir nicht finde. Ich muss nicht alles in mir haben. Es ist schön, bei andern etwas bewundern zu können, was mir fehlt. Dann bin ich nicht neidisch, sondern ich freue mich an dem Reichtum, den ich in anderen Menschen finde.

Undankbare Menschen kann man nie zufrieden stellen. Mit ihnen kann man nicht gut zusammenleben. Sie haben ständig etwas zu kritisieren. Und alle Zuwendung, die ich ihnen schenke, prallt an ihnen ab. Es ist nie genug, was sie bekommen. Dankbarkeit ist offensichtlich die Voraussetzung, dass wir gut miteinander leben können. Mir erzählte der Guardian einer franziskanischen Gemeinschaft, es werde immer schwerer, seinen Mitbrüdern an Weihnachten etwas schenken zu können. Zum einen hätten sie sowieso schon alles. Zum anderen hätten viele Mitbrüder die Fähigkeit verloren, sich für ein Geschenk zu bedanken und sich darüber zu freuen. Er habe den Eindruck, dass all seine Mühe, sich in jeden Mitbruder hineinzudenken und ihm das zu schenken, was ihm gut tut, umsonst sei. Manche würden ein Geschenk nur als Last empfinden. Man kann sich vorstellen, dass die Unfähigkeit zur Dankbarkeit das Miteinander erschwert. Man lebt halt so vor sich hin. Aber die tiefsten Gefühle drückt man nicht aus. Das Gefühl der Dankbarkeit ist für eine gute Gemeinschaft lebensnotwendig. Dankbarkeit ist der konkrete Ausdruck, dass ich den Anderen annehme, dass ich froh bin, dass er in meiner Gemeinschaft ist. Solche Gefühle müssen ausgedrückt werden. Sonst sinkt der emotionale Pegel in einer Gemeinschaft immer mehr.

Vor ein paar Jahren brachte meine Schwester eine junge Frau, die sie bei einem Kurs kennen gelernt hatte, mit nach Hause in unsere Familie. Die Frau hatte ein großes Bedürfnis, von sich zu erzählen. Offensichtlich hatte sie daheim niemanden, mit dem sie wirklich reden konnte. Meine Mutter und meine Geschwister hörten ihr zu. Und sie bedankte sich jedes Mal für das Zuhören. Das machte sie meiner Familie angenehm. Sie amüsierten sich zwar über manche Verhaltensweisen. Aber irgendwie hatten sie sie alle gern. Das Urteil war: Sie ist so dankbar. Die Dankbarkeit macht Menschen angenehm. Mit dankbaren Menschen ist man gerne zusammen. Undankbare Menschen hinterlassen ein Klima von Unzufriedenheit und von Hilflosigkeit. Man weiß gar nicht, wie man diesen Menschen überhaupt eine Freude machen kann. Und das führt dazu, dass man keinen Zugang zum Andern findet. Dankbarkeit ist offensichtlich die Bedingung, dass ich dem Andern wirklich begegnen kann und auch mag. Einem undankbaren Menschen gegenüber mag ich mich gar nicht öffnen. Ich habe den Eindruck, meine Offenheit erzeuge gar keine Resonanz. Dankbarkeit ist der Resonanzboden, auf dem Gespräche und Begegnungen gelingen.

Das waren nur einige Erfahrungen mit der Dankbarkeit, die ich gemacht habe. Dabei haben mir die Gedanken, die Bruder David über die Dankbarkeit des Herzens geschrieben hat, geholfen und mir die Augen geöffnet für die vielen Gelegenheiten, bei denen ich dankbar sein kann. In mir war immer ein Gefühl von Dankbarkeit, wenn ich seine Bücher gelesen habe oder wenn ich unterwegs im Auto Kassetten von ihm gehört habe, die mir ein Rundfunkredakteur manchmal zuschickt. In Bruder David spüre ich das weite Herz, von dem der Hl. Benedikt in seiner Regel schreibt. Die Weite des Herzens ermöglicht es ihm, in allen religiösen Traditionen und Kulturen Werte zu entdecken, die uns gut tun, ohne dass er seine christliche Wurzel vergisst. Er vermittelt mit seinen 80 Jahren auch Weisheit und die Heiterkeit des Herzens. Es ist jene «hilaritas», von der die frühen Mönche geschrieben haben und die für sie ein Zeichen eines wahrhaft spirituellen Menschen ist.

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 62-66
© Anselm Grün (2006)

Anselm Grün Dr. theol., *1945. Mönch und Cellerar der Benediktinerabtei Münsterschwarzach ist einer der bekanntesten christlichen Autoren der Gegenwart. Geistlicher Berater und Kursleiter für Meditation, Fasten und Kontemplation.

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