Von Niklaus Brantschen SJ

Um es gleich zu sagen: Dankbarkeit gibt es nicht ohne die Erfahrung von Sinn. Und Sinn erfahre ich nicht an den Sinnen vorbei. Was damit gemeint ist, wird deutlich an einem Zitat, das ich in einem sehr kostbaren Büchlein von David Steindl-Rast gefunden habe (Die Achtsamkeit des Herzens, Herder Spektrum, S.135). Es stammt von Eido Tai Shimano, dem zeitgenössischen Zen-Meister:[1]

«Vor ein paar Tagen ging ich am Fluss entlang. Der Wind wehte. Plötzlich dachte ich: ‹Oh, die Luft existiert wirklich!› Wir wissen, dass die Luft da ist, aber solange uns nicht der Wind ins Gesicht weht, sind wir uns ihrer nicht bewusst. Vom Wind umweht, wurde mir plötzlich bewusst, dass sie wirklich da ist.

Genauso ist es mit der Sonne. Plötzlich nahm ich die Sonne wahr, die durch die kahlen Bäume schien. Ihre Wärme, ihre Helligkeit ‒ alles vollkommen frei, vollkommen gratis. Wir können sie einfach genießen. Und ohne es bewusst zu wollen, völlig spontan, legte ich die Hände gegeneinander und machte ,gassho'. Da wurde mir klar, dass es nur darauf ankommt, dass wir uns verbeugen, tief verbeugen können. Nur das. Einfach nur das.»

Wie lerne ich durch die Sinne Sinn zu erfahren und dankbar zu werden? Es lohnt sich, bei der Suche einer Antwort auf diese Frage achtsam und schrittweise vorzugehen.

Sehen lernen heißt staunen lernen.

Formen Sie mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand eine Art Guckloch. Schließen Sie das linke Auge und schauen Sie durch das Guckloch. Ein ungewohnter Ausschnitt der Umgebung kommt in Ihr Blickfeld. Zum Beispiel ein paar Stämme junger Birken vor dem Fenster, eine Teetasse und ein paar Büroklammern auf Ihrem Pult. Alltägliche Dinge erscheinen in ihrer Einmaligkeit und wie neu.

Wenn ich aufmerksam schaue
Sehe ich die Nazuna
An der Hecke blühen!

Dieses Haiku von Basho (17. Jh.) ist der poetische Ausdruck für das, was wir soeben als kleines Experiment versucht haben. Die Nazuna ist eine unauffällige Blume. Sie zeigt sich mir unmittelbar, lässt mich innehalten, staunen. Das letzte Wort des Gedichtes, nämlich Kana, ist ein Ausdruck des Staunens und wird am besten mit einem Ausrufezeichen wiedergegeben. Im Einzelnen, in einer unauffälligen Blume zum Beispiel, erblicke ich das Ganze, das Umfassende, das Sinngebende ‒ und lerne staunen und dankbar werden.

Hören lernen heißt still werden.

Es ist eine bekannte Tatsache: Ohrenbetäubender Lärm, aber auch Stress und fehlende innere Ruhe verschließen meine Sinne und insbesondere den Gehörsinn für den verborgenen Sinn des Lebens. Nicht zufällig nennen wir eine ausweglose, unmögliche Situation «absurd». Im Wort «ab-surd» ist das Wort «surdus» enthalten, zu Deutsch «taub». Wenn mein Ohr taub wird für das pulsierende Schweigen der Natur und damit für den verborgenen Sinn, erfahre ich Absurdität. Damit schließt sich ein heilloser Kreis: In den Sorgen und Zwängen des Alltags geht für viele der leise «Klang des Lebens» und mit ihm der tiefere Sinn verloren. Sinnlosigkeit führt aber zu neuen Sorgen und Ängsten und macht uns taub und stumpf.

Was ist zu tun? Ein Minimum an Stille tut Not. Gefragt ist eine Stille, die mehr ist als die Abwesenheit von Lärm; eine Stille, die es zu suchen und auszuhalten gilt; eine Stille schließlich, die durch «Abschalten», etwa durch die Praxis der Meditation, möglich wird.

Wo Stille waltet, ist Dankbarkeit nicht fern.

Tasten lernen heißt heilsame Nähe schenken.

Es gab einmal einen Philosofen, der sagte allen Ernstes: «Ich denke, also bin ich» oder auch: «Ich zweifle, also bin ich» (Descartes). Dieser Beweis meiner Existenz und eines sinnvollen Lebens macht wenig Sinn. Junge Menschen sagen heute: «Ich spüre den Wind in meinen Haaren, die Sonne auf meinem Rücken, den Partner, die Partnerin an meiner Seite, also bin ich.» Im Tasten und Erspüren erfahre ich Sinn. Auch dies will eingeübt sein. Wir können Menschen zu nahe kommen, sie verletzen. Fingerspitzengefühl, Taktgefühl sind angezeigt. Wie wohltuend kann eine liebevolle, achtsame Be-Handlung, Berührung sein.

Jesus heilte vor allem durch Berührung. Da kommt (Markus, Kapitel 8) ein Blinder zu Jesus und bittet ihn, er möge ihn berühren. Jesus nimmt den Blinden bei der Hand, führt ihn vor das Dorf hinaus, bestreicht seine Augen mit Speichel, legt ihm die Hände auf und fragt ihn: «Siehst du etwas?» Der Mann blickt auf und sagt: «Ich sehe Menschen; denn ich sehe etwas, das wie Bäume aussieht und umhergeht.» Da legt er ihm nochmals die Hände auf die Augen; nun sieht der Mann deutlich. Er ist geheilt und wird wohl dankbar sein. Denn, wer wohltuende oder gar heilende Berührung erfährt, versteht ‒ wenn er oder sie nicht von allen guten Geistern verlassen ist ‒ zu danken.

Riechen lernen heißt, sich etwas unter die Haut gehen lassen.

Das Riechen bringt uns die Welt «draußen» noch näher als das Tasten. Gerüche holen auch längst Vergangenes in die Gegenwart zurück und, auf dem Weg des Erinnerns, in unser Inneres hinein. Wenn ich zum Beispiel frisches Brot rieche, fühle ich mich unweigerlich in meine Kindheit versetzt, in unsere Wohnung, in welche der Duft des Brotes aus der tiefer gelegenen Backstube hochstieg.

Gerüche und Düfte wurden von jeher in den Dienst der Kultur und der mystischen Erfahrung gestellt. Alle Hochreligionen wissen, wie nachhaltig Weihrauch und Räucherstäbchen auf Herz und Gemüt wirken. Nicht nur Klänge und Bilder, auch und gerade Gerüche und Düfte gehen in besonderer Weise unter die Haut, dringen ein. Bestimmte Gerüche haben eine gemütsaufhellende, herzerhebende Wirkung und begünstigen zum Beispiel die Meditation. Seit mehr als 30 Jahren entzünde ich beim Meditieren allein oder mit einer Gruppe ein etwas herbes Räucherstäbchen. Sein Duft verbindet mich auf nüchterne, unaufdringliche Weise mit dem Raum um mich, und der aufsteigende Rauch erhebt meinen Geist ‒ und macht mich dankbar.

Schmecken lernen heißt weise werden.

Das Schmecken ist der innerste der Sinne. Er geht nicht nur unter die Haut, sondern reicht buchstäblich bis in die Eingeweide. Die Sprache verrät uns auch hier, wie sehr Schmecken für uns der Weg ist, mit der Welt eins zu werden. Die lateinische Sprache hat für «schmecken» und «weise werden» das selbe Wort: sapere. Was wir schmecken, innerlich verkosten, ja geradezu wiederkäuen, das macht uns weise. Weniger ist oft mehr. Dies gilt für die leibliche wie für die geistige Nahrung. Ignatius von Loyola sagt es so: «Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern das Schmecken und Verkosten der Dinge von innen her.» Nicht von ungefähr empfiehlt Ignatius, sich die jeweiligen Betrachtungen der Heilsereignisse mit den «inneren Sinnen» vorzunehmen und sie mit einem Dankgebet abzuschließen.

Diese kurze Betrachtung der fünf Sinne hat uns gezeigt: Wer die Dinge draußen von innen her schmeckt und verkostet, ihren Duft aufnimmt, sie achtsam berührt, sie erlauscht und sehend wahrnimmt, bringt die Welt über die Sinne ins Innere. Dabei verlieren die Sinne nichts an Schärfe und Klarheit. Im Gegenteil: Das Sehen wird zum Schauen, das Hören zum Horchen, das Tasten zum Ergreifen und Ergriffensein, das Riechen und Schmecken zum Kosten und Verkosten.

So weit, so gut. Aber wie ist es, wenn wir alt und müde werden, die Sinne die Schärfe verlieren und wenn wir trotz Brille und Hörgerät nur schwer mit anderen kommunizieren können? Ein älterer Mann sagte mir kürzlich: «Im Alter nehmen alle Sinne ab, nur der Eigensinn nimmt zu!» In der Tat, wir treffen gelegentlich alte Menschen, die sehr eigenwillig oder eben eigensinnig sind. Ich kenne aber auch solche, die sich in dieser Phase des Lebens dankbar des Vergangenen er-innern.

Ein Leben, das sich vom Sinnlichen abwendet und also sinnenfeindlich ist, wird blutleer, sinnarm, buchstäblich sinnlos ‒ und undankbar. Warum?

Danken ist menschlich.

Jede Erfahrung mit wachen Sinnen, also jede echte Sinnerfahrung verbindet uns mit der ganzen Wirklichkeit und lässt Freude und Dank in uns aufsteigen. Dabei mag zunächst offen bleiben, ob wir diesen Dank mit einer Geste, mit einer Verbeugung oder mit Worten zum Ausdruck bringen und ob wir die sinngebende, alles umfassende Wirklichkeit «Gott» nennen oder nicht. Thich Nhat Hanh antwortete einem Pfarrer auf die Bemerkung, er, Thich Nhat Hanh, könne gar nicht dankbar sein, weil er nicht an Gott glaube:

«Ich dachte für mich: Ich fühle mich außerordentlich dankbar für alles. Sooft ich eine Speise berühre, sooft ich eine Blume sehe, sooft ich frische Luft einatme, fühle ich mich immer dankbar. Warum meinte er, dass ich nicht dankbar sei? Ich dachte an die Episode, als ich Freunden in Plum Village vorschlug, alljährlich ein buddhistisches Erntedankfest zu feiern. An diesem Tag üben wir wirkliche Dankbarkeit, indem wir unseren Müttern, Vätern, Vorfahren, Freunden und allen Wesen für alles danken ... Wir fühlen eine große Dankbarkeit für jeden und alles.

Sooft wir eine Mahlzeit einnehmen, üben wir Dankbarkeit. Wir sind dankbar dafür, dass wir als Gemeinschaft beisammen sind. Wir sind dankbar dafür, dass wir zu essen haben, und wir genießen die Speise in Gegenwart der Mitbrüder. Wir fühlen uns während der ganzen Mahlzeit und während des ganzen Tages dankbar und wir drücken dies dadurch aus, dass wir die Speisen ganz bewusst wahrnehmen und jeden Augenblick intensiv erleben. So versuche ich, meine Dankbarkeit gegenüber allem Leben auszudrücken.» (Lebendiger Buddha, lebendiger Christus, Goldmann, S. 49 f .)

Dank verpflichtet. Die lateinische Sprache kennt zwei Worte für danken, nämlich «gratiam dicere», Dank-Sagen, und «gratias agere», Dank in Taten unter Beweis stellen. Zum Wort und zur Geste des Dankes kommt unweigerlich das Bedürfnis, die Dankbarkeit im konkreten Tun, in der Liebe zu den Menschen, zur Welt und zu Gott zum Ausdruck zu bringen.

Zum Dank-Sagen und Dank-Tun kommt das Dank-Sein. Diese zutiefst menschliche Haltung findet ihren klassischen Ausdruck in dem bekannten Distichon von Friedrich Schiller:

Das Höchste
«Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren:
Was sie willenlos ist, sei du es wollend ‒ das ist's!

Wer Dankbarkeit im umfassenden Sinn einüben will, möge sich an Jesus von Nazareth halten. Er liebte die Erde. Seine wunderbaren Gleichnisse zeugen davon. Er verachtete nicht die Gaben der Natur, wurde sogar als Fresser und Trinker verschrien. Zugleich aber richtete er sich nicht gemütlich in dieser Welt ein. Er war ein Wanderprediger und hatte keine bleibende Stätte. Er neigte sich der Erde zu und erhob zugleich sein Herz zum Himmel. Der Mensch, der die Begegnung mit ihm sucht, wird befähigt, die Verbindung von Sinnlichem und Übersinnlichem existentiell zu vollziehen. Er wird Eucharistie, Danksagung (!), würdig und recht zu vollziehen, ja mehr noch, zu werden verstehen.

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[1] Die Achtsamkeit des Herzens (2021), 135

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 56-61
© Niklaus Brantschen SJ (2006)

Niklaus Brantschen SJ, *1937 in Randa/CH, Zen-Meister und langjähriger Leiter des Lassalle-Hauses Edlibach, Zentrum für Spiritualität und soziales Bewusstsein, Bad Schönbrunn, Schweiz. In der Leitung des Lassalle-Institutes für Zen - Ethik - Leadership. Zahlreiche Seminare und Bücher.

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