Von Francis G. Lu

Im Mai 1989 begegnete ich Bruder David zum ersten Mal im Esalen Institut in Big Sur, Kalifornien, das seit den frühen 60erJahren in der Durchführung humanistischer und psychologischer Konferenzen eine führende Rolle spielte. Er leitete dort ein Seminar, und einer der Teilnehmer, den ich von einem Filmseminar her kannte, stellte uns vor. Obwohl ich von seiner Arbeit wusste und auch sein Buch Gratefulness ‒ The Heart of Prayer[1] kannte, war ich keineswegs auf die gegenseitige Übereinstimmung gefasst, die sich bei unserer Unterhaltung ergab. Wir sprachen über den Film als Träger für geistige Erfahrungen und Entwicklung. Wir wussten beide, dass im Film mehr lag als flüchtige Unterhaltung. Ich sprach darüber, wie sehr es mich interessierte, dass ein Film wie Tokyo Story von Yasujiro Ozu den Zugang zur Kontemplation förderte, und Bruder David erwiderte, dass die Mönche im Kloster Filme anschauten, die sie in der Meditation unterstützten. Aus diesem einstündigen Gespräch entstand 1990 unser erstes gemeinsames Filmseminar «Film und Kontemplation». Es wurde eine tiefgreifende Erfahrung, die wir im jährlichen Rhythmus weiterführten (mit Ausnahme von 1997-2000, als Bruder David keine Seminare leitete). Während fünf Tagen wurden ungefähr sechs bis zehn Filme angesehen und besprochen, die sich auf ein bestimmtes geistiges Thema bezogen, wobei wir uns ganz auf die persönlichen Erfahrungen der Teilnehmer beim Ansehen der Filme konzentrierten.

Ich bin äußerst dankbar, dass mir die Gelegenheit geboten wurde, zusammen mit Bruder David zu unterrichten und während dieser Seminare von ihm zu lernen. Es war die sinnvollste Tätigkeit in meinem Berufsleben und für mich zudem ein Höhepunkt des jeweiligen Jahres. Ich wurde bereichert durch die Suche nach geistigen Themen, die uns ansprachen, und durch die Auswahl der Filme und die Vorbesprechungen. Auch die Reihenfolge, in der die Filme vorgeführt wurden, spielte eine Rolle, da den Teilnehmern ermöglicht werden sollte, ihre persönlichen Erfahrungen mit uns zu teilen. Bruder David und ich sahen uns also vor jedem Seminar unzählige Filme an, tauschten uns per E-Mail darüber aus und kamen so zu einer endgültigen Aufstellung. Natürlich hatte jeder von uns seine eigenen kreativen Ideen für bestimmte Filme, die jedoch häufig übereinstimmten. Wir diskutierten fortlaufend, um die Liste immer besser abzustimmen und stellten sie manchmal noch während des Seminars um. Wir bevorzugten Filme, die nicht nur bestimmte Themen veranschaulichten, sondern auch künstlerisch als große Filme galten und die bis in die Seelentiefen berührten. Solche Filme zeigten häufig Persönlichkeiten, deren Bewusstsein durch eine göttliche Erscheinung verändert wurde. Diese Epiphanie verkörpert der Reisende im Mythos, so wie jener Held, den Joseph Campbell in seinem Buch Held mit den tausend Gesichtern beschrieben hat. Wir legten großen Wert auf die Abfolge der Filme und luden dadurch die Teilnehmer ein, in einen Prozess einzusteigen, mit einladenden und freundlichen Filmen am ersten Tag und schwierigeren und vielschichtigeren Filmen an den folgenden Tagen. Die Filmgeschichten entwickelten ihren kumulativen Effekt im Verlauf des Seminars; unsere gemeinsame Achtsamkeit konzentrierte sich immer mehr, während die unvergleichliche Kulisse von Esalen dazu beitrug, ungestört von den Alltagserfordernissen, unsere Sinne durch den Pazifischen Ozean zu öffnen und zu schärfen.

Anlässlich des 76. Geburtstags von Bruder David planten wir dann Filmebetrachten als Abenteuer unter dem Titel «Heilung durch Dankbarkeit». Es wurde etwa wie folgt angekündigt:

«Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Freude ‒ der Schlüssel zu einem Glück, das nicht davon abhängt, was geschieht. Wir halten diesen Schlüssel in unseren eigenen Händen, aber wir müssen erlernen, wie man ihn verwendet. Es gibt keinen besseren Platz, um Dankbarkeit zu üben, als Esalen und kein besseres Mittel, als sie durch Filme zu erforschen. ...

Unser Thema: Heilung durch Dankbarkeit. Was Dankbarkeit für dich tut, ist ebenso wichtig wie das, was sie für andere tut. Sie beruhigt deine Ängste, verstärkt deinen Mut, öffnet dein Herz für das Abenteuer ‒ Dankbarkeit heilt. Wir sehen ungefähr acht Filme aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Zeiten ‒ jeder davon ausgewählt als ein leuchtendes Beispiel für Dankbarkeit. Ob du ein ausgekochter Cineast bist oder dir durch das Ansehen von Filmen einfach eine Auszeit nimmst, dieses Abenteuer wird dir dazu verhelfen, dankbarer und somit freudiger zu leben, noch lange nachdem du nach Hause zurückgefahren bist.»

Ungefähr dreißig Personen aus allen sozialen Schichten kamen, viele hatten schon früher an unseren Seminaren teilgenommen, alle hatten eine leidenschaftliche Beziehung zum Film. Wir zeigten die Filme mit einer Heimkinoausrüstung. Dazu wurden ausführliche Unterlagen verteilt, um die Diskussion unter den Teilnehmern anzuregen: eine große Auswahl von Kritiken und literarischen Quellen, das heißt kurzer Geschichten, sowie Informationen über die Darsteller und Regisseure. Über die Jahre hat sich ein Ablauf eingespielt, der sich bewährt hat. Die Verarbeitung der Filmbetrachtung erfolgte in mehreren Schritten. Nach der Vorführung blieben wir schweigend einige Minuten sitzen. Die Teilnehmer wurden aufgefordert, ihre Eindrücke in ihre Hefte zu schreiben oder zu zeichnen. Danach konnte sich einer nach dem anderen zu einem Bild oder einer Szene äußern, die sie oder ihn besonders bewegt hatte. Auf diese Weise bekamen wir den Film auch durch die Augen der anderen Teilnehmer zu sehen. Schließlich erörterten wir unsere gemeinsame Erfahrung mit diesem Film.

In diesem Seminar «Heilung durch Dankbarkeit» zeigten wir von Sonntag bis Freitag die ernsthaften und dramatischen Filme am Morgen und schauten die «bekömmlicheren» Filme am Abend an. Im Programm waren Filme wie Titanic, The Wizard of Oz, The Straight Story, Il Postino, Twenty-Four Eyes, Marcelino pan y vino u.a..

Zu Beginn zeigten wir jeweils Filmausschnitte als Einstieg und Anregung ‒ so erzählt Titanic die Geschichte der 101 Jahre alten Rose Calvert und der unvergesslichen Liebe, die sich zwischen ihr und Jack Dawson auf dem Schiff abspielte, einige Tage, bevor die Titanic sank. Sie erklärt den erschütterten Glücksjägern auf der Suche nach einer rührenden Geschichte, dass sie durch ihn gerettet wurde, «in jeglicher Hinsicht, in der ein Mensch überhaupt gerettet werden kann». Ein Bild habe sie nicht von ihm, aber er lebe weiter in ihrem Gedächtnis. Man konnte die große Dankbarkeit nachfühlen, die sie für Jack empfand.

Der Wizard of Oz zeigte die Reise, welche die junge Dorothy (gespielt von Judy Garland) veränderte. Nachdem ein Wirbelsturm sie vom vertrauten Kansas in das magische Land Oz entführt hat, möchte sie weg von dort und nach Hause zurück. Dabei kommt sie in die Smaragdstadt, in der ein großer Zauberer lebt. Auf ihrer Reise trifft sie eine Vogelscheuche, die sich ein Gehirn wünscht, eine Zinnfigur, die sich ein Herz wünscht, und einen ängstlichen Löwen, der sich verzweifelt Mut wünscht. Sie alle hoffen auf die Hilfe des Zauberers von Oz. Indem sie sich zusammentun, überwinden sie alle Hindernisse und am Ende kann Dorothy nach Hause zurück. Dazu braucht sie nur ihre roten Rubinschuhe dreimal an den Fersen zusammenzuschlagen und gleich danach ist sie wieder bei ihren Eltern und Freunden in Kansas. Ein Ausschnitt zeigt Dorothys herzliche Dankbarkeit für die Hilfe der Vogelscheuche, des Mannes aus Zinn und des ängstlichen Löwen, kurz bevor sie die Smaragdstadt verlässt.

Das eigentliche Seminar begann mit The Straight Story, der Geschichte eines alten Mannes, der mit seinem Traktor 500 Meilen zurücklegt, um seinen kranken Bruder in Wisconsin zu besuchen und sich mit ihm zu versöhnen. Während der Reise trifft er ganz normale Menschen, die ihm weiterhelfen und so ein Gefühl der Dankbarkeit aufkommen lassen. Der dramatische Höhepunkt des Filmes ist der Moment, in dem die beiden alten Brüder sich nach dieser langen Odyssee treffen. Der überraschte Bruder Lyle hat Tränen in den Augen und ist dankbar für die enorme Anstrengung, die Alvin unternommen hat, um ihn zu besuchen. Gemeinsam blicken sie zu den Sternen.

Danach sahen wir Il Postino, die Geschichte eines jungen Mannes, der sich mit dem im Exil lebenden Dichter Pablo Neruda anfreundet, und City Lights, Charlie Chaplins großes Meisterwerk. Nach weiteren Filmen zeigten wir Tuesday with Morrie, der zum emotionalen Höhepunkt des Seminars wurde. Die Geschichte basiert auf dem Bestseller von Mitch Ablom, der über seinen Besuch bei seinem ehemaligen Hochschullehrer an der Universität Brandeis (Massachusetts) berichtet. Die Hauptperson Morrie Schwartz leidet an der Lou Gehrigs Krankheit (ALS) und liegt im Sterben. Ursprünglich fürs Fernsehen gedacht, spielte der große Schauspieler Jack Lemmon in diesem Film eine seiner letzten Rollen. Er stellt die wachsende Dankbarkeit glaubhaft dar, die der Schüler seinem Lehrer entgegenbringt, der ihm angesichts des Todes vermittelt, wie er jeden Tag noch sinnvoll verlebt.

Bruder David brachte viele wichtige Eigenschaften in dieses Seminar ein: seinen klaren und intelligenten Begriff von «Dankbarkeit», seine Begeisterung und seine Freude beim Betrachten der Filme und vor allem seine beruhigende Gegenwart, die uns ermutigte, im bestehenden Moment zu verweilen und gemeinsam die sinnlichen und geistigen Bedeutungen, die der jeweilige Film auslöste, zu verarbeiten. Dankbarkeit für die freundlichen und liebevollen Szenen, die wir durch die Filmbetrachtung erfahren konnten, brachte unsere eigene Dankbarkeit ins Bewusstsein, wie Glockenklänge, die in der ruhigen Luft widerhallten. Wir besprachen die Dankbarkeit der Familienmitglieder untereinander, dann die Dankbarkeit von jungen unglücklichen Menschen gegenüber älteren, die Mitgefühl zeigen, dann Dankbarkeit unter Fremden, und schlussendlich die Dankbarkeit der Schüler gegenüber ihrem Vorbild und Lehrer.

Tuesday with Morrie weckte aus mehreren Gründen ganz besondere die Emotionen in uns. Zuerst wohl deshalb, weil der Film, obgleich von Bruder David und mir nicht bewusst so eingeordnet, als vierter Film der Woche das Verhältnis zwischen Lehrern und Kursteilnehmern thematisierte, das sich auch bei uns zunehmend entwickelte. Auch The Road Home am nächsten Tag beschäftigte sich mit diesem Thema. Während ll Postino und Twenty-Four Eyes mehr unsere Gefühlstiefe ansprachen und From Mao to Mozart, ein Dokumentarfilm über die Arbeit des großen Geigers Isaak Stern mit chinesischen Kindern, nochmals andere Gefühlsstufen berührte, brachte uns Tuesday with Morrie auf ein spirituelles Niveau. Die Erfahrung von Dankbarkeit, die unsere Teilnehmer durch die vorhergehenden drei Filme machten, spiegelte die Dankbarkeit von Mitch für die Einblicke wider, die Morrie ihm über das Leben vermittelt. Mitch war zunächst wie so viele von uns: Er bewegte sich inmitten eines geschäftigen Lebens mit wenig Raum oder Zeit für die wirklich wichtigen Dinge im Leben ‒ für sinnvolle Arbeit und Beziehungen. Ihm gegenüber war Morrie, der Archetypus des klugen alten Mannes, ein Weiser, der vergeistigte Weisheit ausstrahlte und angesichts seiner eigenen Sterblichkeit göttliche Verinnerlichung vermittelte. Der Film inspirierte uns, über die eigenen Lehrer und Mentoren in unserer Vergangenheit nachzudenken, sich wieder mit ihnen zu verbinden und auch Schönheit im Wandel zu erkennen. Wir konnten uns schließlich auch der großen Trauer überlassen, als wir Morrie sterben sahen, und schließlich unsere Dankbarkeit nicht nur für Morrie empfinden, sondern für alle Lehrer, die uns in unserem Leben weitergeholfen hatten.

Es war eine Begeisterung im Raum, hervorgerufen durch die eigene Erinnerung an erlebte Liebe und Fürsorge, ein Erinnern, das sich nicht isoliert manifestierte, sondern alle befanden sich gemeinsam in einer aufstrebenden Spirale des Staunens. Ohne Zweifel kam dies durch die lebendige Gegenwart des einen Lehrers, der uns alle zusammenbrachte, Bruder David (der eine klare Verkörperung des Archetyps von Klugheit, erworben durch Erfahrung, darstellte), wodurch unsere sublime Erfahrung von Dankbarkeit noch erhöht wurde.

Für mich wurde die Erinnerung an Joseph Campbell wieder lebendig, der einer meiner wichtigsten Lehrer gewesen war, und der meine Filmseminararbeit in Esalen direkt beeinflusst hatte. Ich erinnerte mich an mein erstes Seminar als Teilnehmer in Esalen im Mai 1978: Fünf Tage zum Thema «Hinduism and Buddhism in Oriental Art», geleitet von Campbell. Am Ende dieses Seminars wurde mir offenbar, dass mein Sinn und Zweck in dieser Welt war, ganz besondere Eigenschaften von Osten und Westen zusammenzubringen. Im Rückblick glaube ich, dass meine Arbeit mit Bruder David in Esalen der lebendige Ausdruck der damaligen Offenbarung geworden ist. Wo sonst als in Kalifornien könnten ein chinesisch-amerikanischer Psychiater, der in San Francisco geboren wurde, und ein aus Österreich stammender Benediktinermönch zusammenkommen, um gemeinsam Filmseminare durchzuführen?!

 

[1] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens [Bisheriger Titel: Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen]. Neuausgabe, mit einem Geleitwort von Fernand Braun, Freiburg, Kreuz Verlag 2018.

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S.   
© Francis G. Lu (2006)

Francis G. Lu, *in San Francisco, Professor für Klinische Psychiatrie an der Universität von Kalifornien in San Francisco UCSF), Direktor des Programms für kulturelle Kompetenz und Diversität im Departement für Psychiatrie im San Francisco General Hospital, in welchem er seit 1978 tätig ist. Seit 1987 führt er zusammen mit Bruder David Steindl-Rast im Esalen-lnstitut in Big Sur Film-Seminare durch, in denen es um die Erforschung von Selbsterfahrung durch dieses Medium geht.

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