Von Helmut Milz

Von ganzem Herzen «jetzt» sein, wieder «wie die Kinder werden»:

«Auch alte Leute, sofern sie die Tugend der Hoffnung erlernten, strahlen eine unerwartete Jugendlichkeit aus.»[1]

Als Bruder David diese Zeilen schrieb, war er in meinem Alter. Im letzten Jahr, bei unserer Begegnung im alten Kloster von Cortona, wirkte er sehr jugendlich. Sein Mut zu Überraschungen auf dem Weg seiner Pilgerschaft und seine dankbare Neugierde auf das Leben, lassen ihn in «weiser Jugend» altern. David Steindl-Rast verkörpert auch die Tugend der Hoffnung in diesen oft sehr ungastlichen Zeiten. Begegnungen mit ihm öffnen die Herzen. Als «gewinnendste Eigenschaft der Hoffnung» sieht er einen «realistischen Humor». Sein ganzes Wesen lädt zum freudigen, lachenden Erleben des «jetzt» Gegebenen ein.

Mitte der 80er-Jahre machte uns der Physiker Fritjof Capra bei einem Aufenthalt im Esalen Institute in Big Sur, Kalifornien, miteinander bekannt. Er hatte gerade mit Bruder David einen wissenschaftlich-religiösen Dialog über die «Wendezeit im Christentum»[2] veröffentlicht. Beide sind österreichische Emigranten in den USA und beide sind in vieler Hinsicht immer auch Europäer geblieben. Die authentische Schlichtheit, mit der Bruder David seine Benediktinerkutte trug, strahlte inmitten der suchenden Menschen aus vielen Nationen und Kulturen Würde aus.

Im Sommer 1990 kurz nach der Wende in der DDR, haben Bruder David und ich gemeinsam an einem «Festival der Visionen»[3] im Potsdamer Ernst-Thälmann-Stadion teilgenommen. Eine illustre Schar von wissenschaftlichen und politischen Querdenkern, spirituellen Hoffnungsträgern und Künstlern aus aller Welt wollte dort ihre Freude über die Öffnung von früheren, starren Lagern ausdrücken. Was mich an Bruder David wiederum beeindruckte, war, wie sehr er sich durch seine bescheidene, ruhige Präsenz von den Eitelkeiten mancher anderer spiritueller Meister abhob.

In den letzten Jahren sind wir uns bei der Cortona-Woche der ETH Zürich zusammen mit Wissenschaftlern, Künstlern und spirituellen Persönlichkeiten aus aller Welt begegnet. Im Laufe der Woche nahmen wir gemeinsam an einem Workshop der Mathematikerin Marie Milis über «eigene Ängste vor mathematischen Problemen» teil. Aus einer vorgegebenen Menge an Stangen und Stoff sollten wir dabei die größtmögliche Fläche für ein Zelt errechnen. Dabei suchten wir in kleinen Gruppen nach Lösungsmöglichkeiten. Während die Einen gleich mit abstrakten, angelernten Formeln operierten, begannen Andere damit, sich die gestellte Aufgabe erst praktisch zu überlegen. Bruder David schlug vor, das Ganze erst einmal aufzumalen. Man spürte bei ihm den Pilger, der ein Lager auf seinem Weg aufschlagen muss. Wir haben viel gelacht und eine Menge Freude beim (Er-)Finden von möglichen und unmöglichen Lösungswegen zum Zeltbauen gehabt.

In meiner Jugend, als Messdiener in einer kleinen Eifelgemeinde, schien mir Gott sehr nah und selbstverständlich. Diese unbedarfte Zeit wurde damals abrupt durch eine deftige Ohrfeige beendet, welche mir mein damaliger Kaplan verabreichte. Er wollte damit sein Missgefallen darüber spürbar bekräftigen, dass ich während der heiligen Messe als beleidigter «Ersatzmessdiener» im Hinterzimmer geblieben war (und zugegebenermaßen einen kleinen Schluck vom noch ungeweihten Messwein probiert hatte). Heute, mit der großen zeitlichen Distanz zum Geschehen, kann ich in dieser Ohrfeige lächelnd auch «die Hand Gottes» (Diego Maradona beim Fußball-WM-Finale) vermuten. Während der rebellischen Studienjahre ließ mich mein kritisches Wissen um ihre «dunklen Seiten» an der Institution der katholischen Kirche erheblich zweifeln. Religion schien «Opium fürs Volk» (Karl Marx) zu sein. In dieser Zeit blieb mein Herz zwar heimlich bei Don Camillo, aber mein Kopf war klar auf der Seite des Anliegens von Peppone (Guareschi). Erst langsam wurde mir bewusst, dass beide im gleichen Team spielen müssen.

Irgendwie blieb meine Nähe zu Gott im täglichen Gebet trotzdem, auch oder gerade in Zeiten von großen Tumulten. «Wenn du in Eile bist, dann mache einen Umweg», sagt der Zen-Meister. Auch ohne diesen Ratschlag habe ich Umwege und «richtige Fehler» machen müssen. Die folgende Zeit war von Offenheit und Neugierde in der Begegnung mit anderen religiösen und spirituellen Traditionen geprägt. Zusammen mit Freunden von der Universität Bremen organisierte ich viele Jahre einen «Kongress menschlicher Visionen» mit. Auch hier konnten wir von Bruder Davids Erfahrungen lernen. Diese Dialoge vertieften meinen Respekt für Andersgläubige und meine Abscheu für jeglichen Fundamentalismus. Er hat mich unaufdringlich, durch seine freundschaftliche Haltung ermutigt, die Wurzeln meiner eigenen katholischen Sozialisation zu respektieren und zu würdigen. Ich verstehe so besser, wie Bruder David den friedlichen Dialog mit anderen religiösen Traditionen authentisch gestalten konnte.

Im Blick auf die Versuchungen Jesu schrieb Bruder David einmal: «Meinen Glauben beweise ich nicht, indem ich um das bitte, was ich brauche, sondern indem ich darauf vertraue, dass ich brauche, was ich erhalte!» Er sagt hier etwas über eine scheinbare Paradoxie des Glaubens. In meiner täglichen Arbeit als Arzt und Psychotherapeut sind Glaube und Hoffnung schwierige, aber oft entscheidende Dimensionen für Menschen in lebensbedrohlichen Krisen und Konflikten. «Hoffnung ist realistisch. Der Realismus der Hoffnung ist Demut.» Als Pilger auf unserem eigenen Lebensweg brauchen wir oft Mut und Offenheit für Überraschungen und den Glauben an den Sinn von Prüfungen. Dies gilt gerade dann, wenn wir in Verzweiflung zu stürzen drohen. «Glauben ist der Mut loszulassen. Furcht hält fest.» Loslassen ist ein Weg, um neuen Halt in der Dankbarkeit für das immer nur JETZT gegebene Leben zu entdecken.

«Die Angst des Lebens treibt den Menschen aus seinem Zentrum», schrieb Martin Heidegger (übrigens auch ein langjähriger Messdiener). Der Mensch könne sich als Ort erfahren, wo aus Nichts Etwas und aus Etwas Nichts wird. Vielleicht sagte Heidegger, der Philosoph des menschlichen «Geworfenseins», auch deshalb so entschieden: «Mensch sein heißt ... wohnen.» Steindl-Rast sieht als den eigentlichen Wohnraum des Menschen die Tiefe des menschlichen Herzens: «Das Herz ist kein einsamer Ort. Es ist der Bereich, in dem Alleinsein und Beisammensein zusammentreffen.» Das menschliche Herz, welches sich in Gott sammelt, Ruhe findet und von ihm gefunden wird.

Die Grenzen zwischen Arzt, Therapeut und Seelsorger verwischen sich in den Übertragungsprozessen von Hilfe suchenden Menschen leicht. Ich muss in meiner Arbeit umso mehr Klarheit und Bewusstheit für diese Grenzen bewahren, um meine Kompetenzen nicht zu überschreiten. Als Arzt bin ich einerseits der wissenschaftlichen Erkenntnis über körperliche und psychische Prozesse verpflichtet. Die modernen Natur- und Sozialwissenschaften müssen zur «sauberen» Praktikabilität ihrer Forschung den Menschen in einzelne Elemente und Departements aufteilen ‒ in Körper, Psyche, Seele, Geist, in Individuen, welche in spezifischen sozialen Gemeinschaften leben, nach Geschlecht, Alter, Beruf getrennt, nach Reiz und Reaktionsmustern gesondert, etc.. Im realen Leben und in der ärztlich-therapeutischen Praxis sind dieselben Menschen aber immer mehr als nur die mechanische Zusammensetzung von oder die eindeutige Beziehung zwischen Teilen. Wir (er-)leben als Menschen in unserer Ganzheit viele Überschneidungen, Überraschungen und Geheimnisse, die sich rein wissenschaftlich nicht verstehen lassen. «Staunen bedeutet mit den Augen des Herzens zu sehen.» Jede Dimension unseres Lebens kann jede andere beeinflussen. Als Menschen suchen wir in Krisen auch nach Lebenssinn und glaubhaftem Eingebundensein in größere, ökologische und spirituelle Zusammenhänge. «lm Glauben wandeln wir närrisch und doch weise wie Seiltänzer», schreibt David Steindl-Rast. Wissenschaftliche Heilkunde braucht immer auch Qualitäten der spirituellen Heilkunde. «Es wäre gänzlich unvernünftig, nicht an Wunder zu glauben», sagt der Philosoph Matthias von Varga zu Recht.

In naturverbundener Erinnerung an seine österreichische Heimat merkt Bruder David an: «Sinn findet man nicht wie Blaubeeren auf einer Waldlichtung ‒ als etwas, das man mit nach Hause nehmen und im Einsiedglas aufbewahren kann. Sinn ist immer etwas Frisches.» Diese Frische vermittelt er den Menschen, die ihm begegnen. Ja, das Leben macht immer wieder neuen Sinn ‒ trotz allem. «Optimismus und Pessimismus spielen nur Theater. Hoffnung steht aber mit beiden Beinen in der Wirklichkeit.»

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[1] Die kursiv gesetzten Zitate sind dem Buch: Dankbarkeit: Das Herz allen Betens [Bisheriger Titel: Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen] (2018) entnommen [Anm.]

[2] Wendezeit im Christentum (2015)

[3] Das Festival «Die Kraft der Visionen» Berlin und Potsdam fand am 19. Mai 1991, an Pfingsten statt [Anm.]

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 124-128
© Helmut Milz (2006)

Helmut Milz, Prof. Dr. med., *1949, studierte Medizin und Soziologie. Facharzt für Psychosomatische Medizin, Allgemeinmedizin und Psychotherapie, Honorarprofessor für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bremen. Er befasste sich schwerpunktmäßig mit leiborientierten, psychosoma-tischen Lern- und Therapiemethoden und war Inhouse-Consultant der WHO.  Autor verschiedener Bücher über ganzheitliche Medizin und Leiblichkeit, seit vielen Jahren Kooperation mit intenationalen Systemdenkern.

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