Von Max Milz

Bei meiner ersten Begegnung mit Bruder David im Jahr 1987 war ich ganze sechs Jahre alt. Damals lebte ich mit meinen Eltern im Esalen Institute in Big Sur, Kalifornien. Es war in dieser wohl schönsten Zeit meiner Kindheit, dass ich Bruder David begegnete, als mein Vater mich zu einem Besuch bei ihm mitnahm. An vieles kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern. Aber die Begrüßung sehe ich klar vor mir. Bei der Ankunft war ich etwas eingeschüchtert und versteckte mich hinter meinem Vater, schließlich hatte ich noch nie einen Mönch gesehen und hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Als wir vor ihm standen, sah ich zunächst den hageren Mann in einer sonderlichen Kluft, der sich durch besonders schwarze Augenbrauen auszeichnete; das war erst einmal nicht sehr beruhigend. Unter den dunklen Brauen strahlten mir jedoch zwei helle Augen und ein freundliches Lächeln entgegen und eine ruhige Stimme begrüßte meinen Vater und mich. Schnell legte sich meine Aufregung und ich fasste Vertrauen zu diesem ungewöhnlichen Mann. Im Nachhinein betrachtet, sind es wohl dieses entwaffnende Lächeln Bruder Davids und seine freundliche, warmherzige Ausstrahlung, die sich mir ins Gedächtnis eingeprägt haben. Seine Fähigkeit, innerhalb eines Augenblicks Vertrauen zu schaffen, hat mich beeindruckt. Bruder David verkörpert deshalb für mich das Ideal des inspirierenden Menschen, von welchem Karl Marx in seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten spricht:

«Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen, etc. Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluss auf andre Menschen ausüben willst, musst du ein wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen ‒ und zu der Natur ‒ muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein.»[1]

Ironischerweise spielte Marx nun indirekt eine Rolle bei meiner zweiten Begegnung mit Bruder David. Kurz nach dem Fall der Mauer und dem Ende der DDR 1990 hatte mich mein Vater ins frisch wiedervereinigte Berlin auf eine Konferenz mitgenommen. An dieser Konferenz nahm auch Bruder David teil.[2] Abgesehen von der sehr ungewöhnlichen Atmosphäre des Wiedersehens in einem Sportstadion (in welchem die Konferenz stattfand) ist für mich von dieser Begegnung vor allem ein Element in Erinnerung geblieben: die Weihe meines Taufkreuzes durch Bruder David. Ich war damals neun Jahre alt und kurz zuvor getauft worden, um die Erstkommunion in Bayern empfangen zu können. Meine Großmutter hatte mir zur Taufe eine Kette mit einem schlichten, silbernen Kreuz geschenkt. Nun musste ein ordentliches Taufkreuz auch geweiht werden und so kam die zweite Begegnung mit Bruder David zum richtigen Zeitpunkt, denn wer wäre für dieses Ritual besser geeignet gewesen als er. Für mich als neu getauften Jungen war das Treffen mit Bruder David ein zusätzlicher Anreiz ‒ besonders nachdem ich ihn drei Jahre nicht gesehen hatte. Drei Jahre sind im Alter eines neunjährigen Jungen eine halbe Ewigkeit. Umso seltsamer, dass unsere Begegnung von allen Orten auf der Welt ausgerechnet auf einer Tartanbahn stattfand, inmitten einer alternativ angehauchten Szene. Bruder David war ‒ wie könnte es anders sein ‒ gerne bereit, mir mein Kreuz zu weihen. So durfte ich ihn dabei erleben, wie er seinen Segen über das Kreuz und mich sprach und es mir mit einem Augenzwinkern wieder zurückgab. Ich platzte beinahe vor Stolz, weil mein Kreuz von einem echten Mönch geweiht worden war. Dementsprechend bewahrte ich das Kreuz von diesem Zeitpunkt an wie einen Schatz und besitze es noch heute. Somit war Bruder David fortan auch auf diese Weise immer Teil meines Lebens. Da ich aufgeschnappt hatte, dass Bruder David nicht nur Mönch, sondern auch Buchautor war, habe ich im Anschluss an dieses Treffen meinen Vater so lange durch Buchläden geschleppt, bis ich ein Exemplar von «Fülle und Nichts» gefunden hatte. Zwar begann ich noch am selben Abend mit der Lektüre, jedoch muss ich gestehen, dass ich es überhaupt nicht verstand und folglich mit meinen neun Jahren das Buch nach den ersten fünf Seiten in mein Bücherregal verbannte. Man möge es mir nachsehen ‒ schließlich handelte es weder von Winnetou noch von John Silver.

Viele Jahre vergingen bis zu unserer letzten Begegnung im Jahr 2005, während des Cortona-Seminars der ETH Zürich in der Toskana. Inzwischen 24-jährig durfte ich Bruder Davids Gegenwart eine Woche lang erleben. Inmitten dieser sehr intensiven Woche voller Diskussionen, Seminare, Workshops und auch Feiern beobachteten meine 16-jährige Schwester Tine und ich Bruder David häufig im Umgang mit seinen Mitmenschen. Dabei fiel uns auf, wie sehr die Menschen seine Nähe suchten und wie angenehm es war, Bruder David beim einfachen «Sein» zu beobachten. Inmitten großen Trubels verbrachten wir einige Zeit damit, uns an seiner freundlichen Ausstrahlung, seinem Lächeln und seiner Ruhe zu erfreuen. Umso größer war für mich die Freude, als ich mit Bruder David sprach und er mich nicht nur wiedererkannte, sondern sich auch genau an unsere Begegnungen erinnern konnte. Das Wiedersehen an sich war für mich sehr wertvoll und ein Quell großer Freude. Nicht zuletzt deshalb war ich sehr gespannt auf seinen Abschlussvortrag zum Thema «Dankbarkeit». Dieser Vortrag «öffnete die augen meiner augen» (e. e. cummings[3]) für die Schönheit der Welt. Staunen und Dankbarkeit für das Erlebnis des Augenblicks werden so zu einer Form des Gebets. Kein anderer hätte mir persönlich diese Wahrheit mit solcher Klarheit vermitteln können, denn letztendlich muss ein Gedanke nicht nur rational überzeugen, sondern auch emotional berühren. Und es ist eben diese Verbindung von klarem Geist und mitfühlendem Herzen, die mich berührte.

Vor dem Hintergrund meines Studiums der Ökonomie beschäftige ich mich heute mit Fragestellungen wirtschaftlich-sozialer Natur. Die Ökonomie ist vor allem von der Philosophie des Utilitarismus geprägt. Sie hat die Maximierung des Nutzens der Gesamtheit aller Individuen in einer Gesellschaft zum höchsten Gut erklärt. Das grundsätzliche Problem besteht nun darin, was als Nutzen definiert wird und wie dieser gemessen werden kann. Das analytische Konzept der Ökonomie kann nur auf quantifizierbare, objektiv beobachtbare Phänomene angewendet werden. Tatsächliche oder angebliche materielle Bedürfnisse lassen sich relativ gut durch Geldeinheiten ausdrücken, solange man den Tauschwert und nicht den Nutzwert betrachtet. Sobald es jedoch um das innere Erleben des Menschen geht, ist die Ökonomie bisher weitgehend hilflos. Der Grund hierfür liegt in der mangelnden empirischen Quantifizierbarkeit inneren Erlebens. Zwar gibt es inzwischen interessante Ansätze, Psychologie und Ökonomie zu verbinden, jedoch stecken diese noch in den Kinderschuhen. Es ist daher angemessen zu behaupten, dass das psychische Wohlergehen des Menschen, also sein inneres Erleben, in der Ökonomie bisher weitgehend ausgeklammert wurde. Dies ist zulässig, solange man sich der Grenzen der Ökonomie bewusst ist. Innerhalb dieser Grenzen kann die Ökonomie einen wichtigen Beitrag zum Gesellschaftsverständnis leisten. Jedoch werden diese Grenzen selten denjenigen, die das Handwerkszeug der Ökonomie lernen, bewusst gemacht. Dadurch kommt es oft zu dem Problem, dass nichtmaterielle Erfahrungen und Bedürfnisse banalisiert werden, obwohl sie mindestens ebenso wichtig sind.

Die Empfindung eines Augenblicks der Erfüllung, der aus der Betrachtung von Schönheit erwächst, aus Dankbarkeit für die eigene Existenz und die Wunder dieser Welt, das Gefühl der Zugehörigkeit lässt sich kaum quantifizieren. Man empfindet diesen Moment des «Gipfelerlebnisses» wie Bruder David in Anlehnung an Abraham Maslow schreibt ‒ oder man empfindet ihn nicht. Aber man empfindet nicht am 3. Mai um 12:00 Uhr den Gegenwert von «42 Dankbarkeitsdollars». In einer zunehmend von ökonomischer Denkweise geprägten Gesellschaft werden aber nicht-quantifizierbare Phänomene aus den genannten Gründen vernachlässigt. Folglich wird auch die Einsicht, dass ein großer Teil des menschlichen Glücksempfindens in der Einfachheit und Kontemplation zu finden ist, oft vernachlässigt und der Vermittlung dieses Wissens ein geringer Stellenwert eingeräumt. Gerade deshalb sind Menschen wie Bruder David so bedeutend. Dadurch, dass sie Menschen innerlich berühren, können sie die Wichtigkeit des bewussten Erlebens der eigenen Innerlichkeit so anschaulich vermitteln. Im Konzept der Dankbarkeit, im bewussten Erleben des eigenen Seins gibt Bruder David für mich eine Antwort darauf, wie das Faust‘sche «Augenblick verweile doch, du bist so schön» erlebt werden kann und wie wir Hoffnung und Trost finden können.

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[1] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), Drittes Manuskript, XLIII.

[2] Das Festival «Die Kraft der Visionen» Berlin und Potsdam fand am 19. Mai 1991, an Pfingsten statt [Anm.]

[3] XAIRE / 65

i thank You God for most this amazing
day: for the leaping greenly spirits of trees
and a blue dream of sky; and for everything
which is natural which is infinite which is yes

(i who have died am alive again today,
and this is the sun’s birthday; this is the birth
day of life and of love and wings: and of the gay
great happening illimitably earth)

how should tasting touching hearing seeing
breathing any – lifted from the no
of all nothing – human merely being
doubt unimaginable You?

(now the ears of my ears awake and
now the eyes of my eyes are opened)

ich dank Dir Gott für meist den wundervollen
tag: für dieses sprunghafte baumsein grün wie je;
den klaren wahren traum von himmel; alles
was natürlich ist, unendlich ist, was ja

(ich der gestorben bin bin neu am leben heute,
am werdetag der sonne, ja am werde
tag von leben liebe flügeln: der erfreuten
großen, grenzenlos geschehenden erde)

wie sollte schmeckend tastend hörend sehend
atmend irgend – aufgehoben aus dem nein
des ganzen nichts – ein menschlich bloßes wesen
bezweifeln unvorstellbar Dein?

(jetzt wachen die ohren meiner ohren auf und
jetzt sind die augen meiner augen offen)

E. E. Cummings: 39 Alphabetisch, ausgewählt und aus dem Amerikanischen übersetzt von Mirko Bonné. Taschenbuch, [Schupfart], Engeler-Verlag Urs Engeler 2020 ‒ Siehe auch den Titel des Buches Die Augen meiner Augen sind geöffnet [Anm.]

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 129-133
© Max Milz (2006)

Max Milz, *1981, studierte nach dem Abitur «Land Economy» (Economics,Law, Environment) an der University of Cambridge, Großbritannien, wo er seinen BA Abschluss machte. Tätigkeit in der strategischen Unternehmensberatung.

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