Von David Whyte

«Gereift bist du bereits und wartest darauf, eingebracht zu werden. Deine Erschöpfung gleicht einer inneren Gärung; doch langsam bist du schon dabei, zu verrotten.»

Ich verließ den Saal mit dem Rest von Würde, der mir geblieben war, und ging geradewegs nach Hause. Mir war, als hätte ich kein bisschen Energie mehr, um die Arbeit, die ich tun sollte, noch weiterhin zu erledigen. Als ich in die Küche trat, sah ich auf dem Tisch beim Fenster die Flasche Rotwein, die ich am Morgen bereitgestellt hatte. Im Hintergrund schimmerte graugrün das Meer.

Die dunkle Flasche wartete auf einen Gast, der mich diese Nacht besuchen würde. Ich ließ mich in einen Sessel fallen und schaute lange auf die ungeöffnete Flasche, auf das Meer und in den Himmel. Ich war völlig erschöpft und spürte, wie sehr ich ein Gespräch brauchte mit jemandem, irgendjemandem, doch war es großartig, dass der Mensch, der kommen würde, um mit mir den Wein zu trinken, genau den Weitblick hatte, den ich in diesem Moment so sehr brauchte.

Vor meinem inneren Auge konnte ich Bruder David bereits sehen, wie er mir gegenüber saß, das Weinglas vor ihm auf dem Tischchen; auf seinen Knien ein Buch mit Gedichten von Rilke. Er würde Rilke zitieren in seiner klangvollen, österreichisch gefärbten Aussprache und der Klang stieg nicht nur tief aus seinem Körper auf, er entsprang auch einem umfassenden Verständnis, erworben in langen Jahren der Stille und des Gebets. Bruder David war ein Mönch ganz nach meinem Geschmack; vertraut mit der Stille, war er doch ebenso zu Hause in der robusten Arbeitswelt, in ihrer Sprache samt ihren Bedeutungen. Hinzu kam, dass er Poesie ebenso leidenschaftlich liebte wie ich und in ihrer Erforschung ebenso weitreichenden Intellekt wie weitreichende Phantasie entfaltete.

Sein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen ist beeindruckend, es bedeutet aber nicht, dass er irgendeine beiläufige Behauptung übergehen würde, ohne sie zu hinterfragen und den Begriff klarzustellen.

Einige Stunden später saß Bruder David tatsächlich auf diesem Stuhl. Die Flasche war jetzt umgeben von der Dunkelheit, die durchs Fenster drang, der Korken lag auf dem Tisch. Bruder David blätterte mit der einen Hand im Rilke-Band, in der andern hielt er das Glas, an dem er nippte. Eine weitere Ausgabe des Buches lag ungeöffnet auf meinem Schoß. Nach dem ersten Schluck Cabernet war mir, als läge ich tief in einem Brunnenschacht der Müdigkeit und schaute hinauf zu einem kleinen Lichtfleck, der an der Oberfläche flackerte. Das kleine Licht würde gleich ganz verschwinden und Wasser würde mich überfluten, wenn ich nicht bald etwas sagte. Ich schaute zu Bruder David, dessen Augen aufleuchteten, als er das Gedicht entdeckte, das unseren Abend einleiten sollte, und ich hörte, wie er zu lesen begann:

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes[1]
schwer und wie gebunden hinzugehn
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Ich fand das Gedicht in meinem eigenen Band und las:

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen ‒;
in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehen, Flut um Flut;
während er unendlich still und sicher
immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht.

In diesen Zeilen konnte ich sehen, wie mühelos der Schwan dahinglitt auf dem Wasser, und dachte an meine eigenen Tage, die so voll waren von Abmühen und Wollen.

Ich schaute zu Bruder David, dem einen Menschen, der in meinem Leben einem echten Weisen am nächsten kam, und ertappte mich, wie ich herausplatzte: «Bruder David?»

Das stieß ich in einer so alt hergebrachten, abbittenden, katholischen Manier hervor, dass ich dachte, er würde antworten: «Ja, mein Sohn?» Das tat er jedoch nicht; er wandte sich mir zu und folgte meinem spontanen Ausbruch verzweifelter Ernsthaftigkeit, indem er einfach wartete.

«Sag was zu Erschöpfung», bat ich.

Nur kurz schaute er zu mir hinüber, ein intensiver, durchdringender und gleichzeitig mitfühlender, ja heftiger Blick, so als versuchte er, die ganze Situation zu erfassen, ohne auch nur einen Pulsschlag auszulassen. Es war als hätte er die ganze Zeit nur darauf gewartet, etwas zu mir zu sagen, das mein Leben verändern könnte. Als er antwortete, klang es zugleich wie eine Frage und eine Feststellung: «Du weißt, dass das Mittel gegen Erschöpfung nicht unbedingt Ruhe ist?»

«Das Mittel gegen Erschöpfung ist nicht Ruhe», wiederholte ich unbeholfen und als wäre ich total erledigt, noch bevor ich das Ende des Satzes erreicht hatte: «Was ist es dann?» ‒ «Das Mittel gegen Erschöpfung ist Hingabe aus ganzem Herzen!»

Er schaute mich einen Moment lang so herzlich an, als hätte ich in eine Lücke zu springen. Aber ich selber war die Lücke, die in diesem Moment gefüllt werden sollte, und auch wenn mir bewusst war, dass etwas Entscheidendes gesagt worden war, fehlte mir die Kraft, um irgendetwas zu erwidern. So fuhr er fort: «Du bist so durch und durch erschöpft, weil eine gute Hälfte deines Einsatzes in dieser Organisation weder etwas mit deinen wirklichen Fähigkeiten noch mit deinem Lebensziel zu tun hat. Nur halbwegs dabeizusein, und nicht mit ganzem Herzen, wird dazu führen, dass dich diese Halbheit mit der Zeit umbringt. Du brauchst etwas, für das du deine ganze Kraft einsetzen kannst. Du weißt, was es ist, das muss ich dir nicht sagen.»

Er musste es mir nicht sagen. Bruder David kannte meinen Wunsch; meine Poesie sollte meine Arbeit sein.

«Sprich weiter», sagte ich.

«Du bist wie Rilkes Schwan, der so unbeholfen über die Wiese watschelt. Der Schwan hilft sich nicht aus seiner Unbeholfenheit, indem er sich den Rücken prügelt oder schneller geht oder indem er versucht, sich besser zu organisieren. Er tut es, indem er sich jenem Element nähert, in das er gehört. Es ist die simple Berührung mit dem Wasser, die ihm Eleganz und Gegenwart verleiht. Du brauchst nur mit dem elementaren Gewässer in deinem eigenen Leben in Berührung zu kommen und alles wird sich verändern. Aber du musst dich hinunterlassen in dieses Wasser, weg vom festen Boden auf dem du stehst, und das kann hart sein. Besonders, wenn du überlegst, dass du auch untergehen könntest.» Er schaute auf das Buch und las weiter:

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,

Er schaute wieder auf, das Thema regte ihn an und ich würde einiges darüber zu hören bekommen. «Dieses «ängstliche Sich-Niederlassen» braucht Mut. Das englische Wort für Mut, courage, stammt vom alten französischen Wort coeur, Herz, ab. Du musst etwas tun, was dein Herz ausfüllt, und du musst es bald tun. Lass diese Quälerei, lass dich fallen, wie unbeholfen auch immer, in das Element jener Arbeit, die du für dich selbst willst. Es ist gut, weißt du, dass du dich mit einem nebensächlichen Job über Wasser hältst, bis deine eigene Arbeit gereift ist, doch ist sie einmal herangewachsen zu ihrer ganzen erkennbaren Fülle, muss sie geerntet werden. Gereift bist du bereits und wartest darauf, eingebracht zu werden. Deine Erschöpfung gleicht einer inneren Gärung; doch langsam bist du schon dabei, zu verrotten.»

Vor dem letzten Bild erschauerte ich unwillkürlich, die Aussicht ließ mich zurückweichen. Es war die Aussicht auf einen frühen Tod, während ich noch lebte, und das rüttelte mich aus meinem erschöpften Zustand, als würde ein einfallsreiches Adrenalin jetzt durch mein Inneres fließen. Ich schaute Bruder David an und erkannte, dass allein dadurch, dass ich für einen Augenblick erwachte, alle Müdigkeit von mir abfiel. Seine Worte hatten mir geholfen, tiefer in mich selbst zu tauchen, hinunter in einen imaginären Auftrieb. Sie hatten mich vom Weinstock gelöst, gepflückt, vor dem Verrotten bewahrt: Welche Metapher auch immer, die der Ernte oder der Ankunft, hier fand sie statt, in diesem Raum. Von außerhalb hätte man durch das Fenster einen jungen Mann und einen älteren Mann sehen können, die eindringlich miteinander redeten bei einem Glas Wein, ihre Bücher beiseite gelegt. Man hätte gesehen, wie der junge Mann sich vorbeugte, seine Lippen schürzte, etwas sagte, lachte und sich wieder zurücklehnte. Man hätte einen Augenblick gelöster Vertrautheit erkannt, jedoch nicht ahnen können, dass sich das Leben des jüngeren Mannes gerade tiefgehend verändert hatte. Und doch hatte sich soeben alles verändert.

«Das ist es, genau das ist es», sagte ich und lehnte mich zurück. Ich stellte mir schon während unseres Gesprächs die Gesichter meiner Kollegen im Unternehmen vor, mit denen ich diese schwierigen und mutigen Gespräche würde führen müssen, damit sich etwas änderte an meiner Arbeit. Meine Arbeit sollte sich mehr der Lehre zuwenden, mehr der Rede, mehr der Poesie. Es war eine waghalsige Entscheidung, aber es würde kein Ausweichen geben. Ich war in den Grundfesten erschüttert, als ich heute früh den Betrieb verließ und jetzt nochmals durch die notwendenden und richtungsweisenden Worte von Bruder David. Doch erkannte ich in diesem Gespräch zugleich die tiefgehende Herausforderung und Aufgabe. Von jetzt an wusste ich, dass es für mich keinen anderen Weg mehr gab.

 

[1] TRANSKRIPTION DES SEMINARS (2014) TEIL II, 107, sowie: Beilage 3: Die den Kurs begleitenden Gedichte, 21: Der Schwan (Neue Gedichte)

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 25-29
© David Whyte (2006)

David Whyte, *2. November 1955, wuchs auf in Yorkshire, England. Studium der Meereszoologie. Er leitete als Naturforscher verschiedene anthropologische und naturgeschichtliche Expeditionen in verschiedenen Erdteilen und führte auch Trecks in den Bergen von Nepal. Seine Poesie spiegelt eine lebendige Spiritualität und eine tiefe Verbundenheit mit der Naturhaftigkeit dieser Welt wider. Als Dichter bringt er seine Erfahrungen von Kreativität in das Feld der organisierten Entwicklung ein. Er tut dies als Leiter von Seminaren für amerikanische und internationale Gesellschaften. Derzeit lebt er an der pazifischen Nordwestküste der Vereinigten Staaten.

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