Von Cornelia Hesse-Honegger

Ich soll dankbar sein. Dafür, dass ich mein Leben erfüllen konnte. Dafür, dass Andere gelitten haben! ‒ Nein, ich bin nicht nur dankbar. Das wäre zu einfach.

Geboren bin ich in eine Familie, die sich Kultur erarbeitet hat. Mit einem künstlerischen Vater und einer künstlerischen Mutter. Wir lebten in Zürich, New York und Paris. Die besten Künstler, Verleger, Filmemacher und Fotografen unserer Zeit gingen bei uns ein und aus. Ich hörte spannende Diskussionen, von denen ich noch nichts verstand, sah Ausstellungen und die ersten Happenings, und hörte moderne Konzerte. Ich wollte Künstlerin werden. Aber wer war ich schon neben all diesen Kunstgeschichte schreibenden Männern und Frauen?

Ich bin sehr dankbar, dass Kunst Teil meines Lebens ist.

Das Schicksal meinte es gut mit mir. Mein Vater merkte, dass ich gerne malte und zeichnete, und der einzige Beruf, der für mich in Frage kam, war der der naturwissenschaftlichen Zeichnerin. Mein Vater insistierte, dass sein Freund Prof. Hans Burla, Direktor des Zoologischen Museums der Universität Zürich, einen Lehrgang «Wissenschaftliches Zeichnen» einrichtete. Wir waren drei Lehrlinge, die eine Lehre machen durften, besuchten die Vorlesungen der allgemeinen Biologie und lernten Sezieren.

Meine erste Arbeit bestand darin, Zeichnungen für die Dissertation eines Biologen herzustellen. Damals mussten noch alle Grafiken von Hand gezeichnet werden. Beim Zeichnen merkte ich, dass etwas nicht stimmte, und machte den Biologen darauf aufmerksam. Er rechnete nach und kam mit dem neuen Resultat zurück. Nun konnte ich weiterzeichnen. Es gab kaum eine Grafik, die ich im Laufe meiner Karriere zeichnete, die nicht einen Fehler hatte, den ich durch das Zeichnen entdeckte. Dies gab und gibt mir zu denken.

In der Zeichnung, im ehrlich erarbeiteten Bild liegt eine Wahrheit, für die ich dankbar bin.

25 Jahre lang arbeitete ich für die Biologen im Institut. Ich zeichnete fast immer Fliegen aus der Familie der Drosophilidae. Mein Professor vergiftete und mutierte aber auch Drosophila subobscura Fliegen. Die Mutante, genannt quasimodo, durfte ich zeichnen. Die Köpfe waren entsetzlich entstellt.

Ich war damals 24 Jahre alt und die mutierten Fliegen faszinierten mich sehr. Ich malte sie auch in meiner Freizeit. Den Kopf einer mutierten Fliege setzte ich einem normalen Fliegenkopf gegenüber und das Ganze auf einen roten Hintergrund. Der Professor fand farbige Hintergründe unwissenschaftlich und kritisierte deswegen meine Arbeit.

Für diese Kritik bin ich ihm dankbar, denn dadurch wusste ich, dass die gestalterische Freiheit für mich wichtig ist.

Ich heiratete, hatte Kinder. Wir zogen von der Stadt aufs Land. Ich begann, mich mit der Tierwelt in der Umgebung des Hauses auseinanderzusetzen. Die Blattwanze Heteroptera wurde zur großen Entdeckung. Ich malte nicht nur die Flügelpartien dieser Insekten, sondern auch eine Serie der Schildchen, Scutellum, um die Häufigkeit und die Artenvielfalt darzustellen. Diese kleinen, intensiven Bilder wurden zur Grundlage meiner späteren Forschungsarbeit mit Blattwanzen.

Dass ich Ruhe und Zeit hatte, diese Arbeit zu machen, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit.

Dann kam die plötzliche Trennung von meinem Mann. Ich kehrte mit den Kindern und dem Hund in die Stadt zurück. Es waren keine wilden Insekten mehr da, nur noch ein paar parasitär lebende Fliegen im Blumentopf. Aber auch diese waren besser als nichts. Zu diesem Ereignis kam noch das Leiden an der Umwelt ‒ Seveso, Atombombenversuche im Pazifik, Bhopal.

Ich wollte wieder mutierte Fliegen malen. In meinem Kopf kreiste die Idee, dass Fliegen, die im Labor mutiert worden waren, Prototypen unserer durch Chemie und künstliche Radioaktivität verseuchten Welt waren. Den durch Röntgenstrahlen mutierten Fliegen wuchsen Beinteile aus den Fühlern oder Flügelteile aus den Augen.

Während ich die Stubenfliegen Mutante aristapedia malte, eine Fliege, der Beinteile aus den Fühlern wuchsen, deren Augen und Körper gelb und deren Flügel gebogen und matt waren, ereignete sich das Unglück in Tschernobyl. Ich war sofort überzeugt, dass durch den radioaktiven Niederschlag eine Art Laborsituation eingetreten war, in der die Radioaktivität aus Tschernobyl die Natur verseucht hatte und solche Missbildungen hervorrufen konnte. Der Professor, der mir die Fliegen gegeben hatte, beruhigte meine Ängste, indem er mit Überzeugung von der zu niedrigen Strahlendosis sprach, die absolut keine Missbildungen hervorrufen könne.

Für den Unfall in Tschernobyl bin ich nicht dankbar.

Ich war skeptisch und reiste nach Schweden, in das Gebiet, das am schwersten von ganz Westeuropa von der radioaktiven Wolke betroffen war. Dort fand ich nicht nur rote Pflanzen oder Klee, der in diesem Jahr gelbe statt rosa Blüten hatte, ich fand auch schwerst deformierte Blattwanzen. Und ich begegnete erstmals Menschen, die nicht mehr das essen konnten, was sie angepflanzt hatten. Diese Erfahrung erschütterte mich in meinen Grundfesten.

Ich malte die geschädigten Insekten und Pflanzen, und suchte nach einem Biologen, der dieselbe Arbeit machte. Ich fand aber keinen, und es wurde mir allmählich bewusst, dass alle davon überzeugt waren, dass die Strahlendosis so niedrig war, dass der Natur nichts geschehen konnte.[1]

Die Auseinandersetzung mit der radioaktiven Wolke aus Tschernobyl brachte mich auch in den Tessin, in die Südschweiz, wo ein starker radioaktiver Niederschlag die Natur verseucht hatte. Pilze, Beeren, Fische, Schaffleisch und Käse waren zum Verzehr nicht mehr zugelassen. Dort kam ich auf die nahe liegende Idee, drei Paare Drosophila melanogaster separat in Flaschen mit Futter zu fangen. In Zürich züchtete ich sie in meiner Küche bis in die vierte Generation. Sie produzierten zum Teil geschädigte Nachkommen, die vor allem im Gesicht, an Augen, Abdomen und Flügeln deformiert waren. Dem Professor für Genetik, der mir die mutierten Fliegen gegeben hatte, brachte ich ein Gläschen mit deformierten Drosophila melanogaster. Aber er wollte nichts davon wissen. Auch die anderen Professoren waren nicht interessiert.

Für diese ablehnende Haltung bin ich den Professoren dankbar.

Durch diese Auseinandersetzungen wurde mir bewusst, dass die «niederen Strahlendosen» das heikle Thema waren. Doch wenn die Strahlendosen der Tschernobyl-Wolke so niedrig waren, wie die Biologen behaupteten, und diese Mengen keine Missbildungen bei Blattwanzen hervorrufen konnten, so mussten die Blattwanzen, die in der Umgebung der Schweizer Atomkraftwerke lebten, alle gesund sein, denn die Radioaktivität aus den Kaminen der Atomkraftwerke war noch niedriger.

Ich fuhr zum Atomkraftwerk Gösgen im Kanton Aargau in der Schweiz und sammelte Blattwanzen. Als ich sie mit der Binokularlupe anschaute und die ersten schlimmen Missbildungen entdeckte, wusste ich, dass ich einen Auftrag gefunden hatte.

Ich bin dankbar für diesen Auftrag, obwohl ich finde, dass er Aufgabe der Biologen wäre.

Die Bilder dieser geschädigten Blattwanzen, die ich im Umfeld von zwei Schweizer Atomkraftwerken und dem Paul Scherrer Institut gefunden hatte, publizierte ich. Der Artikel schlug wie eine Bombe ein. Biologen wurden zu ihrer Meinung befragt und bestätigten unisono, dass diese Strahlung absolut ungefährlich sei, obwohl noch nie jemand in solchen Gebieten geforscht hatte. Sie reagierten aggressiv, und es wurde mir bewusst, dass ich Verdrängtes, Unbeachtetes benannt hatte. Es wurde eine Untersuchung gefordert. Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich beauftragte einen Zoologen, der das Thema für seine Dissertation wählte.

In der Zwischenzeit hatte ich meine Studien in der Umgebung der Atomaufbereitungsanlage Sellafield in England weitergetrieben und konnte mit einer Gruppe nach Tschernobyl reisen, wo ich in hoch verstrahlten Gebieten Blattwanzen sammelte und noch vor Ort malte. Meine Funde und das Schicksal der betroffenen Bevölkerung erschütterten mich sehr und machten mich immer kritischer gegenüber der etablierten Wissenschaft.

Die Dissertation des Zoologen gedieh. Er gab mir entsetzlich missgebildete Wanzen aus dem Areal des Paul Scherrer Instituts oder aus der Umgebung der Schweizer Atomkraftwerke, um sie zu malen. In seiner ersten Publikation behauptete er jedoch, dass die gefundenen Missbildungen nichts mit der Radioaktivität aus den Atomkraftwerken zu tun hätten. Der Präsident der Eidgenössischen Hochschule forderte mich auf, meine Niederlage anzuerkennen.

Ich bin dankbar, dass man versucht hatte, mich einzuschüchtern und stumm zu machen, denn so blieb ich an der Sache.

Ich beschloss, wieder von Vorne anzufangen, und begann eine umfangreiche Studie an 40 Standorten im Schweizer Kanton Aargau, wo vier Atomkraftwerke und das Paul Scherrer Institut in Betrieb sind. An allen Standorten untersuchte ich 65 Blattwanzen. Ich lernte die Sprache der Missbildungen zu entziffern und einzeln darzustellen. Dazu gehörten auch geografische Karten, Aquarelle der geschädigten Blattwanzen, Fotos, Texte, Protokolle.

Meine Forschungsreisen führten mich auch nach Three Mile Island (USA), in das Atomtest Gebiet Nevada (USA) und nach Hanford (USA), wo die alten Atomfabriken stehen, sowie nach La Hague in Frankreich, wohin wir unseren Atommüll zur Aufbereitung schicken, und zu den deutschen Atomkraftwerken Krümmel, Stade und Gundremmingen.

Diese Reisen, ja meine ganze Arbeit finanzierte ich selbst, durch Dessins, die ich während 15 Jahren für einen Zürcher Seidenfabrikanten malen konnte. Die Seidenstoffe waren ein großer Erfolg, an dem ich auch viel Spaß hatte.

Ich bin dankbar für diese Möglichkeit der Eigenfinanzierung. Sie gab mir Freiheit des Denkens, Malens und Publizierens.

Ich wurde zu Konferenzen und Seminaren eingeladen, und lernte mit der Zeit fast alle dissidenten Wissenschaftler kennen. Ich begriff, dass ihre Forschungsergebnisse von den wichtigen Wissenschaftsmagazinen abgelehnt wurden. Was ich zu hören bekam, erschütterte mich in meinem Glauben an die objektive Wissenschaft. Es wurde mir klar, dass die Frage der so genannten «niederen Strahlendosen» zentral wichtig ist, weil viele Menschen in «niedrig» bestrahlten Gebieten leben und ‒ sehr krank sind. Ihre Krankheiten werden aber nicht anerkannt. Man sagt, sie würden unter Strahlenphobie, eine Art Hysterie, leiden, ausgelöst durch die Angst vor radioaktiver Strahlung. Die dissidenten Wissenschaftler beweisen jedoch seit Jahren, dass die Strahlung Ursache verschiedener Symptome ist ‒ vergebens.

Unsere Ministerien für Gesundheit, die Ämter für Strahlenschutz, welche die Bevölkerung vor Strahlung schützen sollten, tun das genaue Gegenteil. Sie unterstützen oder erarbeiten selbst Studien, in denen statistisch bewiesen wird, wie unschädlich diese Strahlungen sind. Wenn man ihre Berichte etwas genauer unter die Lupe nimmt, vergeht man fast vor Wut, weil sie immer wieder einen cleveren Weg der Vertuschung finden.

Ich bin nicht dankbar, dass das Leiden der Menschen keine Anerkennung findet.

Die Opfer von Tschernobyl erhalten kein Gehör, und schon gar nicht die Opfer der französischen Atombombenversuche in Algerien oder im Pazifik. Nichts ist zu hören von den Leuten, die durch die US-amerikanischen Atombombenversuche krank wurden. Ihr Leiden wurde nie anerkannt. Wir wissen auch nichts über die damals schwangeren Frauen, denen man an US-amerikanischen Universitätsspitälern radioaktiv verseuchten Orangensaft gegeben hatte, um zu sehen, ob ihre Kinder missgebildet sein würden und wann sie an Krebs erkrankten. Auch von den stillenden Müttern, die radioaktiven Orangensaft erhielten, wissen wir nichts, und auch nicht, wie es ihren Kindern erging. Von den Gefangenen, die ohne ihr Wissen verstrahlt wurden, haben wir kaum Berichte. Leute, die in Uranminen arbeiten oder in deren Nähe leben müssen und oft krank sind und deren Wasser verseucht ist, sind uns egal.

Wir wissen aber, dass es erlaubt ist, Beton und Eisen aus verstrahltem Abfall zu verdünnen und damit Kindergärten zu bauen oder Zahnspangen herzustellen. Auf der Homepage der WHO erfahren wir, dass angereicherte Uranbomben nur begrenzt gefährlich seien, dass man höchstens Kleinkinder, die Erde essen (es gibt dazu ein Foto eines Kindes, dessen Mund verschmiert ist) oder auf dem Boden spielen, beobachten sollte. Wie es den Kindern im Kosovo oder im Irak geht, Opfer der angereicherten Uranbomben, spielt keine Rolle. Schon gar nicht interessieren uns Leute mit dem so genannten «Gulf War Syndrom» ‒ das sind sicher alles Simulanten. Menschen, denen während des Unfalls von Three Mile Island die Haut verbrannte, Haare und Zähne ausfielen, müssen beweisen, dass ihre Leiden mit dem Unfall zusammenhängen. Da ihnen aber nur dissidente Wissenschaftler zur Verfügung stehen, deren Arbeiten in der Welt der etablierten Wissenschaft keine Beweiskraft haben, wird ihr Wunsch nach Anerkennung ihres Leidens vom Gericht abgeschmettert. Dasselbe erfahren die deutschen Kläger, wenn sie sich dagegen wehren, dass man in der Nähe ihrer Dörfer atomare Zwischenlager baut, in welchen die noch heißen Castoren gelagert werden sollen.

Sind wir doch dankbar, dass das Volk so dumm ist und den Experten Handlungsfreiheit gibt.

Das gemeine Volk versteht nichts von wissenschaftlichen Daten und Statistiken. Es soll schweigen und das Regieren denen überlassen, die etwas von der Sache verstehen.

Ich wäre dankbar, wenn dies aufhörte. Wenn wir eine Wissenschaft hätten, die dem Menschen dient. Wenn wir Leute, die aufklären, nicht bestrafen würden, sondern ihnen ein Forum schaffen könnten, ihnen zuhörten. Ich wäre sehr dankbar, wenn wir das Leiden von unzähligen Menschen ernst nähmen und ihnen die Möglichkeit gäben, politisch Einfluss zu nehmen, statt ihre Argumente sofort mit wissenschaftlichen Floskeln abzuschmettern. Ich wäre dankbar, wenn wir die Ängste der Kinder und Erwachsenen ernst nähmen, wenn wir uns zusammen und ohne Furcht für eine lebenswerte Welt einsetzten, um darin einen Sinn für unser Leben zu finden.

Ja, dafür wäre ich sehr dankbar.

 

[1] Cornelia Hesse-Honegger: wissenskunst.chwissenskunst.ch

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 221-228
© Cornelia Hesse-Honegger (2006)

Cornelia Hesse-Honegger, *1944 in Zürich, ausgebildet als naturwissenschaftliche Zeichnerin, arbeitete sie anfänglich in wissenschaftlichen Laboratorien und zeichnete im Auftrag von Zoologen Drosophila-Fliegen, die durch Gift oder durch Strahlungsexperimente genetisch verändert worden waren. 1968 begann sie Insekten zu sammeln, zu zeichnen und mit Aquarell zu malen. Mit ihren Bildern von geschädigten Wanzen aus der Umgebung von Atomanlagen, die sie seit dem Unfall von Tschernobyl 1986 sammelt, untersucht und malt, macht sie sichtbar, wie unsere Natur durch unser Tun bedroht ist. Ihre akribischen Naturstudien lösten international Aufsehen aus und entfachten heftige Diskussionen. Internationale Ausstellungen. Auftrag für die Herstellung von Schulmaterial im Kunstunterricht für die Mittelstufe.

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