Von Bert Hellinger

Gibt es eine Gotteserfahrung? Oder, vielleicht etwas genauer: Inwieweit gibt es eine Gotteserfahrung?

Die erste und grundlegende Erfahrung für uns überhaupt ist die Lebenserfahrung. Alle Erfahrung ist im Grunde Lebenserfahrung. Daher wäre auch jede Gotteserfahrung zuerst und vielleicht nur eine Lebenserfahrung. Auch jede Seinserfahrung ist für uns eine Lebenserfahrung. Zwar können wir uns das Sein auch außerhalb von uns vorstellen, genauso wie wir uns auch Gott außerhalb von uns vorstellen können. Aber erfahren können wir das Sein nur als Lebenserfahrung ‒ und ebenso Gott.

Gilt dies auch umgekehrt, sodass jede Lebenserfahrung zugleich eine Gotteserfahrung wäre? Diesem Gedanken steht etwas entgegen: das Bild von Gottes Vollkommenheit. Denn in dem Augenblick schließen wir bestimmte Lebenserfahrungen von der Gotteserfahrung aus. Zum Beispiel das Böse und die Schuld. Auch auf andere Weise erfahren wir das Leben als unvollkommen. Weil es in Bewegung ist. Denn das Vollkommene ist an ein Ende gekommen. Alles, was sich bewegt, ist unvollkommen, sonst bräuchte es sich nicht mehr bewegen. Genauso verhält es sich mit dem Schöpferischen. Beim Vollkommenen hört auch das Schöpferische auf. Denn das Schöpferische setzt etwas Unvollendetes und etwas Unvollkommenes voraus.

Wenn wir daher in unserem Leben etwas Göttliches erfahren, kann es nur etwas unvollkommenes Göttliches sein. Unsere Gotteserfahrung wäre daher in mehrfacher Weise eine unvollkommene Gotteserfahrung. Einmal, weil unser Leben und jede Lebenserfahrung in Bewegung und von daher unvollkommen ist, aber auch, weil das Göttliche, das wir in unserem Leben zu erfahren meinen, als etwas Schöpferisches nur als unvollkommen und unvollendet erfahren werden kann.

Wozu diese Gedanken? Sagen sie wirklich etwas über das Göttliche und seine Erfahrbarkeit in unserem Leben aus? Diesen Gedanken liegen begrenzte Vorstellungen zugrunde. Daher liegt es mir auch fern, sie zu behaupten. Denn vielleicht offenbart sich das Göttliche wirklich so nah, wie wir es manchmal zu erfahren meinen. Wie immer wir uns das Göttliche auch vorstellen: Kann es außerhalb von etwas Seiendem und Lebendigem sein? Kann es außerhalb unserer Lebenserfahrung sein?

Wir erfahren unser Leben unterschiedlich: anders im Körper, anders in der Seele und anders im Geist. Zwar sind Körper, Seele und Geist für uns untrennbar miteinander verbunden, aber die Körpererfahrung ist eine andere als die Seelenerfahrung, und die Geisteserfahrung ist eine andere als diese.

Die Gotteserfahrung als Lebenserfahrung zeigt sich sowohl im Leib, zum Beispiel bei einer an ein Wunder grenzenden Heilung, aber auch im Rausch der leidenschaftlichen Liebe und ihrem schöpferischen Ergebnis. Sie zeigt sich aber auch ‒ und hier ganz anders ‒ in der Seele, zum Beispiel als Freude an anderen Menschen und an der Schöpfung. Die geistige Gotteserfahrung ist noch einmal anders, vor allem, weil wir hinter allem Lebendigen und in allem, was lebt, etwas Geistiges erfahren, das ihm die Richtung gibt und seinen Sinn. Jede Lebensbewegung ist daher letztlich eine geistige Bewegung. Diese Bewegung erfasst auch unseren Geist. Wir können uns geistig dieser Bewegung überlassen, können gleichsam in ihr aufgehen und uns im Einklang mit ihr als von etwas Göttlichem getragen und geführt erfahren. Diese Bewegung ist eine Zuwendung zu allem, wie es ist, und kommt vielleicht einer Gotteserfahrung am nächsten.

Ist sie eine Gotteserfahrung, die eigentliche uns zugängliche Seinserfahrung? Vielleicht. Dennoch bleibt sie ‒ weil in Bewegung ‒ vorläufig und endlich und damit immer auch menschlich.

Gibt es darüber hinaus auch eine Erfahrung des göttlichen Seins ‒ oder sogar des göttlichen Nichtseins ‒, das über alles Sein hinausreicht? Wir wissen es nicht. Können wir so etwas überhaupt denken und dürfen wir das? Könnte jemand nach einer solchen Erfahrung noch leben?

Nur die begrenzte Gotteserfahrung ‒ wobei für mich hinter dem Wort Gott immer eine Angst mitschwingt, die mich zittern lässt ‒ also, nur die begrenzte Gotteserfahrung im oben beschriebenen Sinn ist Lebenserfahrung. Sie wird im Leben und durch das Leben erfahren. Und sie dient dem Leben. Lebt dann Gott unser Leben, wie Rilke uns sagt? Dürfen wir das sagen?

Wenn wir uns auf diese Weise der Gotteserfahrung stellen, was heißt dann für uns das Danken? Danken ist Da-Sein vor Gott, wie immer er sich vielleicht zeigt und auch verbirgt. Gotteserfahrung ist zutiefst Andacht, ohne Worte, nur vor etwas Unbegreiflichem da sein.

 


Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 198-200
© Bert Hellinger (2006)

Bert Hellinger, *15. Dezember 1925 in Leimen;19. September 2019 in Bischofswiesen, hat Philosophie, Theologie und Pädagogik studiert und arbeitete 16 ]ahre lang als Mitglied eines katholischen Missionsordens bei den Zulus in Südafrika. Danach wurde er Psychoanalytiker und entwickelte unter dem Einfluss der Gruppendynamik, der Primärtherapie der Transaktionsanalyse und verschiedener hypnotherapeutischer Verfahren die ihm eigene Form des Familien-Stellens, das heute weltweit Beachtung findet und in vielen unterschiedlichen Bereichen angewandt wird.

logo bibliothek

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.