Von Brigitte und Thomas Görnitz

Als ich, Thomas Görnitz, Bruder David das erste Mal begegnete, war ich mit Carl Friedrich v. Weizsäcker zu einer Tagung über «Geist und Natur»[1] in Hannover. Wir waren damals noch nicht lange aus der DDR heraus und ich konnte, als ich Bruder Davids Vortrag hörte, staunend erleben, was ich so lange vermisst hatte, gelebte geistige und wissenschaftliche Freiheit, Erkenntnis, die nicht von einer Doktrin, sondern von Offenheit gezeichnet war. Hier wurde nicht vom «Kampf antagonistischer Gegensätze» gesprochen, sondern aus der Weisheit heraus, dass sich manche Wahrheit nicht in das Korsett der klassischen Logik pressen lässt ‒ nicht einmal, wie ich heute weiß, in den exakten Naturwissenschaften oder der Mathematik. Das ist nun über 20 Jahre her.

Im September 2004 hatten meine Frau und ich die Freude, gemeinsam an der Cortona-Konferenz als Referenten aufzutreten und dort wiederum mit Bruder David zusammenzutreffen. Wir hatten über acht Tage lang die Möglichkeit, uns mit ihm, den Studenten und anderen Referenten zu unterhalten, zu lachen und am frühen Morgen auf dem Dachboden des ehemaligen Klosters den jungen Tag in fröhlichen Gruppentänzen zu begrüßen. Die morgendliche Sonne strahlte über die erwachende Landschaft der Toskana mit ihrem besonderen Licht und ein Gefühl großer Dankbarkeit für einen neuen wundervollen Tag konnte sich entfalten.

Wir kamen zum einen von der naturwissenschaftlichen und psychologischen Richtung und zum anderen von der religiösen, von der Meditation getragenen Seite, und suchten beide Eines: das Gewahrwerden und Erkennen der Schöpfung und ihrer Großartigkeit, die uns immer wieder staunen lässt.

Das unmittelbare ganzheitliche Erleben des Fühlens, Empfindens, Wahrnehmens und Reflektierens kann man nur schwer auf dem Papier vermitteln. Wir möchten aber zeigen, dass eine naturwissenschaftliche Theorie möglich ist, die in einer ganzheitlichen Weise die unbelebte und die belebte Natur, die kosmische und menschliche Evolution bis zum Bewusstsein umfassen kann.

Konzentration und Sammlung

Bruder David spricht über das Paradox von Konzentration und Sammlung, das den Weg zum Selbst und zu Gott begleitet. Diesem Paradox begegnen wir, wenn wir die unbelebte Natur erkennen wollen. Wir können nicht den äußeren Kosmos als Ganzen auf einmal erfassen. Wir müssen immer Teile aus dem Ganzen zumindest gedanklich heraustrennen, um uns dann auf diese Objekte konzentrieren zu können, sie zu betrachten und mit ihnen umzugehen. Dann werden wir auch die Kräfte beschreiben können, die zwischen diesen Objekten wirken.

Die Methode, die dabei die Physik verwendet, um Erkenntnisse zu gewinnen, ist diejenige der Abstraktion. Konkrete Einzelheiten werden als unwichtig angesehen. Damit erhält man viel «Gleiches». Auf diesem Wege war es möglich, wichtige und bedeutsame Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und immer exakter die Grundstrukturen der Natur zu enthüllen. Die Physik hat früher nicht nur viele Eigenschaften von Objekten ignoriert, sondern auch weitgehend die Beziehungen zwischen den Objekten. Dabei blieben von den Beziehungen, welche die Getrenntheit der Objekte aufheben können, lediglich Kräfte übrig. Kräfte lassen aber letztendlich die Objekte als solche getrennt und damit auch im Grunde unverändert. Dadurch ging der Physik das verloren, was das «Mehr als die Summe der Teile» bei einem Ganzen ausmacht. Ein Vorteil dabei ist, dass sich eine größere mathematische Exaktheit und scharfe Naturgesetze ergeben können.

Unsere Sinnesorgane arbeiten ebenfalls oft so, dass sie die äußere Welt in getrennte Objekte zerlegen ‒ so wie es die klassische Physik tut. Daher passt diese recht gut zu unserer äußeren Wahrnehmung. In der Evolution war es wichtig, sehr schnell wahrzunehmen und weniger wichtig, dabei sehr genau zu sein. Es genügte, schnell einen Baumstumpf von einem ruhenden Löwen unterscheiden zu lernen, also von vielen Einzelheiten absehen zu können und auch von den Beziehungen der Dinge untereinander. In der Wahrnehmung unseres innersten Selbst und im Umgang mit unseren Mitmenschen müssen wir jedoch genauer sein und vor allem auch Beziehungen miteinbeziehen.

Die immer exakteren Untersuchungen, die durch die Methoden der klassischen Physik möglich geworden sind, haben in den letzten hundert Jahren dazu geführt, dass sich eine neue, eine genauere Physik entwickelt hat, die Quantentheorie. In ihr wird ein Teil der Abstraktionen wieder zurückgenommen. Die Quantentheorie kann als derjenige Bereich der Physik angesehen werden, der die Beziehungsstruktur der Wirklichkeit erfasst ‒ die Beziehungen, durch die ein Ganzes mehr wird als lediglich die Summe seiner Teile. Quantenphysik kann geradezu charakterisiert werden als eine «Physik der Beziehungen». Jedoch waren und sind viele Physiker über sie nicht glücklich, steckt doch ein großes Machtpotenzial in der Wissenschaft, die auf der zerlegenden Weltsicht der klassischen Physik mit ihrer Abstraktion von Beziehungen beruht.

Alle Quantenerscheinungen werden durch die Quantenphysik beschrieben und diese zeigt aus Alltagssicht merkwürdige Eigenschaften. Dennoch können wir recht zutreffende Bilder für diese Erscheinungen finden. Wir werden solche Veranschaulichungen ‒ und das wird viele Menschen verblüffen ‒ viel eher in uns, in unseren Empfindungen, Gedanken und inneren Bildern finden als in der Außenwelt. Unsere Gedanken können präzise sein, sie können sich mit beliebiger Geschwindigkeit von einem Ort zum anderen versetzen. In unserem Unbewussten, zum Beispiel deutlich in Träumen, zeigt sich oft die Zeitlosigkeit, welche die Physik von Quantensystemen kennt, und auch Räume sind in ihnen nicht starr und fest wie in der Alltagswirklichkeit, sondern so, wie in der Quantentheorie beschrieben. Die Trauminhalte können schneller wechseln, als es jedes reale Kraftfeld erlauben würde, und während die Alltagsfakten eindeutig sind, können unsere Gefühle ambivalent und unsere Wünsche widersprüchlich sein. Alles dies ist in der klassischen Logik der alten Physik nicht zugelassen, aber solche Widersprüchlichkeiten gibt es in der «neuen Physik» ‒ und natürlich in der Wirklichkeit.

Beziehungen eröffnen Möglichkeiten, Objekte zu verändern. Daher kann man die Quantentheorie auch als eine «Physik der Möglichkeiten» charakterisieren. Mit dieser Kennzeichnung wird verdeutlicht, dass ein genaues Erfassen der Wirklichkeit über die bloßen Fakten hinauszugehen hat. Es zeigt sich, dass die Physik, wenn sie hinreichend genau und damit weniger abstrakt wird, an der «Realität des Möglichen» nicht vorbeigehen kann.

Wenn Bruder David über das Paradox von Konzentration und Sammlung spricht, so ist beides für ihn zugleich notwendig ‒ auch wenn es sich gegenseitig auszuschließen scheint. Eine gleiche Situation finden wir vor, wenn wir die Natur erkennen wollen. Wir Menschen können nicht allein mit Möglichkeiten leben, es gibt Fakten, denen wir uns immer wieder stellen müssen. Daher benötigen wir neben der Erfassung der Möglichkeiten ebenfalls die Erfassung der Fakten, d.h. beide Bereiche der Physik. Beiden Darstellungsweisen liegen unterschiedliche mathematische Strukturen zu Grunde, aber man kennt die Prozeduren, mit denen man jeweils den Übergang von einer zur anderen vollziehen kann. Die Notwendigkeit die beiden Strukturen für eine physikalische Beschreibung der Welt gleichzeitig zu verwenden, bezeichnen wir als die «Schichtenstruktur» der Wirklichkeit. Sie verdeutlicht das Zusammenwirken von klassischer und quantischer Physik, die jeweils unterschiedliche Notwendigkeiten der Naturerfassung verwirklichen. Die eine ermöglicht die Zerlegung der Wirklichkeit in getrennte Objekte, die andere zielt auf Vereinigung und korrigiert Verluste, die durch die Zerlegung bewirkt werden.

Heute können wir auch mit den Methoden der Naturwissenschaft staunend erkennen, dass selbst in der unbelebten Natur Beziehungen existieren, welche die scheinbare Getrenntheit der Wirklichkeit in einzelne Objekte aufheben und die es deshalb erlauben, etwas ineinander umzuwandeln, was unser Alltagsverstand streng trennt. Wenn jemand fragt, wie man sich dies vorstellen könne, so wird es darum gehen, die mathematischen Strukturen, mit denen diese physikalischen Phänomene beschrieben werden, in Bilder zu übertragen.

Einsteins Formel E = mc2 darf so in die Alltagssprache übersetzt werden, dass sie zeigt, dass Masse und Bewegung auf einem fundamentalen Niveau dasselbe sind. «Reine Bewegung» können wir uns schwer vorstellen, denn sie ist nicht «Bewegung von etwas», sondern «Bewegung an sich». Noch in der Romantik konnte man von «reiner Tätigkeit» sprechen und meinte damit ein Attribut des Göttlichen. Nachdem dann die klassische Physik ihren Siegeszug angetreten hatte, entschwand diese Vorstellung, um nun mit der Quantentheorie auf einem fundamentalen Niveau wiederzukehren.

Einsteins Formel einer Umwandlung von Bewegung in Materie und damit ihre Äquivalenz wird in den großen Beschleunigern am DESY oder CERN tagtäglich experimentell verwirklicht. Natürlich ist für unsere äußeren Sinne am ruhenden Stein nichts von der Bewegung zu bemerken, die er letztlich «ist». Aber in den raffinierten Experimenten der Physiker und vielleicht auch in der Klarheit der Meditation zeigt sich dieser verborgene Aspekt der Wirklichkeit. Je tiefer die Physik in die inneren Strukturen der Materie eindringt, umso mehr entschwindet dabei dasjenige, was wir uns gewöhnlich unter Materie vorstellen. Die Ruhemasse der Nukleonen (das sind die Teilchen, die die Atomkerne aufbauen) ist nur noch zu wenigen Promille mit der Ruhemasse der Quarks zu begründen, die oftmals als die ihnen zugrundeliegenden «Bausteine» bezeichnet werden. Der größte Teil der Protonenmasse muss als die Energie dieser Quarks verstanden werden, d.h. als deren Bewegung.

«Fülle und Nichts»[2]

Der Buchtitel von Bruder David zielt auf die meditative Erkenntnis, dass die Fülle der Wirklichkeit aus dem Nichts geschöpft werden, und dass in der Tiefe eine Wahrheit gefunden werden kann, in der beides eines wird. Vielleicht wird es manchen überraschen, dass eine ähnliche Einsicht der modernen Physik zugrunde liegt. In der Quantentheorie beinhaltet das Nichts, das dort als «Vakuum» bezeichnet wird, zugleich die Fülle aller möglichen Teilchen, die in der Realität verwirklicht werden könnten. Man kann aber noch viel weiter gehen und sogar zu einer naturwissenschaftlichen Beschreibung gelangen, die Mystiker und Philosophen als Einheit von Wissen und Sein beschrieben haben. Sie ermöglicht es, die Information einzubeziehen, und kann dann zeigen, dass sich Materie und Quanteninformation als äquivalent erweisen. Dabei trägt letztere allerdings noch keine konkrete Bedeutung, sodass es besser ist, für diese vorerst bedeutungsfrei gedachte Information einen neuen Begriff einzuführen: «Protyposis»[3] ist zu begreifen als etwas, dem sich eine Gestalt, eine Form, ja die übliche «Information» einprägen kann. Bereits das einfachste Elementarteilchen trägt eine ungeheure Menge an potentieller Information und es wird erklärlich, welche Fülle an Gestalten möglich ist und zur Realisierung drängt. Diese vorerst nur potenziell Bedeutung tragende Quanteninformation, die ihrem Wesen nach etwas Geistiges ist, erweist sich physikalisch gesehen als die Grundsubstanz des Universums. Aus ihr kann sich das gestalten, was wir in der Sprache der Physik als Energie oder als massebesitzende Teilchen bezeichnen. Hier trifft sich die Physik mit einer Aussage von Papst Benedikt XVI., der einmal die Frage formulierte: «... ob man den Geist und das Leben in seinen ansteigenden Formen nur als einen zufälligen Schimmel auf der Oberfläche des Materiellen (das heißt, des sich nicht selbst verstehenden Seienden) oder ob man ihn als das Ziel des Geschehens ansieht und damit umgekehrt die Materie als Vorgeschichte des Geistes betrachtet.» Er fuhr dann fort: «Trifft man die zweite Wahl, so ist damit klar, dass der Geist nicht ein Zufallsprodukt materieller Entwicklungen ist, sondern dass vielmehr die Materie ein Moment in der Geschichte des Geistes bedeutet.»

Kann es sein, dass das Geistige sowohl Ursprung als auch Ziel der kosmischen Entwicklung ist?

«Am Anfang war das Wort»

Wie können wir heute diesen Satz verstehen und interpretieren? Er kann jetzt mit ganz anderen Augen gesehen werden als vielleicht vor 70 oder 100 Jahren, denn die moderne Physik erlaubt es, einen völlig neuen Blickwinkel daraufhin einzunehmen. Heute muss man das «Nicht-Offensichtliche» nicht mehr von vornherein mit vorgeblich naturwissenschaftlichen Gründen ausschließen. Wir dürfen aus der Sicht der Naturwissenschaften staunend erkennen, dass das Geistige keine nebensächliche oder gar eine eigentlich inexistente Angelegenheit in der Welt bedeutet.

Mit der Protyposis ist uns eine naturwissenschaftliche Kategorie gegeben, die als etwas potenziell Geistiges verstanden werden muss. Wir dürfen sie als das Ursprüngliche in der kosmischen Evolution ansehen. Aus ihr formen sich die ersten Gestalten, die dann auch Energie und Masse besitzen. Es sind dies die Elementarteilchen und Atome, die sich ihrerseits zu Galaxien und Sternen zusammenschließen. In Letzteren entstehen die chemischen Elemente, die nach der Explosion der ersten Sterne erstmals das Material freigesetzt haben, aus denen sich, wie in unserem Sonnensystem, neben der Sonne auch Planeten bilden können. Auf manchen Planeten, zumindest auf der Erde, entwickelt sich Leben. Lebewesen schließlich können der Information eine Bedeutung geben. In diesem evolutionären Prozess wurde schließlich der Mensch mit einem reflektierenden Geist versehen. Mit diesem wiederum kann er die Schöpfung wahrnehmen und sie staunend betrachten, bewundern und an ihr teilhaben. Er kann erkennen, dass eine völlig neue naturwissenschaftliche Vorstellung von dem ermöglicht wird, was Materie ist, nämlich geformte, gestaltete Quanteninformation. Mit dieser Erkenntnis wird nicht nur eine Äquivalenz von Materie, Bewegung und Information begründet, welche die Einstein'sche Beziehung erweitert, sondern sie erlaubt es auch, das Bewusstsein aus naturwissenschaftlicher Sicht als Realität zu erfassen. Der erste Satz des Johannes-Evangeliums lautet vollständig: «Am Anfang war das Wort, und das Wort ward Fleisch.»

Es schien bisher undenkbar, einem solchen Satz außerhalb des Rahmens der Theologie einen Sinn geben zu können. Aber diese Aussage kann heute mit Hilfe der Theorie interpretiert werden, die Protyposis als fundamentale Substanz erkennt und einbezieht. Heute kann formuliert werden: Das Grundlegende ist etwas dem Geistigen Verwandtes und daraus formt sich die Materie. Genauso wenig, wie uns auf den ersten Blick der Stein zu erkennen gibt, dass er «reine Bewegung» ist, genauso wenig zeigt er sich uns auf den ersten Blick als so etwas wie «reine Quanteninformation». Um eine solche Aussage treffen zu können, ist es notwendig, die ganze Breite der naturwissenschaftlichen Kenntnisse zu verbinden, und Beziehungen zwischen der Kosmologie, den Schwarzen Löchern und der Quanteninformationstheorie herzustellen. Über diesen Weg können wir verstehen, wie sich aus Protyposis alle Formen der Materie entwickelt haben, und wie in der Schöpfung über die Entwicklung des Lebens schließlich im Menschen die Information frei wird, als Geist zu reflektieren und sich selbst zu erkennen. Quanteninformation, von der wir einen Spezialfall, nämlich unser Bewusstsein, unmittelbar und ohne jede Vermittlung kennen, kann somit einen naturwissenschaftlich bisher vollkommen unklaren Materiebegriff ausdeuten und als geformte oder gestaltete Quanteninformation erklären. Als Naturwissenschaftler sehen wir dann voller Bewunderung auf die Menschen, die ohne die Hilfsmittel der modernsten Wissenschaft solche Weisheiten erahnen konnten.

Die Selbstreflexion des Bewusstseins bedeutet, dass ein Teil von ihm fähig ist, das ganze Bewusstsein so zu erfassen, dass dabei nichts verloren geht, aber auch nichts ausgelassen wird. Während für eine reflexive Struktur, bei der der «Output» den «Input» beeinflussen kann, eine Nichtlinearität zu fordern ist, reicht für eine Selbstreflexion des Bewusstseins eine bloße Nichtlinearität nicht aus. Wenn das Denken über das Denken nachdenkt, geschieht die Reflexivität in ein und derselben Entität. Hierfür sind Strukturen der Quanteninformation notwendig, die über ihre potenzielle Unendlichkeit das mathematisch zu Fordernde bereitstellen können.

Wenn jemand von der Kraft der Gedanken oder gar von der des Gebetes spricht, so ist man zumeist der Meinung, dies könnte höchstens als Metapher verstanden werden und dass eine wissenschaftliche Sicht mit solchen Vorstellungen unvereinbar sei. Gewiss ist es das methodische Grundprinzip der Naturwissenschaften, das Transzendente prinzipiell nicht zu ihrem Untersuchungsgegenstand zu machen. Naturwissenschaft sollte vom Prinzip her auf wiederholbaren und intersubjektiv teilbaren Erfahrungen aufbauen. Daraus folgen ihre Stärken, aber natürlich auch ihre Beschränktheit. Während aber früher diese notwendige methodische Einschränkung als ein Beweis für die Nichtexistenz dessen angesehen wurde, wovon Religion spricht, sehen wir heute, dass wir mit solchen Behauptungen vorsichtiger werden müssen. Das, was vielen im Alltag so offensichtlich erscheint, erweist sich jetzt auch aus Sicht der Naturwissenschaft lediglich als die Oberfläche einer Wirklichkeit, die tiefere Zusammenhänge kennt. Unter dem Offensichtlichen ist eine Dynamik verwoben, die dem Leben näher ist als toten Mechanismen, eine Dynamik, in der Zusammenhänge eine Rolle spielen, welche die klassische Physik nicht kennt.

Werden und Vergehen

Eine besonders schwierige Frage betrifft die in den Religionen vorhandene Erwartung, dass nach dem leiblichen Tode nicht «alles zu Ende ist». Heute kann man sich in einer vorsichtigen Weise ein Bild dazu machen ‒ ein Bild, das zuvor aus naturwissenschaftlicher Sicht völlig unmöglich gewesen wäre. Natürlich bleiben mehr Fragen offen, als beantwortet werden können, und die Versuche von Antworten fordern neue Fragen heraus, aber dennoch kann eine neue Bewertung versucht werden.

Zwei Gesichtspunkte tauchen dazu auf, über die man weiter nachdenken und meditieren kann. Zum einen dürfen wir aus den uns gegenwärtig bekannten physikalischen Gesetzen schließen, dass nichts von der Protyposis, die nicht nur unseren Leib, sondern auch unser Bewusstsein und unser Unbewusstes konstituiert, im Kosmos oder aus ihm verloren gehen kann.

Ohne eine Verbindung zu einem lebendigen Körper können wir uns zwar kein Erleben vorstellen, aber Beziehungen zu vielen Erscheinungen der mystischen Erfahrung bieten sich an, wenn wir daran denken, dass Information, die nicht an einen energetischen oder materiellen Träger gebunden ist, dann zeit- und raumüberbrückend wird. Der andere Aspekt besteht darin, dass die Quantentheorie im Grunde ‒ nämlich dann, wenn man sie als universell gültig und nicht als eine sehr gute, aber letztlich nur näherungsweise zutreffende Theorie über die Welt betrachtet ‒ lediglich einen einzigen Gegenstand kennt, nämlich den Kosmos als ein Ganzes. Damit aber wäre die reguläre Zeitstruktur von Vergangenheit Gegenwart und Zukunft hinfällig, denn das gesamte kosmische Geschehen würde aus der Sicht einer solchen erschöpfenden Theorie wie eine umfassende andauernde Gegenwart erscheinen, in der alles möglich ist und möglich bleibt, weil das Entstehen von Fakten an einen unwiederbringlichen Verlust von Information gekoppelt ist und aus dem Kosmos aber nichts verloren gehen kann. Wir erkennen, dass wir in der Naturwissenschaft zwar mit der Erfahrung und damit mit einer realen Zeitstruktur beginnen, zugleich aber unsere Theorien diesen Rahmen sprengen.

Hier stellt sich eine Frage, die nicht mehr mit den Mitteln der Naturwissenschaft beantwortet werden kann. Kann es sein, dass unsere Theorien möglicherweise etwas von dem erfassen können, was über die Erfahrung und damit auch über die Zeit hinausweist? Logisches Argumentieren kann hierbei nicht mehr weiterhelfen, leichter ergeben sich Beziehungen zu meditativen und religiösen Einsichten.

Dass es heute überhaupt möglich ist, solche tiefgründigen Fragen auch aus der Naturwissenschaft heraus zu stellen, zeigt aus unserer Sicht, dass die absolute Sprachlosigkeit zwischen einer religiösen und einer wissenschaftlichen Weltsicht, die so lange geherrscht hat, den Möglichkeiten eines offenen Dialoges weichen kann. Ein solcher Dialog sollte nicht hinter die intellektuellen Standards zurückfallen, welche die abendländische Theologie schon früh erreicht hat. Bereits im Mittelalter haben die Theologen darauf verwiesen, dass positive Aussagen über Gott nicht zutreffen können. Gott übersteigt alles menschenmöglich Vorstellbare, so dass wir mit der so genannten negativen Theologie lediglich sagen können, wie Gott nicht ist. Eine ähnliche Begrenzung der Logik greift die Zen-Tradition auf, wenn sie darauf verweist, dass die «Leere» und die «Fülle» dasselbe sind. Wir können staunen ‒ und dankbar sein, dass unsere naturphilosophischen Betrachtungen sich mit solchen Vorstellungen treffen und wir nicht nur auf der menschlichen und persönlichen Ebene, sondern auch in der Wissenschaft mit dem zusammengeführt werden, wofür Bruder David steht. Dessen großes Verdienst bleibt es, solche Erkenntnisse den Menschen deutlich zu machen, ohne dafür die Wissenschaft bemühen zu müssen.

Die Notwendigkeit von Sinn

Im Menschen wird zum ersten Mal in der Evolution der Geist frei. Der Mensch kann nicht nur die äußere Umwelt erkennen, sondern vor allem auch in den Beziehungen zu seinen Mitmenschen sich selbst entwickeln. Durch gegenseitige Anerkennung und vor allem durch die Liebe kann er zu dem werden, was ihn zu einem Ebenbild Gottes macht.

Das Selbstbewusstsein des Menschen macht ihn aber auch zu einem Wesen, das um die Gewissheit des eigenen Todes weiß. Daher ist der biologische Selbsterhaltungstrieb bei ihm nicht ausreichend. Der Mensch benötigt für sein Leben Sinn. Dieser Sinn kann nicht wirklich aus einem innerweltlichen Geschehen und damit aus etwas genauso Vergehendem bezogen werden, als das er sich in der Welt selbst wahrnehmen muss. Ohne Zugang zur Transzendenz bleibt als konsequente Denkweise dann lediglich der Nihilismus. So zieht der Nobelpreisträger für Physik Steven Weinberg in seinem Buch «Die ersten drei Minuten» den für ihn konsequenten Schluss: «Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch.» Eine Möglichkeit, damit umzugehen, stellt Weinberg vor, indem er fortfährt «Das Bestreben, das Universum zu verstehen, hebt das menschliche Leben ein wenig über eine Farce hinaus und verleiht ihm einen Hauch von tragischer Würde.»

Wie anders klingt das bei Bruder David: «Alles, was uns begegnet ist entweder greifbar / begreiflich oder es ist Nichts. ... Sinn ist das «Nichts, das ist». Sinn ist Nichts. Was fügt denn der Sinn dem Greifbar-Begreiflichen hinzu? Und doch ist dieses Nichts, das Sinn ist, für uns Menschen so viel wichtiger als alles Greifbar-Begreifliche zusammengenommen.»

Und zugleich sieht er auch: «Sinn wird gefunden, nicht durch harte Arbeit erworben. Er wird immer als reines Geschenk zuteil. Und dennoch müssen wir unserem Leben Sinn geben. Wie ist das möglich? ‒ Durch Dankbarkeit. Dankbarkeit ist die innere Haltung, durch die wir unserem Leben Sinn geben, indem wir das Leben als Geschenk empfangen»

 

[1] 21.-27. Mai 1988, siehe auch: Arbeit und Schweigen ‒ Handeln und Kontemplation im Buch: Geist und Natur: über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung (1989)

[2] Dankbarkeit: Das Herz allen Betens [Bisheriger Titel: Fülle und Nichts: Von innen her zum Leben erwachen] (2018)

[3] Wir danken Herrn Schüßler, Frankfurt und Jena, für den philologischen Hinweis auf griech. «typeo», «ich präge ein».




Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 209-220
© Brigitte und Thomas Görnitz (2006)

Brigitte Görnitz, *1942 in Leipzig, dort Studium der Veterinärmedizin, Promotion zum Dr. med. vet., Tätigkeit als Tierärztin, 1966 Heirat mit dem Physiker Thomas Görnitz, ab 1976 Ringen um Ausreise in die Bundesrepublik, seit 1979 in München, Erziehung der fünf Kinder. Ab 1990 Studium der Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, anschließend Ausbildung zur Psychoanalytikerin, Arbeit im Sozialpsychiatrischen Dienst, Workshops über Psychologie und Naturwissenschaft. Eigene Praxis in München.

Thomas Görnitz, *1943 in Leipzig, erster deutscher Preisträger bei einer internationalen Mathematikolympiade, Studium der Physik und Mathematik in Leipzig, dort Promotion in mathematischer Physik und Forschungstätigkeit an der Universität. 1976 Stellung eines Ausreiseantrages, danach Totengräber und Friedhofsarbeiter in Markranstädt bei Leipzig. 1979 Übersiedlung nach München und bis 1992 Arbeit bei und mit C. F. v. Weizsäcker über Grundfragen der Quantenphysik und Kosmologie. Ab 1992 tättg am Institut für mathematische Physik der TU Braunschweig, 1994 Ruf auf eine Professur für Didaktik der Physik an der J. W. Goethe Universität Frankfurt. Seit 1994 Vorsitzender der C.F. v. Weizsäcker Gesellschaft. 2003 Michael-und-Bizerka-Baum-Preis des Frankfurter Vereins für physikalische Grundlagenforschung und des FB Physik der Goethe Universität.

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