Von Tony Ettlin

September 2003, Cortona: In einem Workshop erklärt uns Bruder David die Regeln des Haiku: «Drei Zeilen, siebzehn Silben, fünf / sieben / fünf, ein kraftvolles Bild oder zwei Bilder, die miteinander eine Spannung erzeugen, keine Metaphern, kein überflüssiges Wort, solange es noch gekürzt werden kann, ist es noch nicht fertig, Rhythmus, Einfachheit, Gegenwart ... ‒ Aber das, was ein Haiku ausmacht, ist das Unerklärliche, der Zauber des Alltags.»

In dem Moment begreife ich, warum Bruder David diese Versform so sehr liebt. Ein gutes Haiku muss oder kann nicht erklärt werden. Es drückt die Schönheit eines Augenblicks in seiner ganzen Tiefe und geheimnisvollen Vielschichtigkeit aus, die Fülle des Lebens, die in den einfachen Dingen liegt, wenn man sie sieht. Ein Haiku drückt Staunen aus, Überraschung und Dankbarkeit. Was ist also besser geeignet, um in kurzer Form Bruder Davids Botschaft auszudrücken?

Wir lesen Haikus von großen Meistern, um zu erahnen, was das Unerklärliche, Geheimnisvolle daran ist:

Abendregen ‒
das Bananenblatt
erzählt davon zuerst.

Der See verliert sich im Regen,
der sich tief
im See verliert.

Aber auch neuere Haikus, die Alltägliches unserer technisierten Welt zum Inhalt haben, untersuchen wir:

Fabriksirene ‒
das Spiegelei
bleibt starrend zurück.

Ein leerer Lift
öffnet,
schließt.

Dann ist die Reihe an uns. Wir machen uns daran, eigene Haikus zu schreiben. Es ist schwieriger als erwartet. Die ersten Haikus sind entweder zu banal oder können noch gekürzt werden. Anderen fehlt die geheimnisvolle Spannung. Schließlich gelingt mir eines:

Ein weißes Blatt Papier.
Mein erster Pinselstrich
zerstört das Gemälde.

Der Haiku-Virus hat mich gepackt. Zuhause versuche ich mich immer wieder in der Kunst des Haiku-Schmiedens. Mal gelingt es, Mal bin ich nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Aber immer stärker spüre ich, dass die Haikus die Wahrnehmung für die kleinen Wunder des Alltags schärfen.

Das, was Bruder David als «Wachheit» beschreibt, fließt in die Haikus ein:

Morgensonne
scheint auf den Wecker.
Verschlafen!

Kantiger Stein.
Kreise erzählen
von seinem Sinken.

Was mich aber besonders reizt, sind die Situationen des Alltags. Wirtschaft, Geschäftssitzungen, Haushalt, Straßenverkehr. Das Staunen über. die alltäglichen kleinen Ungereimtheiten und Widersprüche. Die Poesie der unscheinbaren Zufälle. Darin ist oft der Witz versteckt, der Leichtigkeit in das Leben bringt.

Montagssitzung ‒
die Fliege findet endlich
das offene Fenster.

Börsenkurse ‒
Bergsilhouetten
enden im Tal.

Das Singen der Putzfrau.
Der Staubsauger
übernimmt die zweite Stimme.

Der Alltag überrascht mich manchmal mit Gegensätzen, die aufeinanderprallen, zwei Ereignisse, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben und doch einen unsichtbaren Zusammenhang erahnen lassen.

Tote Taube
auf dem Gehsteig
Kinderlachen im Garten.

Wolkenloser Himmel,
der Blitz
vom Radargerät.

Pferdwiehern im Winterwald
Schnee rieselt
auf den leeren Weg.

Verunsicherung kann ein Staunen auslösen. Die vermeintliche Sicherheit erweist sich als Illusion und macht einer neuen Realität Platz. Was im ersten Moment Angst macht, eröffnet neue Perspektiven und Sehnsüchte.

Bibliothek ‒
Was wollte ich
nur wissen?

Risse in der Eisdecke.
Den See im nächsten Sommer
überqueren.

Und oft ist der Alltag auch traurig. Abschiede erinnern mich an die Vergänglichkeit. Loslassen tut weh.

Klassenzusammenkunft.
Viele Stühle
bleiben leer.

Abendsonne auf dem Gletscher.
In der Hütte
ein Rucksack.

Gefällter Baum
Harz fließt
aus dem letzten Jahrring.

In diesen Momenten ist der erste Reflex, Trost und Halt bei anderen zu suchen. Ich werde aber immer wieder auf mich selbst zurückgeworfen. Das Glück, das ich da draußen suche, gibt es dort nicht. Ich kann es nur bei mir finden.

Echo einer Stimme
keine Felswand,
kein Rufender.

Mit dem Haiku habe ich eine Form entdeckt, die kleinen Dinge im Alltag zu sehen und das was dazwischen liegt. Ich nenne es «Haiku-Denken». Wenn ich in Haikus denke, erscheint jeder Moment voller Geheimnisse, die mich staunen lassen.




Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 165-168
© Tony Ettlin (2006)

Tony Ettlin, *1950, war zunächst Luftverkehrsangestellter bei der Swissair; dann zwei Jahre auf Weltreise; 13 Jahre in verschiedenen Funktionen in den Flughafendiensten; 1982-1986 Studium in Betriebs- und Organisationspsychologie am Institut für Angewandte Psychologie Zürich, seit 1987 selbständige Tätigkeit als Berater für Personal- und Organisationsentwicklung. Weiterbildungen in Organisationsentwicklung, Gestalttherapie, systemische Beratung. Mitbegründer des Projekts «Seitenwechsel» der Schweiz. Anbieter des Weiterbildungsprogramms «Buddhismus, Spiritualität und westliches Denken».

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