Von Hortense Reintjens-Anwari

Der persische Dichter Chaqani (12. Jh.) spricht von der «Rose der Dankbarkeit». Dankbarkeit hat den Stellenwert der Rose, dieser göttlich-schönen, vom Duft der Weisheit und Erkenntnis erfüllten Blume. Dankbarkeit ‒ eine Rose. «Eines Tages», so erzählt eine orientalische Geschichte, «saß ein trauriger Mensch am Rande eines Baches. Da trug das Wasser eine Rose heran. Eine Rose von weit her. Ringsherum war kein Rosenhain, war dürre Steppe. Der Anblick der Rose erheiterte das Herz des Traurigen für einen Augenblick. Doch dann sagte er sich: ‹Mal sehen, was der Bach noch Besseres als eine Rose bringen wird.› Gespannt blickte er lange auf das Wasser. Was kam, war ein Stück stinkender Mist. Verschwunden war die Rose.»

Dankbar, lieber, sehr verehrter Bruder David, bin ich für die Begegnung mit Ihnen. An unser erstes, tiefes Gespräch erinnere ich mich gerne, im Spätsommer 2003, unter den Rosenbögen im Klostergarten in Cortona. Martin Buber und Franz Rosenzweig waren unsere unsichtbar anwesenden Gesprächspartner. Zwischen uns war das «Ich und Du» in seiner hebräisch-biblischen Form. Dieses «Zwischen» ist bei jeglicher Begegnung mit Ihnen da. Ein «Zwischen», das ein wahres Du spürt, wenn ich Sie auch nicht aus Gründen der Distanz, sondern der Hochachtung, immer mit «Sie» anrede. Durchwoben vom Unsagbaren, vom Gesprochenen, vom verstehenden Schweigen ist diese Beziehung. Wenn ich Sie anschaue, ergeht es mir wie dem Jünger des ägyptischen Antonius. Er stellte seinem Abbas nie eine Frage: «Wenn ich Sie, Abbas, sehe, sind Sie mir die Antwort.»

Erzählen möchte ich Ihnen nicht über den, sondern von dem Orient, von meinen Erfahrungen mit seinen Menschen. Heute lade ich Sie in die arabischen Halbwüsten ein. Dort gibt es keine Bäche, wohl aber viele «Rosen». In dieser kargen Landschaft gewinnt jede Kreatur an Bedeutung. Für die Nomaden, die Beduinen, ist alles Geschöpfliche «Kreatur». Alles ist «beseelt», von den Himmelskörpern bis zum winzigen Sandkörnchen. Sie leben in, von und mit der Natur. Sie haben sich ihrer angenommen. Die Natur ist ein Geschenk in tausendfacher Gestalt, das sie sorgfältig in Dankbarkeit hüten. Die Achse ihrer nomadischen Existenz ist das Kamel. Sie nennen es «Gabe Gottes». Es soll den hundertsten, verborgenen Namen Gottes kennen und an Erkenntnis dem Menschen überlegen sein. In Jahrmillionen hat es sich so an sein Umfeld angepasst, dass es ein Überlebensphänomen, ein wahres Kunstwerk geworden ist. Hunderte von Bezeichnungen gibt es in der beduinischen Sprache, was die große Liebe zu diesem Tier verdeutlicht. Diese Liebe zeigt sich auch in ihrer Dichtkunst. Die Kamele kennen die Stimme ihrer Hirten, die mit ihrem Gesang den Tieren bei der Tränke, auf den Wanderungen oder beim Einsammeln, nachdem sie frei geweidet haben, Anweisungen geben. Die Hirten singen für ihre Kamele.

Kamele sind auch ein Synonym für junge Männer. Wie oft wird die Kraft oder die Schönheit eines Kamels besungen und so der Verehrung der Verliebten für einen jungen Mann Ausdruck verliehen. Auch identifiziert der unglücklich Verliebte sich mit diesem edlen Tier:

«Schmerz, mein Schmerz!
Ein Schmerz, wie der eines jungen, durstigen Kamels,
das sich um den Mund des Brunnens dreht.
Das Wasser aber ist tief unten,
und es gibt niemanden, es hoch zu holen.
O ihre Zäpfe, es sind wohl hundert,
den prächtigen Bändern reitender Kamele gleich.
O ihre Brüste, wie die Eier des Kiebitzes,
die im gelösten Haar ihren Geliebten wärmen.»

Reitkamele stehen uns für unsere Reise nicht zur Verfügung, wohl aber ein altes Fahrzeug. Wir fahren in die aquarellfarbene Gebirgswelt des Südsinai. Ein junger, mir bekannter Beduine namens Atteiya sitzt neben seiner Kamelin am Wegesrand. Er steht auf und begrüßt uns mit dem Friedenswunsch, dem er die arabischen Variationen für «einen guten Tag» hinzufügt. Einen Tag voller Licht, Jasminblüten, Honig und Sahne. Einen Tag voller Rosen. Wir erwidern seine Grüße. Die Kamelin schaut uns an. Sie heißt Derwisch. Wie im Gedicht bettelt sie mit ihren langen Lippen bei ihrem Besitzer um Zärtlichkeit. Derwisch wird gestreichelt und geküsst. «Gott sei gelobt», sagt der Beduine, «für diese Kamelin. Kamele sind eine Gnade Gottes. Sie tragen uns durch dieses Leben.» Wir fragen und erfahren Erstaunliches.

Kamele sind in der Lage, die Temperatur ihres Blutes der Außentemperatur anzupassen. Auch können sie über Nacht schon ihr Blut abkühlen, um den folgenden heißen Tag besser zu überstehen. Der Urinfluss ist bei großer Hitze nur tropfenweise, der Kot in kleinen Bällchen, alles um Austrocknung vorzubeugen. Ihre Nieren verarbeiten Salzwasser, weshalb sie auch Meereswasser schluckweise trinken können. Sie haben keine Hufe, sondern Schwielen, die kühlend und federnd wirken. Schaut die langen schlanken Beine! Sie sind Kühlmechanismen, die, ihrer Länge wegen, die Hitze der Erde heruntersetzen. Ihr Gehirn und ihr Auge ist kühler als der Rest. Vornehm, «cool» ist der Blick von Derwisch. Ihr Name sagt es: Sie ist ein Derwisch, der in geübter Gelassenheit das Leben betrachtet. Ihrer Kostbarkeit ist sie sich bewusst. Sie ist ein dankbares Geschenk an die Nomaden, eine Gabe Gottes.

Atteiya erzählt auf unser Fragen hin über sein Leben. «Als ich zwölf Jahre war, sagte ich meinem Vater, dass ich Arzt werden möchte. Unsere eigene Beduinenmedizin wird in diesen neuen Zeiten nicht mehr gepflegt wie früher. Im Krankenhaus im Nachbarort gibt es zu wenig Ärzte. Ich wollte meinen Stammesmitgliedern helfen. Mein Vater fuhr mit mir nach Kairo. Er sagte mir, dass ich dort die höhere Schule besuchen könne und danach an einer Universität Medizin studieren. Als wir einige Tage dort verbracht hatten, sehnte ich mich nach meiner Wüste. Alles, was ich in Kairo sah, hörte, roch, erschien mir hässlich und unerträglich. Was will man mehr, wenn man mit seiner Familie und in der Natur ist? Ich bin Gottlob ein Sohn der Wüste.»

Mit dem kargen Brot seiner Wüste ist er zufrieden. Der Reichtum dieser Beduinen besteht nicht im Haben, sondern im Sein. In ein Netzwerk von Familien eingebunden, sind sie weder einsam noch verlassen. Das ist ihr Fundament. Wenn sie auch kaum lesen und schreiben können, lesen sie aufmerksam das offenliegende Buch der Natur. Ihre äußeren und inneren Sinne sind geschärft. Achtsamkeit ist kein Thema. Achtsamkeit ist da. Wir verabschieden uns von Atteiya und Derwisch, und ziehen weiter.

Am Abend ist das Rote Meer unruhig. Weiße Schaumköpfe schaukeln meterhoch auf dunklen Wellen. In der Nacht ertönt ein dumpfes Brummen aus den Eingeweiden der Erde. Der Türrahmen des Zimmers knirscht und schaukelt wie ein Schiff im Sturm. Wir rennen aus den Steinhäusern hinaus. Wir warten, bis das Erdbeben vorübergeht. Frühmorgens besuchen wir ein kleines Beduinenlager. Die Frauen sind dabei, ihr Zelt wieder aufzubauen.«Sel-sel!» rufen sie lachend, was «Erdbeben» heißt. Das aus Ziegenhaar und Schafswolle gewebte Zelttuch ist heruntergefallen. Niemand ist verletzt. Im Nachbarort sind Steinhäuser eingestürzt und einige Menschen umgekommen. Wir sprechen unser Bedauern aus. «Kull-u min Allah, al-hamdu-lillah», das heißt «alles kommt von Gott, Lob und Dank sei Gott», ist der Kommentar.

Diese Redeweise ist keine bloße Formel. Sie ist gelebte Dankbarkeit für alles, was im Leben «gut» oder «schlimm» geschieht. Denn nur dieses Eine gilt: Gott ist der Herr über Leben und Tod, der Herr des Schicksals. In Seiner für den Menschen unbegreiflichen Weisheit und Barmherzigkeit verfügt Er über das, was ist. Ihm sei Dank und Lob. Hier zeigt sich die abrahamische Lebensweisheit, der ich in dieser Kultur ständig begegne. Sie ist Hingabe an Gott unter allen Umständen. Sie ist eine universalreligiöse Haltung, die über alles Konfessionelle hinausgeht. Sie ist Urvertrauen. Abraham stellt die Urverbindung zwischen dem EINEN und den Menschen wieder her. Im Koran trägt eine ganze Sure seinen Namen, in 25 anderen wird er erwähnt. Er ist der geistliche Stammvater und gehört zu den fünf großen Propheten. Die islamische Religion nennt sich auch die Religion des Ibrahim (Abraham).

Auf die Forderung, das Leben seines geliebten Sohnes herzugeben, antwortet Ibrahim nicht mit einem Wort, sondern mit einer Handlung. In ihr gipfelt sein Gottergebensein. «Opfere deinen Sohn, so wie lbrahim», mahnt der Dichter Sanai. Diese hebräische Abrahamerzählung ist ein durch Erfahrung gewonnenes, altsemitisches Kulturerbe. Sie ist eine Direktive, die im Kulturgedächtnis bis heute wirkt. Als Weisung für alle Menschenstämme zeigt sie im Sandsturm der Verzweiflung den Weg. Dieser Weg heißt: Lob und Dank sei Gott.

Scheich Suleiman des Beduinenstammes der Terabin, den ich über 14 Jahre kenne, begleitet uns jetzt in die vom Erdbeben erschütterte kleine Ortschaft. Wir schauen uns ein ehemaliges vierstöckiges Hotel an ‒ nun eine Ruine aus Stahl und Steinen. Der Anblick schmerzt. Ich werde ganz still. Ich muss sehr traurig ausgeschaut haben. Nach einer Weile spricht Scheich Suleiman: «Sei nicht bedrückt, wenn der Todesengel seinen Auftrag ausführt. Alles kommt von Gott. Leben und Tod. Al-hamdu-lillah!» Wie glaubwürdig seine Haltung ist, durfte ich vor einigen Jahren erfahren. Sein l4-jähriger Sohn starb an einer Herzkrankheit. Von seinen acht Kindern liebte und schätzte der Vater ihn ganz besonders. Oft sprach er über ihn. Er war der Sohn, der seinem Vater am besten bei der Arbeit helfen konnte. In diesem Alter sind die Jungen keine Kinder mehr, sondern Männer. Er war ein genuiner Beduine in Handeln und Sprechen nach alter Stammesehre. Einige Schulklassen hatte er besucht, sodass er lesen und schreiben konnte. Seine Höflichkeit, Zuverlässigkeit, hohe Intelligenz und sein ernster Blick zeichneten seine besondere Persönlichkeit aus. Kurz nach meiner Ankunft im Sinai erfuhr ich von seinem tragischen Tod. Als ich den Vater, Scheich Suleiman traf, war mir sehr schwer zumute. Wir begrüßten uns wie gewöhnlich. Ich sprach mein Beileid aus. Er senkte sein Haupt, das für einige Sekunden wie von einem Schatten verhüllt war. Dann blickte er auf: «Alles kommt von Gott. Er gibt, Er nimmt. Gepriesen ist Er. Lob und Dank sei Ihm.» Dies waren seine Worte. Keine anderen.

Für Beduinen, die Jahrtausende mit allen Härten ihrer Trockengebiete konfrontiert worden sind, ist der Tod so selbstverständlich wie das Leben. Den Tod nennen sie «blinde Kamelin, die vor jedem Zelt hinknien wird», «Adler, der sich auf seine Beute stürzt» oder das «Fallen wie ein trockenes Blatt». Diese Metaphern zeigen die Akzeptanz dieses natürlichen Faktes, wie heftig auch immer der Verlustschmerz sein mag. Diesem Schmerz verleihen sie Ausdruck im kurzen Trauerritual im Zelt und am Grab. Länger als ein Jahr soll nicht getrauert werden. Die «nefs», die Seele des Verstorbenen, soll nicht durch diesen Schmerz an die Erde gefesselt werden. Dieser Schmerz findet ein Ventil in ihrer Dichtung. Die Dichtung ist ihnen eine Ebene, auf der sie mit ihren Erfahrungen ungefiltert ins Gespräch kommen. Hören wir die Klage eines Beduinen über den Tod eines geliebten Freundes:

«Der Kummer der drei Kamelinnen,
die ihrer Neugeborenen beraubt wurden und versuchen,
die Fährte ihrer Jungen aufzunehmen,
die ihnen weggenommen, um getötet zu werden,
wobei das Schluchzen der einen im Seufzen der
beiden anderen widerhallt und es
den Schmerz aller betrübten Herzen schürt ...
ist nicht stärker als mein Kummer an dem Tag,
als die Nachricht vom Tode meines Freundes verkündet wurde.»

(Altarabische Dichtung 3. Jh.)

So leben und überleben sie. Sie sind Pragmatiker par excellence. Über Gott soll man nicht mit vielen Worten reden. Die Sonne braucht eben keine Kerze, um sie zu beleuchten, sagen sie. Gott IST. Das reicht. Er ist da. Immer da. Für dich da. Sie sprechen aus Erfahrung. Er ist da in allen Begebenheiten. In den glücklichen, fröhlichen, in den schmerzvollen. Sie sprechen Ihn oft an, einfach: «Ya Rabb!», was bedeutet: «Oh Herr!». Gott ist für sie der Mitgehende in allem. Sie sind unterwegs. Er zieht mit. Was der Mensch nicht weiß, weiß Er. Er weiß, wo das Schaf abhanden gekommen ist. Er weiß, wer der Dieb war. Dieses, Sein Wissen und ihr Vertrauen, erlebe ich in vielen Einzelheiten.

Wir, lieber Bruder David, ziehen weiter. Wir kommen im nächsten Beduinenlager an. Es gibt da nur wenige Zelte. Es ist Frühling. Viele Beduinen sind in die Berge gezogen, um die «Zeit der Fülle», nämlich die reiche Milchproduktion der Jungtiere wegen, zu genießen. Wir treffen auf einen jungen Beduinen namens Hussein aus dem Hochgebirge. Er sammelt Erzählungen und Märchen. Er ist traditionsbewusst, das zeigt auch seine Kleidung. Noch nie habe ich ihn anders als in der ursprünglichen Tracht gesehen. Ich frage ihn, was er vom heutigen Beduinenleben hält. Er schweigt nachdenklich. Er spricht: «Früher war das Leben hart, aber gut. Auf den langen Wanderungen kamen manche vor Durst um. Wenig war da. Heute ist mehr da. Das Leben ist nicht mehr so hart. Das Leben ist nicht mehr so gut.»

Eine alte Beduinin Selima, eine meiner Freundinnen, bringt aus der Wüstensteppe ihre Herde nach Hause. Die Begegnung ist sehr herzlich. Zwischen Selima und mir besteht, obwohl wir uns nur selten sehen können, eine warme Beziehung. Selima, barfuß und noch nach altbeduinischem Stil gekleidet und geschmückt, zeigt die typische Hagerkeit und feine Physiognomie dieser Wüstenbewohner auf. Vor einiger Zeit bat sie mich, ihr ein «Lalalala» mitzubringen. Damit war ein Miniradio gemeint, das sie gerne auf ihren Wanderungen mit dem Kleinvieh hören mochte. Bei meinem darauffolgenden Besuch erhielt sie es. Sie war außer sich vor Freude und gab mir ‒ ob ich wollte oder nicht ‒ vor Dankbarkeit ihr schönstes Kleid. Sie hätte doch eben zwei Kleider ...! Nun erhielt ich das Schönste. Weigern wäre ein Affront gewesen. Dankbarkeit weist man nicht ab, man nimmt sie an.

Jetzt frage ich Selima, ob sie viel Freude an ihrem «LaIalala» hat. Ihre scharfen Augen blicken mich tief an. Will sie mich auf ihre Antwort vorbereiten? Dann reibt sie die Innenflächen ihrer Hände als Zeichen für «aus und erledigt» aneinander. Ich frage, ob es kaputt sei. Nein. Es wurde gestohlen. Draußen, in der Wüste. Als sie bei den Ziegen und Schafen war. Wer? «Weiß nicht, Gott weiß.» Ja, das «Lalalala» war schön. Beduinenmusik aus «Saudia» (Saudiarabien). Sie lacht: «Sachen kommen, Sachen gehen. Ja, a1-hamdu-lillah, es ist gestohlen. Ja, Lob und Dank sei Gott, es ist eben gestohlen.» Ich schaue Sie an, Bruder David: Staunen Sie?

Unser «Fahrzeug» ist mit Geschenken beladen: Atteiya, Derwisch, Scheich Suleiman, Hussein, Selima. Viele andere konnten nicht erwähnt werden. Sie würden den Rahmen dieser Erzählung sprengen. Sie sind Geschenke erfahrener Dankbarkeit in einer Welt, die, weit weg, uns im Herzen doch sehr nahe ist. Die Lebenspraxis dieser Beduinen ist von Dankbarkeit erfüllt. So meistern sie ihre harte Existenz. Dankbarkeit ist die gelebte Antwort auf alle Fragen. Dankbarkeit ist der Schlüssel, der in jedes noch so schwierige Schloss passt. Dankbarkeit ist ihr Seinsfundament. Das Unausweichliche bekämpfen sie nicht. Sie nehmen es an, lassen es sein, lassen es Geschenk sein. Von wem kommt das Geschenk? Fragen Sie noch?

Diese Beduinen, Analphabeten genannt, verstehen das Alphabet des Lebens. Sie versetzen mich immer wieder in Staunen. Sie sind meine LehrerInnen. So erhielt ich bei meinem letzten Besuch eine persönliche Lektion. Ich sprach mein Bedauern aus, dass die goldene Zeit auf dem Sinai aus politischen Gründen vorbei sei. Wenige Teilnehmerlnnen würden sich für unser Seminar «Besinnung in der Wüste» am Roten Meer anmelden. Zur Zeit wären es nur fünf. Daraufhin blickte meine beste Beduinenfreundin Saideh mich erstaunt an. Sie zeigte wie eine Drohgebärde die fünf Finger ihrer Hand. Fünf, eine Hand voll! «Sei zufrieden und dankbar. Fünf sind dir geschickt worden, kull-u min Allah!» Diese Hand ist mir eine Warnung und ein Schutz geworden.

Unser Fahrzeug hat die arabische Wüste verlassen. Unsere Wege, lieber Bruder David, trennen sich. Sie gehen Ihren Weg. Ich den meinen. Was uns eint, ist unser «Zwischen». Ein «Zwischen» im Nun der geschenkten Beziehung. Es kennt weder Abstand noch Zeit. Es ist die «Zeit einer Rose». Es ist die Rosenzeit in einem Weltgarten voller Dornen. Sie, lieber Bruder David, zeigen uns, wie man diesen Garten mit Rosen schmücken kann. So ähnlich wie Maulana Rumi:

«Wenn jemand von einem anderen Gutes sagt,
wendet sich das Gute zu ihm zurück.
Es ist wie jemand, der um sein Haus
Rosenhag und Duftkräuter pflanzt.
Wann immer er hinsieht, erblickt er
Rosen und Duftkräuter und
ist ständig im Paradies.
Wenn du Tag und Nacht
Rosen, Rosengärten und die
Wiesen vom Paradies sehen kannst,
warum gehst du inmitten von
Dornbüschen und Schlangen umher?
Liebe alle, damit du immer unter
Rosen in einem Garten weilst!»

(Rumi, Persien 13. Jh.)

Dornen wie Rosen zu lieben ist Verwandlung, wie ein türkischer Dichter sagt:

«Ich glaubte, in der Welt sei mir kein Freund geblieben.
Sah keinen Rosenhag, sah überall nur Dornen.
Ich ließ mich selbst, und sieh, nun ist kein Feind geblieben.
Ganz Rosen ward die Welt ‒
Nun ist kein Dorn geblieben.»

(Niyazi Misri o.J.)

So überreiche ich Ihnen zu Ihrem Geburtstag eine Rose. Eine Rose der Dankbarkeit. In Ihrer Hand ist sie schöner noch als an dem Zweig.




Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 229-237
© Hortense Reintjens-Anwari (2006)

Hortense Reintjens-Anwari, Dr. phil., Dipl. theol., *1938 in Maastricht. Studium der Geschichte und Kulturanthropologie (Schwerpunkt: Vorderer und Mittlerer Orient), Ethnologie, Psychologie und lbero-Lateinamerikanische Geschichte und Theologie (Schwerpunkt: Philosophische Anthropologie). Langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Köln. Ab 1991 Leiterin ethnoreligiöser Seminare in Agypten /Sinai. Derzeit Forschung und Seminare auf dem Gebiet der interkulturellen Philosophie und Spiritualität.

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