Von Shams Anwari-Alhosseini

Ich war etwa vier Jahre alt, als eines Tages meine Eltern nach Syrien und in den Libanon reisten. Diese Reise hat einen tiefen Eindruck hinterlassen, denn sie war ein lebenslanger Gesprächsstoff. Sie brachten für alle Familienmitglieder Geschenke aus den Luxusgeschäften von Damaskus und Beirut mit. Nach meinem kindlichen Empfinden erhielt ich das zauberhafteste Geschenk: kirschrote Handschuhe aus feinem Nappaleder, mit Zobelpelz gefüttert. Die Größe war allerdings achteinhalb - also viel zu groß.

Oft probierte ich die Handschuhe an. Beide Hände passten in einen einzigen Handschuh. Meine Mutter tröstete mich dann: «Warte nur ab. Diese Handschuhe sind keine alltäglichen Gebrauchsgegenstände. Sie sind Kostbarkeiten, die deine Hände am Tage deiner Hochzeit schmücken werden.» Unsicher fragte ich sie, ob ich denn im Winter heiraten soll. Darauf wusste sie nicht zu antworten. Entschlossen meinte sie: «Du wirst sie tragen, wenn du ein Herr geworden bist.»

Jahrelang betete ich, demütig und auf Knien: «Gott, mach aus mir einen Herrn. Mach mich groß. Wenn Du mich nicht groß machen möchtest, mach meine Hände groß, damit mir die Handschuhe passen.» Jeden Frühling wurden die in einer großen Holztruhe verwahrten Kleidungsstücke gelüftet. Auch meine kirschroten Handschuhe kamen dabei zum Vorschein. Der Geruch der Mottenkugeln war mir, neben dem Parfüm meiner Mutter, ein paradiesischer Duft. Der Duft meiner Handschuhe! Vorsichtig holte ich die Kugeln ‒ wie Perlen ‒ aus dem Zobelfell heraus. Mit dem Pelzfutter strich ich über meine Wangen. Das war wie ein Trost.

Meine Hände blieben klein. Als ich in die Pubertät kam, traute ich mich nicht mehr, über die Handschuhe zu sprechen. Sie gehörten dem Traum meiner Kindheit an. Stolz verlor ich kein Wort mehr über sie. Am Tag meines Abiturs hüllte meine Mutter die Handschuhe in eine seidene Krawatte ein. Verschmitzt sagte sie: «Deine Handschuhe haben ein Krawattenkind geboren.» Entzückt zog ich die Handschuhe an: Jetzt passte eine Hand in einen einzigen Handschuh. Ich band die neue Krawatte um und machte mich auf den Weg ins Gymnasium, um das Abiturzeugnis abzuholen.

Mitschüler warfen mir einen Basketball zu. Spontan fing ich den nassen, schmutzigen Ball und warf ihn in den Korb. Wie schauten jetzt meine Handschuhe aus: wie von Lepra befallen! Der Traum meiner Kindheit war aus. Die Handschuhe wurden Vergangenheit, ein Symbol der Vergänglichkeit. Dankbar erinnere ich mich an ihren Zauber, ihre Wärme und ihr weiches Fell. Sie stehen für die Glückseligkeit und Geborgenheit meiner Kindheit.

«Dankbarkeit vermehrt,
Undank vertreibt die Gnade.»

(Rumi, Persien 13.Jh.)

Ich war sieben Jahre alt. Ich begann mit dem Lesen und Schreiben. Mein Vater ließ zu der Zeit im Süden von Teheran ein Gebäude errichten, das aus einer Mädchenschule und einem Wasserspeicher bestand. Es gab dort keine Wasserleitung. Sein großzügiges Unternehmen erntete auch Missgunst. Unbekannte Täter versuchten die Arbeit zu ruinieren. So bestellte er einen Kalligraphen, der diesen Weisheitsspruch wie ein Siegel auf der Stirnseite der Schule anbringen sollte: «Meide diejenigen, denen du Gutes getan hast.» Die kalligraphische Gestaltung des Spruches berührte und begeisterte mich dermaßen, dass die Kunst der Schönschrift wie ein Siegel auch auf meinem Herzen wurde.

Den Sinn des Spruches begriff ich jedoch nicht. Ich fragte meinen Vater, warum der Kalligraph nicht schreiben solle: «Wissen ist Macht.» Und warum, so fragte ich meinen weisen Vater, sollte man nicht etwas Gutes tun. Dankbarkeit sei doch angebracht. Mein Vater versuchte geduldig, mir zu erklären, dass das gute Tun eine Notwendigkeit sei, allerdings ohne jegliche Erwartung, ohne Hoffnung auf Lob. Dankbarkeit sei eine große Tugend. Dankbarkeit verknüpfe den Menschen mit Gott und die Menschen miteinander. Dankbarkeit sei in Demut, ohne Ich-Bezogenheit zu pflegen.

Die Erklärungen meines Vaters begriff ich nicht so recht. Als ich heranwuchs, las ich bei dem Dichter und Ethiker Sa'di aus Shiraz (Persien 13.]h.): «Tue etwas Gutes und wirf es in den Tigris. Gott gibt es dir in der Wüste wieder zurück.» Das begriff ich. Gott belohnt dich für deine gute Tat. Auf diesen Lohn darfst du hoffen. Der Lohn soll aber nicht der Grund deines Handelns sein. Die Erfahrung der Undankbarkeit spiegelt sich in einer deutschen Redensart wider: «Undank ist der Welten Lohn.» Ebenso in der chinesischen Weisheit: «Warum zürnst du mir, ich hab dir doch nicht etwas Gutes getan?!»

«Seitdem Deine Liebe mich sprechen lehrte,
werde ich dankbar von den Menschen geliebt!»

(Hafis, Persien 14.Jh.)

Die Einleitung zu dem Werk «Rosengarten» (Golestan) des Sa'di betrachte ich als eine hochragende Zypresse der Dankbarkeit. Schon im Kindergarten haben wir die nun folgende, gereimte Prosa schönster persischer Zunge, die mit unnachahmlicher Eleganz gesungen wird, auswendig gelernt. Goethe hat sie genial übertragen:

«lm Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich presst,
Und danke ihm, wenn er dich wieder entlässt!»

Aus dem Werk «Rosengarten» möchte ich noch eine Kurzgeschichte beifügen:

«Ein Dieb schlich sich in das Haus eines frommen Mannes ein. Er konnte aber nichts finden.
Der Fromme überließ ihm seine letzte Decke, in der er geschlafen hatte, damit er nicht enttäuscht mit leeren Händen fortginge.
Ich vernahm, dass die, die auf dem Pfad Gottes gehen, nicht
einmal die Herzen ihrer Feinde betrüben. Wie kannst du hoffen, eine würdige Stufe zu erreichen, wenn du sogar deine Freunde beschimpfst?»

«O Rose sei dankbar, da du Schönheitskönigin bist,
Übe keinen Hochmut bei der verliebten Nachtigall.»

(Hafis)

Große Dankbarkeit steckte im Gebet meines Vaters: «Gott, ich danke Dir für das, was Du mir gegeben und für das, was Du mir nicht gegeben hast.» Der Sinn dieser Danksagung war mir als Kind nicht klar. Meine Mutter verdeutlichte sie mir durch folgende Erzählung: Ein zum Tode Verurteilter wurde dem König vorgeführt. In seiner Verzweiflung wuchs er über sich hinaus und warf unter heftigen Schmähungen dem König Tyrannei vor. Vor Wut entbrannt stieg der König mit gezücktem Dolch von seinem Thron herunter, um den Gefangenen persönlich hinzurichten. In diesem Moment fiel eine tödlich giftige Schlange von der Decke auf die leere Stelle des Thrones hinunter. Bestürzt hielt der König inne. Der Gefangene hatte ihm das Leben gerettet. Der König begnadigte ihn. So steht im Koran: «Aber vielleicht verabscheut ihr ein Ding, das gut für euch ist, und vielleicht liebt ihr ein Ding, das schlecht für euch ist; Gott weiß, ihr aber wisset nicht» (Sure 2, Vers 216). Seitdem habe ich verstanden, dass ich einen Grund habe, mich für das Nichts zu bedanken. Ist das Nichts denn nicht alles? Was erwarten wir noch mehr?

«Wenn ich seine Augenbraue, die wie eine Gebetsnische ist, wiedersehe,
Werfe ich mich dankbar nieder, dankbar.»

(Hafis)

Als Junge hatte ich einen Meister, der mir die Kunst der Kalligraphie beibrachte. Dieser Kalligraph namens Sayyed Hossein Mirkhani liebte seinen einzigen Sohn Mortaza innig. Eines Tages erkrankte dieser Sohn und sein Gesundheitszustand wurde von Tag zu Tag schlechter. Mein Meister hatte keinen anderen Wunsch als die Genesung seines Sohnes. Auch seiner Familie war klar, dass er an nichts anderes mehr denken konnte. Er war dabei, sich in Gram zu verzweifeln. Doch dann geschah es. Er kam aus seinem Arbeitszimmer und betete laut: «Außer Dir, meinem Gott, will ich nichts mehr. Bald war ich dabei, Dich zu vergessen. Dein Wille möge geschehen.» Als am selben Tag sein Sohn Mortaza starb, hob mein Meister die Hände gen Himmel, lächelte mild und sprach wiederholt: «Gott sei Dank, Gott sei Dank!» Die Verwandten meinten, er sei verrückt geworden. Er aber sprach: «Dankbar bin ich Dir, meinem Freund. Du hast den Schleier zwischen Dir und mir zerrissen. Dank Deiner Gnade kann ich Dich nun wieder lieben.» Sagt nicht Hafis: «Zwischen den Liebenden und Geliebten ist keine Scheidewand. Der Schleier bist du selber, Hafis, erhebe dich!»

Mein Meister betete regelmäßig folgendermaßen: «Gott, ich danke Dir innig für die Fürsorge meines Vaters, für das Stillen meiner Mutter. Ich danke Dir für meine Erziehung durch meine Lehrer. Vergib mir und allen Verstorbenen, denen ich Dank schulde.» Dann zählte er demütig eine lange Liste auf und betete in tiefer Dankbarkeit.

Dankbar erinnere ich mich lieber Bruder David, wie Du uns am 11.09.2001, an dem Tag, als die Türme des World Trade Centers in New York zerstört wurden, in Cortona eine Stütze und ein Halt warst. Die über hundert Gäste der interdisziplinären Woche der ETH-Zürich, darunter etliche Amerikaner, waren entsetzt, bestürzt und außer sich. Die Wogen der Aufregung gingen hoch her. Da bist Du mit Deinem Wort, mit Deinem Schweigen vorgetreten. Du hast uns mit Weisheit beschwichtigt. Du hast uns mahnend getröstet. Meinen Dank brachte ich Dir damals in einem Schreiben zum Ausdruck:

«Ein Stern glänzte und ward der
Mond unserer Gesellschaft,
Er war ein vertrauter Freund
Unseres scheuen Herzens.»

(Hafis)

Dieser Stern waren Sie, Bruder David: ein David vor dem Goliath unserer Vorurteile und Ungerechtigkeit. Sie haben sehr viel ‒ vor allem nonverbal ‒ für Cortona getan. Sie haben unseren Geist zum Licht geführt. Dafür möchte ich Ihnen meinen Dank kundtun. Sie haben im Sinne unseres geliebten Jesu «Liebe deinen Feind» gehandelt. Erkennen und lieben wir uns etwa nicht mehr, wenn wir IHM lauschen würden?
Friede sei mit Ihnen!»

Schließen möchte ich lieber Bruder David, mit einem persischen Idiom, das Dankbarkeit leibhaft ausdrückt: «Mögen deine Hände nicht schmerzen.» Die Antwort darauf lautet: «Möge dein Kopf nicht schmerzen.» Orthopraxie und Orthodoxie, Handeln und Denken stehen in einem reziproken Verhältnis. Diese Reziprozität hast du als Bruder des Benedikt von Nursia Jahrzehnte lang gelebt. Möge sie in dir aufrecht erhalten bleiben. Zu deinem 80. Geburtstag sage ich dir: Mögen deine Hände nicht schmerzen!

(Übertragung der Poesie und Kalligraphien vom Verfasser)




Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 238-244
© Shams Anwari-Alhosseini (2006)

Shams Anwari-Alhosseini, Prof. Dr., *1937 in Teheran. 1956 Meisterprüfung als erster Kalligraph an der Akademie der Schönen Künste Teheran mit Berechtigung zur Lehrtätigkeit, und zweijährige Lehrtätigkeit für Mathematik in Teheran. 1958 Studien der Medizin, Orientalistik, Ethnologie und Musikwissenschaft an der Universität Köln. 1985 Promotion in Orientalistik, Ethnologie Medizin. Ab 1974 Dozent für persische Sprache und Literatur und islamische Kalligraphie an der Universität Köln. 1997 ordentliches Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaft und Künste. Zahlreiche Ausstellungen.

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