Von Robert Walter

Wir haben eine Redensart: «Much water has passed under the bridge.» / «Viel Wasser ist unter der Brücke durchgeflossen.» Und so ist es tatsächlich gekommen in meinem Leben, im wörtlichen und im übertragenen Sinn, und das alles im Lauf der letzten Wochen.

Kurz nachdem ich von dem Plan gehört hatte, ganz heimlich ein Buch herauszugeben, um Bruder David damit zu seinem 80. Geburtstag zu überraschen und zu feiern, war ich auf dem Weg in eine Art weltlichen Rückzugs nach Mazatlan an der Westküste von Mexiko, um meinem 60. Geburtstag einen Stempel aufzudrücken. Ich verbrachte etwas mehr als eine Woche mit mir selbst, ging am Strand spazieren und beobachtete jegliche Strandaktivitäten ‒ ich sah Menschen schwimmen und Muscheln sammeln, ich sah, wie tiefe Löcher gegraben und ausgeklügelte Sandschlösser gebaut wurden, jagte Silber und Stoffdecken hinterher und hölzernen Schnitzereien, frischen Früchten, Kaugummis und fast allem, was man sich denken kann, einschließlich der namenlosen Dinge, die sottovoce, mit verhaltener Stimme, angeboten wurden ‒ ,,Wanna get high?» ...

Ich ging durch die Straßen und schaute den Leuten zu. Ich bewegte mich in meinem ureigenen Rhythmus, einem Rhythmus ohne Verantwortlichkeiten, einem Rhythmus, den ich fast vergessen hatte in den letzten ungefähr 30 oder mehr Jahren.

Es war ein wundervolles Gehen vorwärts in die Vergangenheit, ein Abenteuer ‒ und währenddessen wurde mir immer mehr bewusst, wie gesegnet ich doch war durch Familie, Freunde, Gesundheit, Lebensunterhalt; wie zufrieden, nein, dankbar ich für die endlosen Möglichkeiten jedes neuen Tages sein konnte. Ich erkannte, dass Bruder David es war, der mir den Wortschatz gegeben hatte, um zu verstehen, was ich damals erfuhr (und auch jetzt erfahre), und dass ich in jedem Augenblick, in dem ich einen neuen Atemzug machte, meine Augen zu neuem Licht öffnete und einem angenehmen Refrain zuhörte. Ich erkannte, welche Ehre es bedeutete, etwas zu einem Buch beizutragen, das meinen lieben Bruder David ehren sollte. Ich erkannte aber auch, wie beklagenswert unzulänglich ich nur beschreiben konnte, was ich von ihm bekommen hatte, und dass alles nur ein schäbiger Abglanz werden konnte.

Ohne etwas aufs Papier gebracht zu haben, fuhr ich zurück nach Hause und warf mich in die Weihnachtsfestlichkeiten. Unsere Söhne Colin und CJ zeigten plötzlich ungewöhnliches Interesse an einer traditionellen Weihnachtsfeier. Außerdem hatte CJ, der vor einigen Wochen ein Frettchen adoptiert hatte, dieses einem lesbischen Paar überlassen, das er für «akzeptabel» erachtete. Er selbst hatte stattdessen, während meiner Abwesenheit ein schönes, junges, asiatisch-amerikanisches Mädchen aus seiner Englisch-Klasse «adoptiert», das von ihrem Freund «rausgeworfen» worden sei. Das Mädchen, so stellte sich heraus, hatte nie ein «echtes» Weihnachtsfest erlebt, also wünschte CJ, dass die diesjährige Feier ganz speziell würde. Wir alle richteten uns danach, tauschten einige wohlüberlegte Geschenke aus (nach einer Einkaufsjagd für unser neuestes temporäres Familienmitglied), hatten einen reizenden Tag und genossen eine feine Mahlzeit.

Nach dem Fest machte ich mich daran, all den Schreibkram für die Regierung zu erledigen, der vor Ende des Jahres abgegeben werden musste.

Und ich begann damit, mich auf die Worte für Bruder David zu konzentrieren.

Dann kam der Regen. Sintflutartiger Regen. Es regnete und regnete, ohne Ende. Über 30 Zentimeter Wasser fiel in den wenigen kurzen Tagen. Abhänge stürzten ein. Schlammgeschiebe überall. Der Bach, der mitten durch unsere kleine Stadt fließt, stieg so schnell, dass nichts getan werden konnte. Alles stand unter Wasser. Und als die Fluten zurückgingen, ließen sie überall mehr als einen halben Meter Schlamm zurück. Häuser und Wohnungen waren zerstört, so wie praktisch jedes Geschäft in der Stadt. Vorläufige Schadensberechnungen allein für unsere kleine Stadt beliefen sich auf 30 bis 40 Millionen Dollar.

Doch war in dieser Zeit am bemerkenswertesten, in welcher Weise die Nachbarn zusammenkamen, um sich zu helfen und die Folgen der Katastrophe zu lindern. Hunderte von Leuten, auch Mitglieder meiner Familie, verbrachten die letzten Tage meist im unablässigen Regen, schaufelten Schlamm, schleppten Waren aus beschädigten Läden und Haushaltseinrichtungen aus den Häusern, beseitigen Schutt und Trümmer und halfen beim Packen, Transportieren und Sichern von allem, was rettenswert war. Sie taten was auch immer erforderlich war, um gleich wieder neu anzufangen.

Inmitten unserer kollektiven Bergungsbemühungen entstanden in meinem Kopf die wenigen Worte, die ich hier niedergeschrieben habe. Soviel für jetzt. Statt weiter auszuschweifen und bevor noch mehr «(mündliches) Wasser unter dieser gewissen literarischen Brücke durchfließt», schicke ich diesen Beitrag.

Sit. Be still.
Watch the Sun.
Rise. Set. Rise.
Again. Then
Set. Rise. Set
Again. Now
Smile or cry.
Forget words.[1]

 

[1] sitz. sei still.
schau die sonne.
auf. ab. auf.
wieder. nun.
lach oder wein.
vergiss worte.



Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 182-184
© Robert Walter (2006)

Robert Walter, *1945, Herausgeber von Joseph Campbells Arbeiten. Nach dessen Tod gründete er die Joseph Campbell Gesellschaft und ist deren Präsident. Er lebt heute in San Anselmo, Kalifornien, als Dichter, schreibt Theaterstücke und hat etliche Dekaden Erfahrung als Gruppenleiter, Lehrer, Verleger und Theater-Produzent, -Direktor und -Gestalter.

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