Von Karl Mittlinger

Aus unerfindlichen Gründen bekam ich im bischöflichen Internat in Graz, das damals noch Knabenseminar hieß, die Nummer 266 als meine Wäschenummer zugeteilt, mit der meine Mutter, eine Kleinbäuerin, abends nach schwerem Tagewerk, alle meine Wäschestücke markieren musste.

Diese Nummer «verfolgt» mich seither. Vielleicht ist es eine unbewusst gesteigerte Aufmerksamkeit, die mich etwa beim Lesen gerade die Seite 266 bemerken lässt. Ein vor mir fahrendes Auto mit 266 im Kennzeichen fällt mir ebenso auf wie im Gesangbuch Gotteslob1 das Lied auf dieser Seite. Es ist zu meinem Lieblingslied im Gottesdienst geworden. Martin Rinckart, ein heute wenig bekannter evangelischer Theologe und Musiker, schrieb Nun nket alle Gott2 1630 aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der lutherischen Bekenntnisschrift.

Als 1648 der Dreißigjährige Krieg beendet wurde, standen auf den Feldern vor Olmütz in Mähren, wo das schwedische Heer seit acht Jahren lag, die Lagerweiber in verzweifelten Gruppen beisammen: «Ich bin im Krieg geboren, ich habe kein Zuhause, kein Vaterland und keine Freunde, der Krieg ist meine ganze Habe, und wohin soll ich jetzt gehen?»3 Aber in Olmütz selbst und überall in Deutschland flammten die Freudenfeuer auf, versammelten sich die Überlebenden in den ausgeraubten Kirchen zum Dankgesang: «Der ewigreiche Gott / woll uns in unserm Leben / ein immer fröhlich Herz / und edlen Frieden geben.»4 Von da an wurde es zu einem der bekanntesten Kirchenlieder, das nach den größten Nöten angestimmt wird.

Auch 1989 beim Fall der Berliner Mauer blies ein Trompeter die 1647 von Johann Crüger komponierte Melodie. In seltsamem Gegensatz zu den tatsächlichen Verhältnissen preist dieses Lied Gott, «der uns von Mutterleib / und Kindesbeinen an / unzählig viel zugut / bis hieher hat getan.»5 Es gehört zu unseren berührendsten Eigenheiten, aus dem Elend heraus die Augen zu erheben und damit die Blickrichtung zu verändern.

Es mag schon so etwas wie eine genetisch vererbte ‒ falls es das überhaupt gibt ‒ abendländische Eigenart sein, beim Betrachten der Schönheiten der Natur ganz unbewusst in einen stillen Dialog mit dem Schöpfer der Welt einzutreten. Auch wenn ich den Käfer als Käfer sehe und ihn bewundere, auch wenn ich seine Evolution zurückverfolgen kann, was ich nicht kann, es kommt der Moment, wo ich flüstere «mein Gott, wie schön ist Deine Welt». Mir ist klar, wieso: Ich stehe im Madrider Thyssen-Bornemisza Museum vor Caravaggios Hl. Katharina von Alexandria. Eine Reproduktion hat mich vor vielen Jahren fasziniert und ich habe das Original «unbedingt einmal sehen wollen». Ich erblicke wohl in dieser jungen Frau eine Animaseite meines Selbst. Ich stehe jedenfalls wie gebannt vor diesem unspektakulären Bild und es fallen mir die Legenden ein, der Disput mit den berühmtesten Philosophen ihrer Zeit, das Martyrium und das Katharinenkloster am Sinai, wohin Engel ihren Leichnam getragen haben sollen, und dabei schaue und schaue ich, längst sollte ich weitergehen, die Gruppe wird auf mich warten ... Wer war dieser Caravaggio? Wie kann ein Mensch so viel Licht in ein Bild zaubern? War er wirklich ein Mörder? Ich komme vom Bild unwillkürlich zu seinem Schöpfer.

Wie viel mehr erst bei den staunenswerten Ergebnissen einer aus dem Chaos hervorgehenden und in die Entropie hineinführenden, eigentlich un-sinnigen Anhäufung von Atomen, chemischen Verbindungen und Zellvermehrungen. Wenn Gidon Kremer die Partita Nr. 3 in E-Dur von Johann Sebastian Bach musiziert und ich in der Loure mehr als das Streichen von Saiten bestimmter Länge in einem vorgegebenen Rhythmus höre, wenn ein Glücksschwall mich überschwemmt, dann deshalb, weil ich erkenne, dass Gidon Kremer und (in diesem Fall) Johann Sebastian Bach so ineinander verwoben sind, dass der Schöpfer dieser Musik ohne seinen Interpreten und der Interpret ohne den Schöpfer des Musikstücks nicht denkbar sind.

Eines der erstaunlichsten Gebete ist die Vierte Wochentagspräfation (ein Teil des Hochgebetes der Eucharistiefeier). Es heißt darin: «Du bedarfst nicht unseres Lobes, es ist ein Geschenk deiner Gnade, dass wir dir danken. Unser Lobpreis kann deine Größe nicht mehren» doch uns bringt er Segen und Heil ...» Das klingt aufklärerisch, denn in den Menschen ist der uralte Gedanke verankert, dass die Gottheit durch Opfer in allen Facetten versöhnt werden muss. Eines davon ist das «Lobopfer» ‒ eine humanisierte Form wohl, aber immer noch schwingt der Grundgedanke des «do, ut des» («ich lobe dich, Gott / Göttin, damit du mir gnädig gesinnt bist …») mit.

In diesem Gebet ist diese Abhängigkeit voneinander aufgelöst. Gott wird nicht mehr instrumentalisiert, wie dies so oft geschehen ist und noch immer geschieht, als Krieger, als Rächer, als Wundertäter, als Lückenbüßer …

Der zweite Teil des Gebetes bringt aber noch einen anderen Gedanken ins Spiel: Wir erkennen damit an, dass wir Menschen sind, dass wir uns nicht in die Göttersphäre erheben. Es ist das Anerkennen unserer Begrenztheit und die gehört zu unserem Menschsein notwendig dazu. Gott spielt in einer anderen Liga, könnte man flapsig sagen. Martin Buber ist wohl richtig verstanden, wenn wir sagen, wir werden Menschen, weil Gott uns ein Spiegel ist, in dem wir uns erkennen können.

An den Bücherwänden entlang wandere ich und lasse meinen Blick über die Titel schweifen, über Schätze, die materiell wertlos wurden durch meine Unterstreichungen. Ich grüße meine Freundinnen und Freunde, die Prachtbibel mit den Meisterwerken mittelalterlicher Buchmalkunst, die anderen Lebensbücher, «Ulysses» und die «Odyssee», die «Metamorphosen», und bescheide mich, zähle nicht weiter auf. Ich sehe mich dabei wie im Kinderbuch «Komm, sagte die Katze» von Mira Lobe auf dem Baumstamm sitzen und sehe die Bücher im Hochwasser vorbeitreiben. «Du» sage ich, «du sollst nicht ungelesen untergehen und du auch nicht …» Aber ich kann sie nicht mitnehmen, die Bücher, nicht einmal die berühmten drei für einen Aufenthalt auf einer einsamen Insel werden mir gewährt werden, alle muss ich sie zurücklassen. Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde6.

Für die Menschen gilt das auch. Die unzähligen Begegnungen mit bedeutenden Menschen, die aufzuzählen nur Nahrung für die eigene Eitelkeit wäre, und die wenigen bedeutenden Begegnungen mit Menschen, die in keinem «Who's Who» verzeichnet sind, sie alle sind aufbewahrt im Herzen, wie es von der Frau aus Galiläa gesagt wird, die in einer mystischen Begegnung dem Göttlichen in ihrem Leib Raum gab zum Wachsen.

Dennoch, ein Datum muss erinnert werden. Sommer 1993, Bildungshaus Mariatrost, Graz: Bruder David sitzt in der Mitte des Vortragssaales, um ihn herum 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Eine Woche lang spricht er über das Vaterunser. Es ist der Höhepunkt der bald 60-jährigen Geschichte dieses katholischen Bildungshauses.

Eine Bergtour Ende Oktober, ein Spätherbsttag wie nur selten einer schön sein kann, junge Paare herzen sich am Gipfel. Unaufgefordert, weil auf Gipfeln zumeist wenig Platz ist, aber neidlos genieße ich ihre Freude mit. Wie viele Gipfel waren mir vergönnt in meinem Leben, so viel Glück nach beschwerlichen Aufstiegen.

Das Unerwartete, die Überraschung, das Erstaunen stellen wesentlich das Element des Schönen dar.7

Ich gehe mit unserem Enkel Simon, gute zwei Jahre alt, über den Hof in unsere Wohnung, auf die er sich immer besonders freut. «Großvater lieb», sagt er. Das «Großvater» klingt so etwa wie Holzhacker. Mich rührt diese innige Zuneigung fast zu Tränen, so frei geschenkt und absichtslos. Wie leicht fällt es mir, dankbar zu sein. Meine Gebete sind Herzen, die ein Kind seiner Mutter malt.

am morgen danach sie hatten den vater gewaschen angezogen die gebete gesprochen und den leichenwagen bis zur straße begleitet der ganze hof schwieg er nahm die verwaisten geräte wahr in seinen händen alt geworden die stummen gefährten seiner tage hundeaugen trauerumflort die katzen unbeteiligt ging er in den wald und klagte den bäumen seinen schmerz mein vater ist gestorben schrie er ihnen entgegen die sich ihrer harzigen tränen nicht schämen …

ich beginne die abschiede zusammenzuzählen auf die frage ob ich glücklich gewesen bin8

ich habe dich in mein herz geschrieben
mit einem alten tintenbleistift
den man von zeit zu zeit anfeuchten muss
meine hände meine finger kennen dich
können ausdrücken
was worte doch nur zerreden
unsere körper haben sich verschworen
sie lassenkeine lügen zu
9

Nur zaghaft und vorsichtig darf über eine Beziehung zu einem lieben vertrauten Menschen gesprochen werden. Sie ist so schnell zerredet und an die Öffentlichkeit gezerrt, der Zauber verliert sich. Eisblumen am Fenster brauchen Wärme im Zimmer und gleichzeitig Kälte draußen. Dankbarkeit für bald drei Dutzend gemeinsame Jahre zu empfinden, ist schon so etwas wie Besitz ergreifen, und der Versuch, daraus glückliche Jahre zu machen, könnte den Neid der Götter erwecken.

deine falten
meine gedächtnislücken
deine verlässlichkeit
meine gelassenheit
ich träume
an den stufen des tempels
umarmen wir
eichenhart und lindenweich
den himmel
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Gemeinsam zu sterben, wünschen sich Philemon und Baucis und die Götter erfüllen ihnen den Wunsch: Sich umarmend werden sie in Bäume verwandelt.11 Wie wunderschön ist eine kleine Begebenheit in dieser Erzählung: Die beiden Alten jagen, um die Gäste zu bedienen, der einzigen Gans nach, um sie für ein Essen zu schlachten. Die flinke Gans entwischt den bald Ermüdenden und flieht zu den Fremden, die sich als Götter offenbaren und die Gans vor dem Kochtopf retten.

Wandlung und Verwandlung ist das Thema, um das der römische Dichter um die Zeitenwende in 52 Sagen kreist. «Du ahnungsvoller Engel, du», möchte man ihm mit Goethe zurufen …

εὐχαριστεῖν (eucharistein) ist das griechische Wort für Dank sagen. Es ist jenes Wort, das die Christen für so bedeutend halten, dass sie das zentrale Mysterium des christlichen Glaubens damit benennen: Eucharistiefeier.

Der Priester hält Brot in seinen Händen und erzählt die heilige Geschichte, wie Jesus in der Nacht vor seinem Leiden ein Brot nahm, Dank sagte und es brach mit den Worten: «Nehmt und esst, das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.»

Vergangenheit und Gegenwart werden durch das Erzählen eins, Gott und Mensch sind verbunden im Essen des Brotes, das daran anschließt. Es ist ein mystisches Geschehen, mit dem Verstand ist da kein Zugang zu graben.

Dennoch: Der garstige Graben zwischen Gott und Mensch ist irgendwie überwunden. Damit ist ‒ für Christinnen und Christen ‒ eine Ursehnsucht der Menschheit in Erfüllung gegangen.

ein
kleines
Ioblied

sing
ich dir
doch

unter dem eis
überleben
die fische
12

Dieses kleine Gedicht ist das Zugeständnis eines Menschen, der sich mit unserer Urmutter Eva gegen das Erkenntnisverbot mit allen zur Verfügung stehenden Kräften wehrt. Gut und Böse zu erkennen ist der zentrale Impuls, die Suche nach der Wahrheit das Humanum schlechthin. Kein Gott kann dies verwehren und wenn der Engel mit dem Flammenschwert die Vertriebenen an der Heimkehr hindert, dann müssen sich alle mit dieser mutigen Frau solidarisieren und sich in Zelten vor dem Paradiesestor auf eine lange Belagerung einrichten. Frühling, Sommer und Herbst werden vergehen und der Winter wird alles ringsum in Frost und Eis erstarren lassen. Pischon, Gihon, Tigris und der Eufrat werden zufrieren. Hiob wird kommen und von seinem paradigmatischen Ringen mit dem Höchsten erzählen. Wieder wird das Frühjahr kommen, die Sonne wird Schnee und Eis schmelzen. Die totgeglaubten Fische werden aus dem Wasser nach den Mücken springen und spätestens dann wird die letzte und wichtigste Erkenntnis Platz greifen im Herzen jeder und jedes Belagernden: «Vom Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen; jetzt aber hat mein Auge dich geschaut. Darum widerrufe ich und atme auf, in Staub und Asche.» (Hiob 42,5f)

Doch es braucht keine wundersame Erklärung, die Anomalie des Wassers ist der hinreichende Grund, der aber zur Metapher wird für die letzte Erkenntnis: Nicht bis auf den Grund wird der Lebensquell vereisen und wären auch unsere Sünden rot wie Scharlach (nach Jes 1,18). Da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Hat Hiob nicht zu früh aufgegeben? Blitz und Donnerkeule, Tsunami und Erdbeben auf der einen Seite, ein kleines Kind in den Armen seiner Mutter auf der anderen. Es gilt, den ängstigenden Gottesbildern neue entgegenzuhalten.

«Ich will wecken, was sein könnte», schrieb mir der Dichter Albrecht Goes meinen Lebenssatz mit breiter Feder in ein Buch.

In mehreren Durchgängen habe ich eine Annäherung an den Begriff Dankbarkeit versucht. Abschließend sei doch die Herkunft des Wortes «Dank» vorgestellt.

DANK m. goth. thanks, ahd. Dank, mhd. danc, altsächs. thanc, altfries. angels. thanc thonc, engl. thank, niederl. dank, altnord. akir pl., schwed. dän. thack, gehört zu dem verlornen stamm dinke danc dunken, der eine thätigkeit des geistes, eine bewegung und erhebung der seele ausdrückt: dahin weisen alle davon abstammenden Wörter wie andacht, gedanke, bedünken.13

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1 1 Gotteslob, Kath. Gebet- und Gesangbuch der deutschsprachigen

2 Ebd.

3 C. V. Wedgwood, Der 3Ojährige Krieg.

4 Gotteslob.

5 Gotteslob.

6 Hermann Hesse, Stufen.

7 Charles Baudelaire.

8 Aus unveröffentl. Texten des Autors.

9 Ebd.

10 Aus unveröffentl. Texten des Autors.

11 Ovid, Metamorphosen.

12 Karl Mittlinger, unter dem eis überleben die fische, Styria, Graz, Wien Köln 1989.

13 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm.




Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 75-81
© Karl Mittlinger (2006)

Karl Mittllinger, Mag.Theol., *1947, Studium der Theologie in Graz und Innsbruck, Hochschullehrgang ftir Pastoralpsychologie. Seit 1971 in der Erwachsenenbildung, seit 1979 Direktor des Bildungshauses Graz-Mariatrost. Autor von Lyrik- und Kurzprosa.

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