Von Jörg Rasche

Eigentlich habe ich Hemmungen über Musik zu schreiben. Es ist nicht nur, weil Musik sich mit Worten kaum einholen lässt. Es ist auch ein Luxus oder mit Bertold Brecht gesagt «Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Musik fast ein Verbrechen ist, weil es das Schweigen über so viele Untaten einschließt?» Bruder David hat mich einmal einen Ungläubigen Thomas genannt, der seinen Finger immer in die Wunde Gottes legt. Das will ich heute nicht tun. Gott ist nicht verantwortlich für das, was die Menschen einander antun.

In seinem Gedicht nennt Enzensberger das «Wohltemperierte Klavier» zwischen den «Wolken» und den «warmen Winterstiefeln». Er spricht mir aus der Seele. Bachs Musik hat mir seit meiner Kindheit unzählige Male geholfen. Das Gewebe der kontrapunktischen Stimmen hat mich aufgenommen, wenn ich Bachs Musik spielte. Erst später habe ich dafür Worte finden können: So wie in einer Fuge Bachs alle Stimmen zählen, so zählte irgendwo auch meine kleine Stimme. Noch später sind Worte gekommen für den Anfang einer Fuge, bei dem zunächst das Thema erklingt, bis es von den anderen Stimmen aufgenommen wird: Einer geht voran, wir andern dürfen folgen.

Ich bin mir sicher, und ich sage es ohne Pathos: Das Bachspiel auf der Orgel hat mich gerettet, vor allem in der schwierigen Zeit der Pubertät und der Orientierungslosigkeit. «Das Wohltemperierte Klavier» aber, jene Sammlung von 24 Präludien und Fugen durch alle Tonarten, ist so etwas wie eine geistige Heimat geworden.

Bachs große Krise

Es ist wenig bekannt, dass «Das Wohltemperierte Klavier» selbst das Ergebnis einer großen Krise und einer Heilung ist. Es wurde 1722 geschrieben, als Bach noch Hofkapellmeister in Köthen war, einer kleinen Residenz in Sachsen.

Es war zunächst Bachs beste Zeit. Er hatte alle Möglichkeiten als Musiker, er hatte sich frei geschrieben, er schuf «Die Brandenburgischen Konzerte» und den ganzen Reichtum seiner Kammermusik. Er war glücklich mit seiner Frau Anna Barbara, seine begabten Kinder wuchsen heran, sie spielten ihn abends in den Schlaf.

Doch als Bach im Juli 1720 von einer Reise mit seinem Fürsten aus Karlsbad zurückkam, war seine Frau gestorben und schon beerdigt. Er erfuhr es, als er sein Haus betrat.

Ein Jahr später, im Dezember 1721, heiratete Bach seine zweite Frau Anna Magdalena. In jener Zeit fasste er den Entschluss, den Ort seines früheren Glücks und Unglücks zu verlassen und einen Neuanfang zu versuchen. Eine Bewerbung nach Hamburg brachte Anerkennung, aber keine Stelle. Ende 1722 nahmen die Bemühungen um die Thomaskantorei konkrete Formen an. 1723 zog die Familie um nach Leipzig.

Es war im Jahr der Not und des Umbruchs, dass Bach das «Wohltemperierte Klavier» schrieb. Er war plötzlich Witwer geworden, seine Kinder hatten ihre Mutter verloren. Wir haben kein Dokument für die Verzweiflung Bachs. Doch 1722 war das «Wohltemperierte Klavier fertig», mit den 24 Präludien und Fugen «durch alle Tona und Semitona», d.h. chromatisch ansteigend durch alle Dur- und Molltonarten. Alle Stücke sind von besonderer Individualität. Sie haben Schule gemacht für Jahrhunderte. Bach war damals 35 Jahre alt.

Das Werk wurde Ausdruck von Bachs Neuorientierung in der schwierigen Zeit. Es enthält Stücke von tiefer Trauer, aber auch von Gottvertrauen und sogar von gelöster Heiterkeit. In seiner Vielgestaltigkeit ist es am besten zu verstehen als ein Werk der Mystik: der Suche und Begegnung mit dem inneren Licht, der inneren Begegnung und Zwiesprache mit dem menschgewordenen Gott. Im tiefenpsychologischen Verständnis können wir von einer schöpferischen Neustrukturierung der Psyche sprechen, die Anschluss findet an ihren Kern, an das Selbst, das die individuelle Psyche mit der seelischen Ganzheit verbindet.

Ein therapeutisches Mandala

«Das Wohltemperierte Klavier» ist ein Zyklus mit einer inneren Ordnung. Es ist wie ein klingendes Mandala. Der Reichtum der unterschiedlichen Stücke ist nämlich eingebunden in eine strenge und doch phantasievolle Ordnung. Wenn ein Patient ein Mandala malt, dann folgt er dabei einem Grundmuster, das zum ältesten menschlichen Kulturgut gehört. In einer kreisförmigen Gestalt wird zunächst meist ein Kreuz eingezeichnet, durch das die Kreisfläche in vier Sektoren geteilt wird. Es gibt auch dreiteilige Mandalas, doch die vierteiligen sind die häufigsten. In den Tibetischen Mandalas haben wir eine hoch entwickelte Form der selben uralten Technik. Bachs Mandala entfaltet sich in der Zeit (als Musik, die man spielt und hört), folgt jedoch auch einer Art räumlichem Muster in der Kreisform der chromatisch aufsteigenden Tonarten. C.G. Jung hat gezeigt, wie in schwierigen seelischen Problemlagen mandalaartige Anordnungen spontan von der Psyche gesucht werden. In den verschiedenen Kulturen wurden sie auch rituell gestaltet, so in Indien, bei den Prärieindianern Nordamerikas, in den Grundrissen aztekischer oder chinesischer Tempel, oder auch in den christlichen Zentralkirchen der späten Antike oder der Renaissance.

Individuell gestaltete Mandalas erweitern den seelischen Lebensraum, indem sie es gestatten, auch seelische Problem- oder Schattenbereiche in die Ganzheit der Psyche aufzunehmen. Dadurch werden sie als heilsam erlebt. Sie sind Erfahrung und sie stiften einen neuen Sinn im Leben. Im gemalten Mandala werden die verschiedensten und auch die problematischen seelischen Anteile dargestellt und mit anderen verbunden. So ergibt sich ein Bild der seelischen Ganzheit ‒ nichts Schlimmes ist ausgeschlossen. Zu allen Aspekten, die einer in seinem Mandala darstellt, sagt er: Auch das bin ich.

Die Zähmung der Wölfe

Bach nennt sein klingendes Mandala «wohltemperiert». Das hat mit der Stimmung des Klavierinstruments zu tun. Schon vor Bach gab es Versuche, den musikalischen Raum auf dem Tasteninstrument vollständiger zu erschließen, als es vorher wegen der Stimmungsweise der Instrumente möglich war. Die alte «mitteltönige» Stimmung brachte eine Reihe gut spielbarer Tonarten und einige wenige, deren Dissonanzen es nicht erlaubten, sie zu benutzen. Sie «heulten wie die Wölfe im Wald». Die «wohltemperierte» Stimmung Bachs (die uns sein Schüler Kirnberger überliefert hat) erschloss demgegenüber alle Tonarten, die dabei (wegen der unterschiedlichen Schwebungsverhältnisse der Intervalle) einen individuellen Charakter erhielten. Die «Wölfe» konnten gezähmt, «temperiert» werden. Der große Gewinn bei Bachs Stimmung war, dass jede Tonart einen eigenen Charakter bekam ‒ die eine war strahlend und klar, die andere verschattet, eine dritte zärtlich, eine vierte schroff, eine fünfte leidend, eine sechste heiter und so fort. Das Spektrum der Gefühle, die in der Musik ausdrückbar wurden, war geradezu unendlich weit.

Die nun mögliche, musikalische Erschließung aller Tonarten der chromatischen Leiter macht den vollständigen Kreis der Tonarten erlebbar. Dieses Kreiserleben liegt der Mandalagestalt des «Wohltemperierten Claviers» zu Grunde. Im Inneren ist sie vielfältig gegliedert. Es gibt zum Beispiel die Zweiergruppen von Präludium und Fuge, insgesamt 24 Mal. Das Präludium führt meistens in einen bestimmten Ausdrucksbereich oder Komplex, der von der Fuge aufgenommen und durchgearbeitet wird. Der jeweilige Charakter der Stücke wird vom Charakter der Tonart geprägt und in die Motive und Themen übersetzt. Solche Zweiergruppen von Präludium und Fuge sind Bachs Spezialität, man kann fast sagen, er habe sie mit dem «Wohltemperierten Klavier» erfunden.

Bach als Mystiker

Eine weitere Polarität ist die von Dur- und Moll-Stücken. Wieder war Bach der Erste, der die darin liegenden Möglichkeiten erkannt hat. Die klare Gegenüberstellung von Dur- und Moll-Variante einer Tonart ist als Ausdrucksmittel vor ihm kaum erkannt worden (es ging da noch um die Charaktere der Kirchentonarten). Im «Wohltemperierten Klavier» ergänzen die Moll-Stücke die Aussagen der entsprechenden Dur-Stücke und umgekehrt, sie formulieren Schattenaspekte, die in der anderen Tonart zwar angetönt, aber nicht durchgeführt werden. Sie entsprechen den jeweiligen Schattenaspekten, ohne die eine Ganzwerdung nicht möglich ist. So gehört zur Freude auch die Nachdenklichkeit, zum Schmerz der Trost, zur Kreatur gehört die Sehnsucht, und zum Glauben ‒ die Dankbarkeit.

Wir wissen, dass Bach mystische Literatur sehr genau kannte. In seiner Bibliothek fand sich ein zerlesenes Exemplar der Predigten des Johannes Tauler. In der zwanzigsten Predigt spricht Tauler vom Ölberg. Ich glaube, dass Bach von dieser Stelle beeindruckt war und dass sie ihm in seiner Not geholfen hat. Es heißt da: «Wer Christus nachfolgen will, muss den Berg ersteigen. Es gibt keinen noch so wonnigen, noch so schönen Berg ‒ hinaufsteigen ist doch mühevoll.» Nun hat der Ölberg zwei Seiten: Eine geht nach Jerusalem zu, was «Frieden» bedeutet. Dieser Anblick schenkt denen, die auf den Ölberg steigen Frieden, Freude und Trost. «Mehr wird aber nicht daraus, wenn sie nicht auch auf der anderen Seite zu weilen vermögen, die nach Bethanien zu liegt. Und dies bedeutet Pein, Gehorsam, Leiden.» Ich finde im chromatischen Anstieg der Tonarten im «Wohltemperierten Klavier» nicht nur den mühevollen Aufstieg auf den Ölberg, sondern im Wechsel von Dur und Moll auch den von Jerusalem und Bethanien. Tauler kommentiert sein Bild so: «So sprach der Weise: In bösen Tagen sollst du der guten nicht vergessen. Beide Seiten, Jerusalem und Bethanien, müssen zusammenkommen.»

Vielfalt in der Ordnung

Bach hat in sein «Wohltemperiertes Klavier» auch Stücke aufgenommen, die aus früheren Schaffensperioden stammen. Dadurch entstehen manchmal stilistische Brüche. So kann eine gelöste, «perfekte Bach-Fuge» der Reifezeit nach einer vergleichsweise ungelenken, toccatenartigen Komposition des jungen Bach stehen. Ich denke, dass Bach sehr genau wusste, was er tat. Die früheren Stücke enthalten für Bach Erfahrungen (lebensgeschichtliche, gefühlsmäßige, kompositorische), die ihm wichtig waren und die in sein Mandala mit hineingehörten. Das therapeutische Mandala wird so zu einem ganzheitlichen Geschehen, das aktuelle Gegensätze, widerstreitende Gefühle, Schmerzen und Freuden ebenso enthält wie frühere Erfahrungen und Einsichten. «Auch das bin ich», mag Bach gedacht haben, wenn er ein geschätztes Frühwerk mit in seine Sammlung aufnahm und mit einer neuen Komposition kommentierte.

Die 24 Paare aus Präludien und Fugen, der ganze Farbenreichtum von Dur und Moll, der ansteigende Weg durch die Tonarten sind nun auch im Großen gegliedert. Man kann vier Gruppen unterscheiden, die aufeinander folgen und so den musikalischen Zeitbogen wie ein Kreuz unterteilen. Jeder dieser Quadranten hat ein eigenes verborgenes Leitthema: Im ersten geht es um die Struktur des Mandala selbst, um Bindung und Lösung und den Anstieg (vgl. schon in der ersten Fuge in C-Dur). Im zweiten schreibt Bach eine Art «Credo» mit Stücken zur Schöpfung (Es-Dur), zur Sehnsucht Gottes nach den Menschen (es-Moll), zur Inkarnation (Weihnachtsmusik in E-Dur) und zur Passion (e-Moll). Im dritten führt Bach eine mystische Zwiesprache mit Jesus, im vierten führt er das Gewölbe seines Mandala zu Ende.

Wohltemperiert ist dieses Mandala und wohltemperiert ist nun Bach, der es geschaffen hat und in den Kosmos einzeichnet. Er hat Gestalten für seine Gefühle gefunden, für seine Not und seine Hoffnung, für seine Verzweiflung und für seine Dankbarkeit. Das Problem der «Stimmung» seines Instruments war nämlich sein eigenes, es war eine Frage des seelischen Überlebens. Er hat die «Wölfe gezähmt», die ihn zu verschlingen drohten, als seine geliebte Frau so plötzlich gestorben war. So hat Bach die größte Krise seines Lebens gemeistert, und wir alle können davon profitieren.

Gerufen oder nicht gerufen

Ich bin dankbar für diese Musik und das tiefe seelische Wissen, das sich in ihr ausspricht und das mir (und vielen anderen Menschen) immer wieder hilft, ohne dass wir um die Gesetze dieser Wirkung wissen oder wissen müssen. Es sind archetypische Strukturen, die zu unserer unbewussten Psyche sprechen und sie zum Mitschwingen bringen. Ein tiefes Wissen steckt darin, dass die Zähmung der Wölfe in uns dabei hilft, echte Individuen zu werden, «nicht-teilbare», ganze Menschen.

Eine abschließende Bemerkung noch jenem in den Kreis eingezeichneten Kreuz. Wir kennen das Bild aus der Kirche. Das Kreuz als Symbol ist jedoch viel älter als das Christentum, es wurde schon in der Steinzeit in Felswände gekratzt. Es ist ein Symbol der Ganzheit, der Orientierung (im Raum) und der Zentrierung. Für die Römer verband es die Ordnung des Himmels der Götter mit der auf der Erde (und die Kreuzigung eines Übeltäters sollte jenes Gleichgewicht wieder herstellen), für die Buddhisten Indiens oder Tibets ist es ein Meditationsmuster für die Visualisierung des seelischen Zentrums. Für den Musiker und christlichen Mystiker Johann Sebastian Bach war es das Grundmuster, in das er seine Erschütterung und seine Hoffnung, all seine Erfahrungen und Gestaltungen einzeichnen konnte, das Grundmuster des «Wohltemperierten Claviers», auseinandergefaltet in das reiche Spektrum der Vier- und Zwölfer-Struktur, der Polaritäten von Dur und Moll und der Paare von Präludien und Fugen. Es ist ein reiches Muster aus Farben, aus Licht und Schatten. Dass dahinter das Kreuz Christi aufscheint, ist ein Wunder und doch kein Wunder. C.G. Jung schrieb über seine Haustür: «Ob gerufen oder nicht, Gott wird da sein.» Bach lebte in der Zwiesprache mit Jesus. Und auch uns, ob gerufen oder nicht, ist diese Erfahrung möglich. Das führt mich zu Dankbarkeit und Hoffnung, denn auch ich werde diese Erfahrung weiter brauchen.



Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 113-119
© Jörg Rasche (2006)

Jörg Rasche, *30. Juni 1950 in Würzburg, Dr. med., Facharzt für psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse und Psychotherapie. Er begann als Kirchenmusiker, bevor er Medizin und Chirurgie studierte. Heute lehrt er als Dozent am C.G. Jung Institut Berlin und ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Analytische Psychologie. Er ist seit vielen ]ahren als Kirchenmusiker und Pianist tätig und gibt auch regelmäßig Konzerte.

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