Von Nathanael Wirt OSB

Harte Straßen

Das Behindertentaxi brachte Gerhard in die Propstei für ein versprochenes Mittagessen. Gerhard ist schwer körperbehindert. Das begann schon mit drei Jahren. Wie bei seinem älteren Bruder stellte man bei ihm eine heimtückische Krankheit fest, die langsam voranschreiten würde. Es begann bei den Füßen. Bald konnte sich Gerhard nur noch im Rollstuhl fortbewegen. Das Gehör nahm immer mehr ab und schließlich stellte sich eine totale Taubheit ein. Dann begann das Augenlicht abzunehmen, bis für ihn schließlich nur noch dunkle Nacht war. Zeitweilig besuchte Gerhard das Gymnasium, dann aber kehrte er nach Hause zurück. Geistig ist er rege. Er möchte sich ausdrücken und seine Gefühle in Worte kleiden. Was er im Innern erleidet und empfindet, will er durch Worte nach außen transportieren. Wenn er sich einen Text vorstellt, will er ihn schließlich diktieren. Dieser Text muss dann korrigiert und kontrolliert werden. Wie kann man einem Blinden und Tauben das gesprochene Wort zurückgeben?

Marion, eine Arzthelferin, hörte eine Sendung im Radio: Gerhard suchte jemanden, der bereit war, ihn zu besuchen und Kontakt aufzunehmen. Eine große innere Einsamkeit drängte ihn dazu. Zwei freie Arbeitstage in der Woche verbringt Marion nun mit Gerhard. Dabei machte sie eine großartige Erfindung: Sie zeichnet die Buchstaben einen nach dem anderen auf Gerhards Stirn. Nach und nach bildet sich Gerhard daraus ein Wort. Hat er dieses Wort verstanden, spricht er es aus und dann kann Marion auf seiner Stirn weiterschreiben. Ist das Wort vollständig, berührt sie die Nasenspitze. Gerhard schreibt so Gedichte und Kurzgeschichten. Im Radio wurde letzte Woche sein letztes Buch «Harte Straßen» vorgestellt.

Das Leben von Gerhard ist wirklich steinig und hart. Wir bestaunen die Liebe und Zärtlichkeit von Marion. Mit großer Hingabe kümmert sie sich um Gerhard: «Ich kann gar nicht anders. Als gesunder Mensch habe ich das Bedürfnis, mich um einen Menschen mit Behinderung zu kümmern. Jesus hat das gemacht und gesagt: «Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr mir getan.» Ich gehe in die Kirche, aber nicht jeden Sonntag. Ich betrachte das Zusammensein mit Gerhard als meinen Gottesdienst, dort begegne ich Jesus. Seine Gegenwart gibt mir Kraft und Freude. Über jeden kleinen Fortschritt freue ich mich und bin dankbar dafür.»

Löffel um Löffel gibt Marion Gerhard das Mittagessen. Zwischendurch macht Gerhard die Bemerkung: «Einiges, das in den Mund gehört, ist zur Erde gefallen.» Darüber müssen wir lachen. Dann fügt Gerhard hinzu, er möchte einen Pflaumenschnaps. Ich verdünne ein Gläschen Eiswein, erhitze es und biete es ihm als Pflaumenwein an.

Es ist 15 Uhr geworden. Das Behindertentaxi fährt vor und der Fahrer hievt Gerhard ins Auto. Gerhards Mutter und Marion verabschieden sich und bedanken sich herzlich für das Mittagessen. Auch Gerhard meldet sich noch einmal zu Wort. Er danke für den Pflaumenwein, den er so gut fand. Das Auto fährt ab.

Staunend und dankbar erfahren wir, dass das Reich Gottes mitten unter uns ist.

Annehmen ist alles

Beim Frühstück sagt Felix: «Was du letztes Jahr in der Meditation vom Geschenk und der Dankbarkeit erzählt hast, das gehört jetzt zu meinem Tagewerk. Ich beginne mit meinem Dank an jenen, der mir den neuen Tag gibt und der mir alles gibt, was ich brauche.»

Ich hatte von Bruder David erzählt, der den neuen Tag mit einem verschnürten Paket vergleicht, das während des Tages zu öffnen ist. Und weil man weiß, dass Gott, der uns diesen Tag gibt, es gut meint, gilt es von vornherein zu danken, weil ein guter Freund uns nur Gutes geben wird.

Ja, lieber Bruder David, habe ich gedacht, soll ich jetzt schon für den heutigen Tag im Voraus danken, obgleich ist nicht weiß, was er mir bringen wird?

Ich fürchte mich vor einem Besuch, den ich machen sollte. Es geht um großes Leid. Die Eltern haben ihren 37-jährigen Sohn verloren, der aufgebaute Betrieb hat den Chef verloren, die Geschwister ihren Bruder, die junge Frau ihren über alles geliebten Mann und die zwei kleinen Kinder ihren «besten Papi der Welt», wie es in der Todesanzeige zu lesen war.

Bei der Totenwache am Abend hat sich die junge Frau auf einmal von den Trauergästen gelöst, ist nach vorn zum Sarg gegangen und hat den Sarg umarmt, auf dem das Bild des plötzlich verstorbenen Gatten stand. Wohin man schaut, überall nur Leid, Trauer und unsäglicher Schmerz.

Ich habe nicht den Mut, im Voraus für diesen Tag zu danken. Ich mache mich auf und besuche die Mutter. Wir sprechen miteinander über die letzten Tage, über Allerseelen und den grauen, nebligen November, der wie ein Schleier über allem liegt und Sinnbild für die große Traurigkeit ist, die die Mutter empfindet. Wir sprechen darüber, dass es keinen menschlichen Trost gibt, der uns aufrichtet. Und doch gibt es ganz zutiefst eine Ahnung in uns, dass das Leben weitergehen muss, und dass das Leben immer einen Sinn hat. Das «Warum» wird zwar nicht erklärt ‒ nie im Leben ‒, aber es kann uns auf die Frage drängen: «Wozu?»

Wir sprechen miteinander über das Hinauswachsen über sich selbst. Über das Heldentum, das in leidenden und trauernden Menschen oft verborgen ist. Über die Herausforderung des Lebens, die den Menschen drängt, das Schicksal trotz allem anzunehmen, weil man sonst verbittert.

«Versuchen, es anzunehmen, ist alles», sagt die Mutter. Dann fährt sie fort: «Mit den fünf Fingern muss ich fertig werden.» Sie öffnet die linke Hand und beginnt zu zählen. «Der Daumen, das bin ich, ich habe Brustkrebs. Der zweite Finger ist mein Mann. Er kann den Betrieb seit längerer Zeit nicht mehr leiten, er hat Parkinson. Der dritte Finger erinnert an meinen Sohn, der so plötzlich und unerwartet mitten aus dem Leben gerissen worden ist. Der vierte Finger ist die Schwiegertochter, die in ihrem namenlosen Leid von uns nichts wissen will, so als ob wir am Tod schuldig wären. Und schließlich ist da noch der fünfte Finger: Der Betrieb steht durch den Tod des Sohnes vor dem Ruin, ein Konkurs meldet sich an.» Dann schließt die Frau die linke Hand wieder und sagt: «Das fünffache Leid muss ich annehmen oder wenigstens versuchen, es anzunehmen. Ich war schon einmal in einer ähnlichen Lage.

Ich habe meine 93-jährige Schwiegermutter gepflegt, die ein schönes, sorgenfreies, geruhsames Leben hatte. Ich musste daneben meine Familie betreuen und erfuhr plötzlich, dass ich Brustkrebs habe. Das war wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich sah die welke, aber noch gesunde Brust meiner Schwiegermutter und dachte an meine Brust, die operiert werden musste und die ich zu opfern hatte.

In mir stieg damals eine grauenhafte Verzweiflung auf. Ich wusste nicht mehr ein noch aus. Die Enttäuschung und Verzweiflung nahm mir alle Kraft. Es schien, dass ich die Pflege nicht mehr auf mich nehmen könnte. In einem lichten Augenblick sah ich die zwei Möglichkeiten, entweder Anzunehmen oder Abzuweisen, Ja zu sagen oder Nein, Kraft zu erhalten oder die Kraft zu verlieren.

Ich habe Ja gesagt und es angenommen. Und habe erfahren, dass ein Anderer geholfen hat, zu tragen. Er muss auch jetzt wieder helfen. Man muss wenigstens versuchen, es anzunehmen. Annehmen ist alles.»

Ich bin heimgekehrt voll Dankbarkeit. Ich wusste am Morgen nicht, was der Tag mir bringen wird. Ich konnte nicht im Voraus Dank sagen. Und jetzt habe ich wieder ein kleines Wunder erlebt und ich danke dieser Frau, die mir zeigt, wie man versuchen kann das Leben und was das Leben bringt anzunehmen.

Brief aus dem Hospiz

«Achtung Patient ist blind!» ‒ Diese Worte standen auf der Tafel am Bett eines Patienten im Hospiz. Wie immer verbringe ich meine Sonntagnachmittage im Krankenhaus. Ich begegne dort Krebskranken, austherapiert. Sie wissen, dass es für sie keine Chance mehr auf Heilung gibt. Es ist ihre letzte Station, ihr letzter Weg, den sie gehen müssen. In die andere Welt.

Ich begrüße Herrn B., sage ihm meinen Namen. Auf seinem Nachttisch steht eine große Uhr, aus der stündlich eine Frauenstimme die Zeit ansagt. Ich frage ihn, was ich für ihn tun kann. Er möchte, dass ich beim Essen neben ihm sitze, seine Hand führe ‒ hier ist die Tasse, da das Besteck. Ich sage ihm, was auf dem Teller ist. Während des Essens fällt mir auf, dass ihm drei Finger fehlen. Ich frage ihn: «Wie ist das passiert?» ‒ «In der Kreissäge.» Er war Tischler. «Hat keine Möglichkeit bestanden, sie wieder anzunähen?» ‒ «Wozu? Ich brauche sie nicht. Mein Sohn hat mir gesagt, ‹Papa nun bist du ein richtiger Tischler›. Das ist mein Tischlerzeichen.»

Am Abend verabschiede ich mich von ihm, seine Hand nimmt meine und drückt sie an sein Herz. Seine Augen sind geschlossen ‒ wir wissen beide, es gibt keine Begegnung mehr.

Staunen und Dankbarkeit. Staunen über seine Fähigkeit, Dinge, die nicht zu ändern sind, anzunehmen. Dankbarkeit, dass ich diesen Dienst verrichten kann. Nirgendwo sonst begegnet man der Welt des Sichtbaren und des Unsichtbaren so sehr wie im Hospiz.

Herr N. liegt im Sterben, Schwester G. bittet mich bei ihm zu bleiben. «Normalerweise bekommt er um diese Zeit eine Schlaftablette, aber ich denke er wird sie nicht mehr brauchen.» Sie sagt das alles sehr leise, so wie es immer ist, wenn jemand sich «auf den Weg macht».

Er möchte mir etwas sagen, ich kann ihn nicht verstehen. Ich lege mein Ohr auf seine Lippen. Ich frage ihn verschiedene Dinge, er schüttelt immer wieder den Kopf. Dann fängt er an, in die Luft zu schreiben. Immer noch weiß ich nicht, was sein Wunsch sein könnte. Dann malt er mit seinem Finger Buchstaben in seine Handfläche. «Möchten Sie etwas schreiben?» Er nickt. Ich gehe ins Schwesternzimmer, spreche mit Schwester G., sage, dass ich einen Zettel und einen Bleistift brauche für Herrn N. «Er kann doch nicht mehr schreiben, er wird sterben!» Doch ich möchte ihn verstehen, seinen letzten Wunsch erfüllen. Ich komme wieder in sein Zimmer mit Papier und Bleistift, stelle mich hinter ihn, gebe ihm den Bleistift zwischen die Finger, führe seine Hand. Er denkt lange nach, dann fängt er an und schreibt langsam und mit letzter Kraft. Ich kann es kaum sehen, aber ich kann es lesen: «Schlaftablette».

Er war es gewohnt und es war sein Wunsch, sie auch heute zu bekommen. Voller Freude bin ich zu Schwester G. gegangen und habe ihr das mitgeteilt. Es war seine letzte Schlaftablette und seine letzte Nacht.

Ich habe dieses kleine Zeugnis mit nach Hause genommen. Wenn ich es ansehe, bin ich erfüllt von großer Dankbarkeit. Voller Dankbarkeit auch für den Menschen, dem ich diesen Brief geschrieben habe und durch den ich erfahren durfte, dass dies die Antwort ist, die ich dem Leben geben kann.

«Jeder, der geht, belehrt uns
ein wenig über uns selber.
Kostbarster Unterricht an den Sterbebetten.
Alle Spiegel so klar
wie ein See nach großem Regen,
ehe der dunstige Tag
die Bilder wieder verwischt.
Nur einmal sterben sie für uns,
nie wieder.
Was wüssten wir je ohne sie?»

Dieses Gedicht von Hilde Domin zeugt von Staunen und Dankbarkeit.

Alles ist Liebe, Liebe ist alles

Wegen angeblicher politischer Vergehen wurde der Dozent für Philologie Lew Rubin zu zehn Jahren verurteilt und ins Gefängnis gebracht. (Zeitungsnotiz)

Rubin, der sich als Materialisten bezeichnete, erzählte von einem merkwürdigen Zwischenfall in seiner letzten Vorlesung vor dem Krieg: «Ich entwickelte die elegische Idee, dass es kein Glück gebe, dass es entweder unerreichbar oder illusorisch sei. Plötzlich übergab mir ein Student eine kleine, winzige Notiz. Der Zettel, auf dem sie stand, war aus einem Millimeterheft herausgerissen: «Aber ich liebe. Ich bin glücklich! Was sagen Sie dazu?» «Und was hast du gesagt?», interessierte sich sein Freund. Was kann man darauf sagen?

So gescheit die Ausführungen des Lehrers gewesen sein mögen, so kopflos stand er mit seiner Idee vor einer erfahrbaren Wirklichkeit. Er konnte tatsächlich nichts mehr sagen. Der erfahrbare Zusammenhang von Liebe, Glück und Dankbarkeit gehört zur Lebensweisheit aller Zeiten.

Davon hat Jesus gesprochen: «Ich will, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben!» Jesus hat nicht nur davon gesprochen, sondern diese Weisheit auch gelebt. Es ist ein einfaches Geheimnis, das Gültigkeit durch alle Zeiten hat, dass jede kleinste, selbstlose Hingabe, jede Teilnahme, jede Liebe uns reicher macht, während jede Bemühung um Besitz und Macht uns Kräfte raubt und ärmer werden lässt. Jedes Selbstlos-Sein, jeder Verzicht aus Liebe, jedes tätige Mitleid, jede Selbstentäußerung scheint ein Weggeben, ein Sich-Berauben, ein Ärmer-Werden, und doch ist damit ein Reicher- und Größer-Werden verbunden, und es ist der einzige Weg, der uns hilft, das Beste in uns zu entfalten.

Wann ist der Mensch also glücklich? Wenn er sich selbst in Liebe verloren hat und auf diese Weise rein, absichtslos und offen geworden ist, frei von aller berechnenden und besitzergreifenden Sehnsucht, die den andern beherrschen und ausnutzen will.

Was Gott in der brennenden Feuerflamme dem sich nähernden Mose geboten hat, gilt auch dort, wo Menschen einander in Liebe begegnen: «Bleibe stehen, ziehe die Schuhe aus, denn die Stätte, auf der du stehst, ist heiliger Boden.» Hingebende Zurückhaltung macht das Wesen wirklicher Liebe aus.

Liebe umschließt jenes «Paradies», in dem allein der Mensch das Glück erlangt. Von hier aus verstehen wir, dass viele Menschen nicht glücklich sein können. Solange das selbstsüchtige Ich da ist, das uns aus dem Paradies vertreibt, treibt es uns in ein Land voller Dornen und Disteln

Jesus sagt: «Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt. ... Das habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und eure Freude vollkommen wird. Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe.»



Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 67-74
© Nathanael Wirt (2006)

Nathanael Wirt, *1930 im Kanton Thurgau (CH), †19.11.2020 im Kloster Einsiedeln (CH). Matura im Benediktinerkolleg Samery Innerschweiz. 1951 Eintritt ins Kloster Maria-Einsiedeln. 1958 nach St. Gerold gesandt, wo er als Seelsorger wirkte und verantwortlich für den Aufbau des verfallenen Klosters war, das ursprünglich vom Hl. Gerold, dem Kloster Einsiedeln geschenkt wurde. Diese Propstei widmet sich der Seelsorge, karitativer und kultureller Tätigkeit.

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