Von Vanja Palmers

Eigentlich ist es nicht so wichtig, worüber wir schreiben, reden, denken; entscheidend ist, woher diese Worte kommen, aus welchem Bewusstsein sie fließen. Perlen der Weisheit werden in einem unachtsamen, verwirrten Geiste — sei das nun im Sprecher oder im Zuhörer — zu leeren Worthülsen. Umgekehrt erkennt das wache, klare Bewusstsein in allem, auch im so genannten Banalen, das große Geschehen.

Im Buddhismus sprechen wir in diesem Zusammenhang von Dharma-Toren, von Gelegenheiten, mit der Wahrheit oder Wirklichkeit in Kontakt zu treten und mit ihr zu verschmelzen. In den vier großen Gelübden heißt es, dass es unendlich viele solcher Gelegenheiten gibt und dass wir sie alle nutzen wollen. Und obwohl sich letztlich eben wirklich alles dazu anbietet, gibt es doch einfachere, breitere, bewährte Zugänge, und solche, welche ganz besondere Herausforderungen darstellen und entsprechend selten Durchlass gewähren.

Jede Zeit, Kultur, Religion, ja jeder Lehrer und jede Lehrerin haben ihre eigenen Ansätze, Zugänge, Vorlieben. Eckhart Tolle segelt unter der Flagge der GEGENWÄRTIGKEIT, Thich Nhat Hanh hat die ACHTSAMKEIT, für meinen Zen-Meister Kobun war es der RESPEKT, für den Indianer Harry das AKZEPTIEREN. Bei diesen hehren Konzepten handelt es sich immer um beides: um die Methode, also einer Möglichkeit der Übung, und um die verwirklichte Tugend, Frucht und Erfüllung unseres Lebens.

Bei Bruder David ist DANKBARKEIT zum zentralen Konzept seines Lebens und seiner Lehre geworden. Zu Recht: Der Gedanke an ihn ist für viele von uns untrennbar mit einem Gefühl der tiefen Dankbarkeit verbunden; er ist eine lebendige Personifikation dieser Tugend.

Lassen Sie mich eine kleine Episode erzählen, die, obwohl vor vielen Jahren geschrieben, immer noch sehr lebendig in meiner Erinnerung ist: Wir (Bruder David als einer der Hauptredner, ich als sein Begleiter) nahmen an einem Kongress zum Thema «The Spirit of Peace» in Amsterdam teil. Diese Großveranstaltung war ursprünglich in einem anderen Land geplant gewesen und musste aus politischen Gründen kurzfristig nach Holland verlegt werden. Dort wiederum fanden die Organisatoren erst im letzten Moment einen Raum ‒ eine Kirche ‒, groß genug für die Eröffnungszeremonie mit Tausenden von Menschen.

Die Vorbereitungen für den «Einzug der Gladiatoren» ‒ das waren vorab wir Ordinierten und Berobten, gefolgt von all den weltlichen Würdenträgern und Ehrengästen ‒ war recht chaotisch; für die ego-losen Egos der Weisen war der Moment gekommen, um sich zu profilieren, und das Ganze drohte ein völliges Fiasko zu werden. Wer durfte wie lange reden? Wer stand vorne, wer hinten? Oder wer neben wem?

Erst als Bruder David als ältere Respektsperson in seiner vermittelnden Art und Weise mit Wiener Charme eingriff und sanft aber bestimmt den ganzen Ablauf und die Rolle der einzelnen Teilnehmer darin festlegte, beruhigten sich die Gemüter wieder und alles fand eine harmonische und feierliche Form. Das war der wundervollen Gabe von Bruder David zu verdanken, wundervoll deshalb, weil sie uns die Augen öffnet für das Wunder des Lebens. Er hat das Stäubchen Magie, das es manchmal braucht, damit das Wunder für viele Menschen sichtbar wird. Die Eröffnungszeremonie wurde ein großer Erfolg, die Teilnehmer waren berührt und inspiriert. Teil des Rituals waren 1000 weiße Rosen, als Geschenk an die Teilnehmer, welche diese am Ende der Konferenz in einer spontanen Geste beim Denkmal für Anne Frank niederlegten.

Zufrieden mit sich, wenn auch etwas erschöpft, wollten sich die Organisatoren und viele der Teilnehmer bei Bruder David bedanken, doch der war nicht anwesend. Nach einigem Suchen fand ich ihn auf der Toilette. Er, Held und Retter des Abends, putzte gerade die Räume der Notdurft, die durch die Masse arg in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Mein Erstaunen wurde nur noch durch sein Erstaunen über mein Erstaunen übertroffen: Die Kirchenleitung hatte uns spontan aus einer Notsituation geholfen und das Säubern der Toiletten, die am nächsten Morgen von den Gläubigen wieder benutzt würden, war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Die Erinnerung an diese Szene lässt noch heute meine Augen feucht werden: Es war eine völlig unbeabsichtigte, eindrückliche Lektion in Bescheidenheit und Dankbarkeit ‒ und der Freude, die damit einhergeht.

Eine zweite Episode stammt aus einer noch viel früheren Zeit, aus dem Jahre 1945. Der Krieg war offiziell vorbei und Hunderttausende von deutschsprachigen und deutschstämmigen Menschen mussten aus dem Osten in den Westen flüchten. Zehntausende sind dabei umgekommen, sei es durch Hunger, Krankheit und Erschöpfung, sei es durch die verbitterten und rächenden Hände der zuvor Unterdrückten. Wir wissen wenig über das Drama im Sudetenland nach dem Krieg ‒ Hitler nahm die angebliche Unterdrückung der Sudetendeutschen 1938 als Vorwand, um die Abtrennung des Sudetenlandes von der Tschechei zu erzwingen. Nachdem die Deutschen den Krieg verloren hatten, kam die Antwort der Tschechen und traf alle Sudetendeutschen ebenso brutal. Sie wurden vertrieben aus dem Land, in dem sie seit dem 13. Jahrhundert angesiedelt waren, und natürlich wurden die vertriebenen Deutschen nirgends mit Begeisterung empfangen. Doch habe ich in einem Artikel gelesen, was einer Frau, die in diesem Flüchtlingsstrom war, in Erinnerung geblieben ist:

Als sie, völlig erschöpft und verzweifelt, endlich in einem Auffanglager auf österreichischem Boden ankam, da sei ein junger Mann auf sie zugekommen und hätte den Flüchtlingen Äpfel geschenkt. Er sprach sie an, erkundigte sich nach ihren Bedürfnissen und tat und gab das Wenige, das zu tun und zu geben war. In den allermeisten Fällen ein offenes Ohr, ein freundliches, aufmunterndes Wort, eine Geste. Dieser Frau gab er die Adresse seiner Mutter und sagte, sie solle nicht zögern, sich an sie zu wenden, dort könne ihr geholfen werden. Wie ein «Engel der Hoffnung» sei er ihnen erschienen und in Erinnerung geblieben, sagte die Frau viele Jahre später. Und der Apfel wurde, weit über seinen Wert als höchst willkommenes Nahrungsmittel hinaus, zum Symbol der Hoffnung und des Neuanfangs. Nach all den traumatischen Erlebnissen begann diese Frau wieder, an das Gute im Menschen und der Welt zu glauben.

Bruder David war damals gerade 19 Jahre alt.

Heute ist Bruder David um etliches älter, doch sein Herz und sein Geist sind jung geblieben und sein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit und seine Solidarität mit den Unterdrückten hat mit den Jahren nichts an Kraft und Entschlossenheit eingebüßt. Als die USA begann, Bomben auf Bagdad zu werfen und praktisch die gesamten amerikanischen Medien vereint ins Kriegshorn bliesen, hat er sich, US-Fähnchen in der Hand, jeden Tag als Sandwich-Mann an eine viel befahrene Kreuzung gestellt mit der Aufschrift:

BOMBING BAGDAD IS MASS MURDER

(Bagdad zu bombardieren ist Massenmord)

Und er betet immer noch täglich für George W. Bush und seine Hintermänner und Gefolgsleute. «Verurteile die Tat, aber nicht den Täter», wie er gerne sagt.

Zu Recht wird Bruder David als Brückenbauer bezeichnet; er hat ein Leben lang lieber das Gemeinsame als das Trennende betont. «Jede Person und jede Situation hat positive und negative Aspekte. Ich bemühe mich darum, das Gute zu sehen und zu fördern und nur in seltenen Ausnahmefällen das Schlechte zu bekämpfen.» Im Zen heißt «Leben geben und Leben nehmen», dass man, je nach der Situation, sowohl Ja als auch Nein sagen können muss. Das Nein hat allerdings eine ganz andere Qualität, wenn es nicht aus Wut, Frust oder Eigennutz kommt, sondern aus dem Mitgefühl, aus unserer tiefsitzenden Sehnsucht, das Leiden dieser Welt zu lindern und die Freude zu mehren.

Unzählige Male hat Bruder David an christlich-buddhistischen Tagungen und Dialogen teilgenommen. An einer dieser Gelegenheiten nahm ein offensichtlich etwas gestörter christlicher Fundamentalist teil, welcher die Buddhisten als Vertreter Satans und die anwesenden Christen als Verräter beschimpfte. Einmal so richtig in Fahrt gekommen, war der Wütende nicht mehr zu bremsen. In der relativ kleinen Gruppe verständigten sich die Teilnehmer nach einer Weile dahingehend, den Saal zu wechseln. Einer nach dem anderen verließ den Raum, bis nur noch Bruder David dem Aufgebrachten geduldig zuhörte. Nach einer Weile hatte dieser genug Dampf abgelassen, sodass Bruder David ihm die eine oder andere Frage stellen konnte. Eine halbe Stunde später konnte man beobachten, wie Bruder David dem inzwischen ganz friedlich gewordenen Mann eines seiner Bücher überreichte und dieser ihn um eine persönliche Widmung bat.

Ich konnte nicht umhin, an die Geschichte zu denken, in welcher Buddha einen wild gewordenen und außer Kontrolle geratenen Elefanten hauptsächlich durch seine ruhige und angstfreie Gegenwart beschwichtigen konnte.



Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 20-24
© Vanja Palmers (2006)

Vanja Palmers, geb. 1948 in Wien, aufgewachsen in Luzern. Tierschutzaktivist und Zen-Priester. Langjähriger Schüler, Reisebegleiter, Übersetzer und Freund von Bruder David. Mit ihm hat er das ökumenische Haus der Stille PUREGG in Österreich begründet. Initiant der Stiftung Felsentor, einem Tierschutz- und Meditationszentrum auf der Rigi in der Schweiz.

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