Von Raimon Panikkar

… δανείζετε μηδὲν
ἀπελπίζοντες

date nihil desperantes

Gebt ohne etwas zurückzuerwarten

(Lk 6,35)

δωρεὰν ἐλὰβετε
δωρεὰν δότε

gratis accepistis,
gratis date

Umsonst habt ihr empfangen,
gebt [auch] umsonst

(Mt 10,8)

ἐν παντὶ εὐχαριστεῖτε

In allem sagt Dank

(1 Thess 5,18)

Dankbarkeit ist ein Wort, das selten in den philosophischen und theologischen Wörterbüchern erscheint. Auch die scholastische Philosophie behandelt die Dankbarkeit gewöhnlich im Anschluss an die iustitia, Gerechtigkeit, oder gratia, Gnade. Umso mehr ist es Bruder David zu danken, dass er uns an die Zentralität einer solchen Einsicht erinnert. Ich sage nicht «Begriff», weil man die Dankbarkeit nicht restlos be-greifen kann. Wir können sie nur er-fahren (d.h. uns auf den Weg begeben), um uns etwas anzueignen, und zwar als einen Bestandteil unseres Seins ‒ ohne es besitzen zu wollen, d. h. ohne Eigentumsanspruch seitens eines Egos.

Entweder die Dankbarkeit erfüllt von selbst unsere Herzen oder sie ist nicht echt. Sie hängt nicht von unserem Willen ab. Wir können die Dankbarkeit weder befehlen noch erzwingen. Sie entzieht sich der Herrschaft des Willens ‒ ein Hauptdogma der modernen westlichen Kultur.

Es ist Bruder David zu verdanken, dass er uns zu einer solchen Besinnung anspornt.

Dankbarkeit ist zweifelsohne eine Tugend, die, wie jede echte Tugend, sämtliche andere Tugenden voraussetzt ‒ oder besser, sie ist mit allen anderen Tugenden innig verbunden, wie schon Aristoteles in seiner Ethik sagte (I, 2 [1184a]). Die Tugenden lassen sich voneinander unterscheiden, nicht aber voneinander trennen. Die Isolierung einer Tugend, um sie speziell zu üben, zerstört das moralische Leben. Die moderne «Spezialisierung», die in den Naturwissenschaften und im objektiven Bereich ihren Platz hat, lässt sich auf das echte menschliche Leben nicht anwenden. Menschliche Fähigkeiten lassen sich spezialisieren, nicht aber das tugendhafte Leben. Spezielle Fachkenntnisse oder auch Begabungen kann ich haben, das wahre menschliche Leben aber lässt sich nicht zerteilen.

Wenn Bruder David unsere Aufmerksamkeit auf die Dankbarkeit richtet, weist er uns auf einen wichtigen Punkt des menschlichen Lebens hin, der als Zentrum unserer geistigen Lebenshaltung gelten kann. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass ein Zentrum von allen anderen Punkten des Kreises gleich weit entfernt ist. Das tugendhafte Leben ‒ ein edler Mensch, würde Meister Eckhart sagen ‒ lässt sich nicht zerteilen. Unser Leben ist eine Ganzheit, obwohl gebrechlich und zart. Der Erlösung im Hinduismus entspricht die Verwirklichung unserer ganzen Natur. Wenn wir aber einen Punkt des menschlichen Lebens übersehen oder außer Acht lassen, geht die Harmonie verloren, die Verwirklichung unserer Natur scheitert.

Es ist bezeichnend, dass man seit alters her den pragmatischen Charakter der so genannten Dankbarkeit hervorgehoben hat, indem sie gewöhnlich mit der Gerechtigkeit verbunden wurde: Vergeltung, Belohnung, Verehrung, Achtung, gutes Gefühl, Anerkennung, Danksagung und dergleichen ‒ alles mit einer (gerechten) Genugtuung verbunden. Henri Bergson hat in seinem Buch «Les hommes contre I'humain» einmal treffend gesagt: «On a rarement pénétré le sens profond [de la gratitude].»

Das Individuum hat Angst, seine vermeintliche Freiheit zu verlieren, da die Dankbarkeit uns mit den anderen verbindet ‒ aber nicht notwendigerweise bindet. Der Mensch ist aber ein Knoten in einem Netz von Beziehungen. Das Individuum existiert nicht; es ist nicht lebensfähig ‒ nicht einmal in Gott.

Es gibt eine streng buddhistische asketische Schule, die dem Mönch verbietet, dem Almosengeber Dankbarkeit zu zeigen, denn dies könnte der Anfang einer ungesunden Anhänglichkeit bedeuten. In ähnlicher Weise fordert der aristotelische μεγαλόψυχοϕ (magnanimitas, aber auch Arroganz), eine empfangene Gunst mit einer noch größeren zurückzubezahlen, weil man dann quitt und von sämtlichen Anhänglichkeiten befreit ist. Aber Freiheit heißt weder Egoismus des Einzelnen, noch meint sie abgekapselte Autarkie.

Die Angst vor der Verbundenheit ist ein Merkmal unserer gefallenen Natur. Hier ist der Platz, der seit Tertullian lebhaft geführten theologischen Streitigkeiten über natura und gratia, die letzten Endes eine dualistische und damit falsche Sichtweise voraussetzen. Die menschliche Vergöttlichung (durch die Gnade) ist keine unnatürliche Entfremdung, weil die Gnade kein Fremdkörper im Menschen ist. Das ist die christliche Botschaft: In Christus ist Gott Mensch, weil der Mensch in seiner umfassenden Natur auch die göttliche Natur potenziell besitzt ‒ wobei Gott keine Substanz ist. Und das ist gerade die Trinität, die uns gleichzeitig vor dem Pantheismus, wie auch vor dem Monotheismus rettet.

Hier berühren wir eine Dimension des Menschseins, welche die Bedeutung des Anliegens meines Freundes erkennen lässt: die Dankbarkeit in den Mittelpunkt der menschlichen Grundhaltung zu stellen und zwar als ein neuer Schritt, der über die übliche philosophische Auslegung der Dankbarkeit hinausgeht. Um dies zu unterstreichen, möchte ich das vorangestellte Leitwort wieder betonen.

Wie bereits gesagt, ist ein Kennzeichen der heutigen Kultur die Spezialisierung, die Hand in Hand geht mit dem Vorzug der Individualität vor dem Personsein. Dieser Vorzug beinhaltet mehr als die Verwechslung der Person (die Beziehung ist) mit dem Individuum (das Privateigentum bedeutet). Die Spezialisierung beeinflusst die übliche westliche Denkweise so sehr, dass das Eigentliche einer Sache in der spezifischen Differenz zu Anderem gesehen und mit dieser Verschiedenheit gleichgesetzt wird.

Dankbarkeit hat in ihrem Ursprung dieselbe Wurzel wie das Denken, aber das Denken in der postcartesianischen Epoche hat sein Verhältnis zum Danken vergessen, ist mit Unterscheidungen eng verbunden, wird damit sogar verwechselt und hat seinen ganzheitlichen Charakter fast verloren. Individuelle Phänomene kann man leicht durch Einteilungen klassifizieren, verstehen und auch dominieren. Die Ganzheit dagegen steht über uns, sie lässt sich nicht einteilen und nicht zerteilen.

Mit anderen Worten: Wir können einzelne Phänomene beherrschen und sogar befehlen, hervorrufen, verändern. Das Ganze aber kann man weder mit Experimenten untersuchen noch befehlen, erzeugen, bezwingen. Ähnlich kann man Liebe als ganzheitliche Haltung der Person auch nicht befehlen oder erzwingen. Das erste «Gebot» ist kein Gebot. Eine gebotene Liebe ist keine echte Liebe. Und ebenso: Die echte Dankbarkeit, welche eine uneingeschränkte Liebe voraussetzt (wie der weitere Kontext unseres Mottos zeigt), kann nicht befohlen werden. Auch kann die Dankbarkeit niemals die Reaktion auf etwas sein («do, ut des» Vergeltung, usw.). Sie ist mehr als die gezeigte Reaktion auf eine vorangegangene gute Handlung, für die wir uns verpflichtet fühlen. Dies hat aber eine einzige und doch maßgebende Ausnahme: die Erfahrung, dass unser ganzes Leben ein Geschenk, eine Gnade ist. Eine Erfahrung, die in uns Dankbarkeit spontan entstehen lässt. Diese Erfahrung zu beschreiben, dafür fehlen uns die Worte. Sie ist der Glaube als das Gewahrsein unserer ἀγνωσία, unserer Unwissenheit (im theologischen Sinn), die docta ignorantia der Überlieferung.

Wohl gibt es die Anerkennung für eine empfangene Wohltat, aber die Dankbarkeit, von der ich hier rede, ist mehr als Vergeltung. Sie ist eine Grundhaltung des menschlichen Lebens. Eine Grundhaltung aber, die aus dem tiefsten, göttlichen Grund unseres Seins kommt. Die echte Dankbarkeit ist eine theologische Tugend. Sie fließt frei und ungezwungen aus unserem Herzen. Das reine Herz ist die Quelle der Dankbarkeit, weil das reine Herz der Wohnsitz der Trinität ist. Der Ursprung dieser Quelle entspringt aus unserer göttlichen Natur, die unsere letzte Weisheit darstellt. Hier ist der tiefste Sinn der christlichen Eucharistia, die in uns Menschen diese göttliche Grundhaltung der Dankbarkeit einpflanzt, wie das Wort selbst andeutet.

Hier ist nicht der Platz für eine ausgewogene Auseinandersetzung dieser Einsicht. Aber in ihr sehe ich die Tiefe von Bruder David und seine Herausforderung an uns alle ‒ für die wir ihm dankbar sind.



Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 15-19
© Raimon Panikkar (2006)

Raimon Panikkar, Dr. mult., * 3. November 1918 in Barcelona als Sohn einer katholischen Spanierin und eines hinduistischen Inders, † 26. August 2010 in Tavertet, Provinz Barcelona, war ausgebildeter Naturwissenschaftler und emeritierter Professor für Religionswissenschaften an der Universität Kalifomien in Santa Barbara. Internationale Bekanntheit erreichte er als Autor zahlreicher Bücher, die spirituelle und mystische Themen behandeln. Er lebte abwechselnd in Indien, in Katalanien und in den USA.

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