Von Lorenz Marti

In der Klosterregel des heiligen Benedikt werden die Mönche auffällig oft ermahnt, nicht zu murren. Die sogenannte murmuratio, wie das Gemurre im lateinischen Original der Benediktsregel genannt wird, schadet. Sowohl dem Murrenden selbst wie auch den Menschen in seiner Umgebung, die meistens ziemlich schnell angesteckt werden. Sie erzeugt ein Klima des Unmuts und der Unzufriedenheit, des Misstrauens und der gegenseitigen Verdächtigungen.

Murmuratio: Man muss das Wort nur ein paar Mal laut sagen, um zu spüren, was sich da an dumpfer Missstimmung aufbaut. Und man muss nur um sich schauen, um festzustellen, wie viel gemurrt wird. An der Bushaltestelle. Im Betrieb. Am Postschalter. Oder auch im Urlaub. Man kann aber auch sich selber betrachten und wird entdecken, dass man im Verlaufe eines Tages ziemlich oft murrt oder mürrisch ist.

Ich murre meistens, ohne es zu merken. Aber ich murre recht häufig. Mal passt mir dieses nicht, dann jenes - immer wieder gibt es scheinbar einen Anlass zur Unzufriedenheit. Oft wird mein Missmut von der Angst gespiesen, zu kurz zu kommen, etwas zu verpassen, übervorteilt zu werden. Oder ich mache mir Sorgen wegen allerlei Dingen, die möglicherweise auf mich zukommen. Und wenn ich genau hinschaue, stelle ich mit Befremden fest, dass mir selbst jene glücklichen Momente, in denen einfach alles stimmt, nicht ganz geheuer sind. Das kann doch gar nicht sein, meint mein unruhiger Geist und beginnt zu suchen, ob es nicht doch etwas gibt, was dieses Glück trüben könnte. Er sucht so lange, bis er etwas findet. Und früher oder später findet er immer etwas. Dann kann ich wieder murren und alles hat seine Ordnung.

Schon unter den frühen Mönchen hatte es offenbar etliche mürrische Kerle, sonst hätte Benedikt wohl kaum so viel Gewicht auf dieses Thema gelegt. Das Gemurre und Gemecker ging im Verlaufe der Jahrhunderte unvermindert weiter, und heute ist es so selbstverständlich, dass es kaum mehr auffällt. Überall wird gejammert und gebrummelt, gemurrt und geknurrt. Wir sind eine Gesellschaft von Murrerinnen und Murrern, eine societas murmurans.

Die Murmuratio ist attraktiv, weil sie Entlastung verspricht. Indem ich brummle, meckere und schimpfe, hoffe ich, meinen Ärger und meine Frustrationen abladen zu können. Manchmal funktioniert das sogar, aber nie für lange. Der alte Frust ist bald zurück. Und oft geschieht sogar das Gegenteil: Statt Entlastung bringt das Gemurre eine zusätzliche Belastung. Ich sehe die Welt nur noch durch die schwarz eingefärbte Brille meiner Negativität. Das Murren verdunkelt die Wirklichkeit. Dann kann passieren was will, es passt mir bestimmt nicht.

Die Murmuratio ist eine Untugend, die sich hartnäckig hält. Doch ich will jetzt nicht in den Fehler verfallen, darüber zu jammern oder gar zu murren. Denn es gibt einen Weg, der aus diesem brummlig-grummligen Tal hinausführt: den Weg der Dankbarkeit. Ein Jünger Benedikts dient mir dabei als kundiger Begleiter: David Steindl-Rast, dessen Buch über „Die Achtsamkeit des Herzens“ Weg-Weisung im besten Sinne ist. Bruder David zeigt auf eine schlichte, klare Weise, dass das Staunen und die Dankbarkeit die beiden wichtigsten Wege sind zu einem glücklichen, erfüllten Leben. In Wirklichkeit ist es sogar ein einziger Weg, weil das Staunen die Dankbarkeit hervorruft und beides untrennbar zusammengehört.

Laudatio statt Murmuratio: Das tönt einfach und ist es auch. Nur ist das Einfachste in der Praxis manchmal das Schwierigste. Denn auch wenn der Weg abgesteckt ist und gut sichtbar vor mir liegt - gehen muss ich ihn selber. Dabei mache ich erfreuliche Fort-Schritte, aber auch immer wieder Rück-Schritte. Doch ich weiss mittlerweilen, was ich tun muss, wenn mir alles grau in grau erscheint und ich mit nichts und niemandem zufrieden bin: Ich muss stehen bleiben, die Augen öffnen und sehen, was ist. Ohne zu kommentieren, ohne zu bewerten. Nur schauen. In diesem offenen Schauen kann ich mich selber, meine Wünsche und Ängste für einen Moment vergessen. Dann tritt an die Stelle der latenten Unzufriedenheit ein Ja zur Wirklichkeit dieses Augenblicks. Vielleicht ist dieses Ja eine Art Gebet, bestimmt aber ist es ein Ausdruck von Dankbarkeit.

Schauen und Staunen, Danken und Loben: Das sind alte, aber oft vergessene oder vernachlässigte spirituelle Übungen. Dabei sind sie so einfach und können jederzeit und überall praktiziert werden. Jetzt zum Beispiel: Was ist es für ein Wunder, dass ich an einem kalten Wintertag in einem warm geheizten Zimmer am Computer sitzen und bis spät in die Nacht zu Musik von Jan Garbarek schreiben kann! Alles Dinge, die keineswegs selbstverständlich sind.

Die meisten Lebensvollzüge verlaufen nach vorgegebenen Mustern. Ich muss mir nicht gross überlegen, was jetzt zu tun ist und ob ich es tun will oder nicht, ich tue es einfach. Ohne die vielen Selbstverständlichkeiten wäre das Leben kaum möglich. Allerdings verdecken diese Selbstverständlichkeiten den Blick auf das Wunder des Daseins. Was selbstverständlich scheint, wird weder genau betrachtet noch besonders geschätzt. Es ist einfach so.

Selbstverständlichkeiten schläfern ein. Deshalb müssen sie immer wieder durchbrochen werden. Ich kann das selber versuchen und den Tag einmal anders angehen. Zum Beispiel indem ich darauf achte, wie viele Menschen mir im Verlaufe eines Tages Gutes tun. Es sind Unzählige, weitaus die meisten von ihnen kenne ich nicht einmal. Diese kleine Übung lässt mir die Welt freundlicher erscheinen, ich fühle mich aufgehoben und angenommen.

Manchmal werde ich ohne mein Dazutun aus allen Selbstverständlichkeiten gekippt. Wenn ich nach einem bösen Verdacht und einer eingehenden ärztlichen Untersuchung auf die Diagnose warten muss, nehme ich mich, mein Leben und meine Umgebung auf eine ganz andere Weise wahr. Nichts ist mehr selbstverständlich, alles steht in Frage. Wenn der Befund dann lautet, es sei alles in Ordnung, beginnt die Welt ganz neu zu leuchten, in Farben, wie ich sie üblicherweise nicht wahrnehme. Ich bin glücklich und zutiefst dankbar.

Sobald aber dieser befreiende Befund seinerseits wieder zur Selbstverständlichkeit geworden ist, legt sich erneut der graue Schleier der Unzufriedenheit über alles. Eben noch glücklich, heil davon gekommen zu sein, beginne ich erneut zu murren. Doch das Murren hat eine etwas andere Qualität, zumindest für eine gewisse Zeit: Im Hintergrund schwingt die Erfahrung dieser Befreiung und Erleichterung mit. Und vor diesem Hintergrund haben all die kleinen Unzufriedenheiten keine grosse Bedeutung.

Gelegentlich erhalte ich auch ein Zeichen. Heute Morgen in der Früh zum Beispiel, beim Verlassen des Hauses: Ich war in Gedanken schon bei den vielen anstehenden Arbeiten, als mich vom Himmel eine Sternschnuppe grüsste und daran erinnerte, dass der heutige Tag ein Geschenk ist.

Das ganze Leben ist ein Geschenk. Ich verdanke es unendlich vielen Menschen, die mit ihrer Freundlichkeit, mit ihrer Fürsorge und mit ihrer Arbeit dazu beigetragen haben, dass es mich gibt und dass ich leben kann. Und ich verdanke es letztlich jener namenlosen, geheimnisvollen Kraft, die ganz am Anfang steht und über die niemand etwas weiss.

Die biologische Wahrscheinlichkeit, dass es mich überhaupt gibt, ist praktisch gleich null. Und doch bin ich da: Ein einzigartiges, unverwechselbares Individuum. Ein Wunderwerk der Natur, bestehend aus hundert Billionen Körperzellen, die sich ohne mein Dazutun miteinander verbinden und zu meinem Wohle funktionieren. „Einfach dasein ist ein Segen; einfach nur leben ist heilig“, sagt der jüdische Weise Abraham Joshua Heschel. Wenn mir das bewusst wird, habe ich kaum mehr Grund, mich zu beschweren. Aber viel Grund, zu feiern und mich zu freuen.

Natürlich gibt es auch viel Unerfreuliches und Schwieriges. Aber mit Murren und Knurren lässt sich nie Änderung zum Bessern herbeiführen. Das sind egozentrische Haltungen, die lähmen und eine Situation eher blockieren statt verändern. Sie führen in die Hoffnungslosigkeit statt zu einem neuen Aufbruch. Menschen in wirklichen Notsituationen grummeln und brummeln denn auch nicht – sie schreien und klagen. Der Protest und die Klage setzen Kräfte frei und vermögen etwas zu bewegen. Im Unterschied zum Murren befinden sie sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Dankbarkeit.

Das Murren entzündet sich nicht an wirklich schweren Problemen, sondern an den kleinen Widrigkeiten des Alltags. Auch sie mögen ihre Bedeutung haben, doch so wichtig, wie ich als Murrender und Knurrender meine, sind sie nicht. Sie verdienen nicht jenen Ernst, den ich ihnen gebe. Ihnen angemessen ist eher die Hilaritas, die alte mönchische Tugend der heiteren Gelassenheit. Damit ist keine oberflächliche "Be happy"-Mentalität gemeint, sondern eine entspannte Haltung innerer Ruhe und Ausgeglichenheit. "Der Heitere übt sich in der Befreiung von der Erdenschwere, um aufs Neue und auf leichte Weise die Schwere zu tragen", meint der Berliner Philosoph Wilhelm Schmid.

Es gibt dafür einen Trick: Statt mir das Murren zu verbieten (was eh nicht funktioniert), kann ich versuchen, heiter zu murren, nach dem Motto: Murre, was das Zeugs hält, aber murre fröhlich! Das geht tatsächlich. Murren kann auch Spass machen. Allerdings ist es dann sehr schnell kein Murren mehr. Genau das ist ja auch die



Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 38-42
© Lorenz Marti (2006)

Lorenz Marti, * 1952, † 27. Mai 2020, aufgewachsen in Niederlenz und Bern, Lizenziat in Geschichte und Staatsrecht. Mitarbeiter der Redaktion Religion des Schweizer Radios DRS. Er lebte in Bem.

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