Von Ingrid Riedel

Dankbarer als für geistliche Trostliteratur sei er in schwierigen Zeiten allemal für Bücher über den Kosmos gewesen, so – oder so ähnlich – höre ich Bruder David in meiner Erinnerung sprechen, bei einem Podiumsgespräch in Cortona, dem jährlichen Tagungsort einer Gruppe der ETH  Zürich, die sich dem Themenkreis „Naturwissenschaft und die Ganzheit des Lebens“ widmet. Als er dies sagte, leuchteten die jungen Augen des fast Achtzigjährigen in einem inneren Feuer auf, das mich – im Bild gesprochen – fast an jene „Hintergrundsstrahlung“ erinnerte, von der die Physik heute im Blick auf den Kosmos so gerne spricht. Ein kostbarer Moment des vergangenen Jahres, für den ich dankbar bin, ist dieser Ausspruch eines Mannes, dem es an Lebenserfahrung und spiritueller Erfahrung gewiss nicht fehlt.

Achtsamer noch als schon zuvor ist seitdem mein Blick in den Nachthimmel geworden, wenn die Sterne, die Sternkonstellationen
– Beteigeuze, Aldeboran – aufziehen, um sie gelegentlich mit meiner Schwester, der Physikerin, zu betrachten, die sie genauer kennt und nüchterner benennt als ich. Meine Schwester, die nicht an Astrologie glaubt und nicht an Unsterblichkeit und die sich doch unter den Sternen mit ihrem verstorbenen Mann und unserer verstorbenen Schwester näher verbunden fühlt als irgendwo sonst: Momente einer geheimnisvollen Verbundenheit im Kosmos, die ich gerne mit ihr teile und für die wir beide dankbar sind. Auch daran erinnerte mich Bruder Davids Ausspruch.

Augenblicke, für die ich dankbar bin, sind immer wieder mit einer besonderen Weise des Blicks, des Blickens auf bestimmte Zusammenhänge, auf Menschen und Dinge verbunden.

Aufstrahlend wie der erste Stern am Abendhimmel war zum Beispiel das Lächeln eines mir unbekannten, jungen Mannes, der mir kürzlich auf dem Weg zur Fähre entgegenkam, der Fähre über den See, auf die ich eben zuging, weil ich auf ihr übersetzen wollte. So kreuzten sich unsere Wege. Schon als wir aufeinander zugingen, nur, um aneinander vorbeizugehen, breitete sich das Lächeln auf seinem Gesicht aus, so unwiderstehlich, dass ich es mit einem beglückten Gefühl erwiderte. Nichts weiter. Wir wandten uns nicht nacheinander um, als wir aneinander vorbeigegangen waren.

Augenblicke, in denen wir einander in die Augen blicken und uns aneinander freuen, das sind die, für die wir lange dankbar sind. Es ist wie ein Einander-Erkennen. „Wenn Du mich anblickst, wird‘ ich schön“, so dichtet Gabriela Mistral.

Ich denke zurück an das Gedränge des Verabschiedens nach den reichen Tagen in Cortona. Bruder David scheint mir sehr abgespannt zu sein, abgespannt von all seinem Einsatz für die Menschen in diesen erfüllten Tagen. Doch beim Verabschieden blickt er einen jeden von diesen jungen Menschen, eine jede wirklich an. Ich merke es an den Blicken, die ihm antworten: Sie sind wie aufgewacht durch seinen wachen Blick. Die Blicke umfangen einander, ehe man sich zum Abschied umarmt.

Soll ich auch noch zu ihm kommen? Wir haben nicht viel miteinander gesprochen in diesen Tagen, so viele waren immer um ihn, ich wollte den jungen Studierenden, für die diese Tagung gedacht war, den Vortritt lassen. Da hat er mich schon gesehen und steht bei mir. Er dankt mir für ein Märchenbuch, das ich kommentiert habe und das ihm in die Hände gekommen sei, ihm etwas bedeute. Er dankt auf eine Weise, dass ich mich von ihm gekannt fühle. Ich versuche, ihm mit den Augen zu danken, dafür, dass er solche Augenblicke schenkt.

Ein unvergesslicher, wenn auch sehr ernster Augenblick mit Bruder David soll nicht unerwähnt bleiben: Es war der Abend jenes
11. September, nachdem das Attentat auf jene Zwillingstürme in New York erfolgt war. Im Speisesaal des Hotels in Cortona saßen wir alle, äußerst bestürzt, einem emotionalen und politisch aufgeladenen Chaos nahe – waren doch ebenso US-Amerikaner wie Menschen aus dem Nahen Osten, Moslems unter uns. Die Stimmung war am Kippen, Hass drohte aufzuflammen.

Bruder David stand auf, sagte einige Worte auf Englisch. Er war räumlich weit von mir entfernt, ich konnte akustisch nicht alles verstehen, was er sagte. Ich merkte es nur an den Gesichtern, an den Blicken, was dieser Augen-Blick bewirkte.

Ich sah an unserem Tisch, wie die Amerikaner nach ihrer Aufgebrachtheit sehr, sehr nachdenklich wurden, wie der Mann aus dem Nahen Osten still wurde und den angstvoll-angespannten Ausdruck verlor.

Ich weiß wirklich nicht mehr, was er inhaltlich sagte, nur dass die Blicke aufeinander sich änderten. Augenblicke bekommen ihre Qualität durch die Blicke, die Augen aufeinander richten, verängstigte oder befreiende. Für einen befreienden Augenblick wie diesen mit Bruder David bleibe ich dankbar.



Quelle: Die Augen meiner Augen sind geöffnet  – Hommage an Br. David-Steindl-Rast OSB zu seinem 80. Geburtstag, S. 134-136
© Ingrid Riedel (2006)

Ingrid Riedel, geb. 1935, Dr. phil., Dr. theol., studierte Theologie, Literatur und Kommunikationswissenschaft und wurde am C.G. Jung Institut in Zürich zur Analytikerin ausgebildet. Honorarprofessorin an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt im Fach Religionspsychologie, Lehranalytikerin an den C.G. Jung Instituten Zürich und Stuttgart. Psychotherapeutin in eigener Praxis. Zahlreiche Publikationen.

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