Erstes Kamingespräch (2018)
Übersicht über das Gespräch mit Kurzvortrag von Bruder David
zusammengestellt von Hans Businger
Bruder David weist hin auf das Buch des Neurobiologen Gerald Hüther: Würde, der im ersten Teil aufzeigt, wie das Bewusstsein von Würde im Gehirn verankert ist.[1]
(02:12) Psychologisch gesehen entsteht in einem Kind das Gefühl der Würde, wenn zwei Dinge zusammenkommen:
Erstens: Fraglose Zugehörigkeit ‒ ein Bewusstsein, ein Gefühl fragloser Zugehörigkeit ‒ also nicht unter der Bedingung, dass du das und das tust, sondern fraglos.
Das heißt nicht, dass du alles tun kannst, da werden dir Grenzen gesetzt, aber das betrifft nicht dein Dazugehören zur Familie, zur Schulgemeinschaft, zu deinem Freundeskreis.
Der zweite Bestandteil ist: Freiheit, sich zu entfalten, mehr noch: Unterstützung der eigenen Interessen, der eigenen Kreativität: Ich gehöre dazu ‒ fraglos ‒ und ich werde unterstützt in meiner ganz eigenständigen Entfaltung.
Beides muss zusammenkommen, sonst entsteht so etwas wie ein Bienenschwarm oder ein Ameisenhaufen, in dem die Eigenständigkeit fehlt.
Unsere Individualität haben wir ja sehr schwer und mit großen Opfern über die Jahrtausende und Jahrhunderte erkämpft. Dass wir heute in unserer Kultur so eigenständig sein dürfen, ist ein ganz großes Geschenk. Ich habe noch andere Kulturen kennengelernt, wo das einfach nicht gegeben ist, wo persönliche Entscheidungen unhinterfragt nur mit Einwilligung der Familie möglich sind.
Wir haben unsere Eigenständigkeit sehr teuer erkauft, wenn ich an die Jahrtausende mit Unterdrückung und Ausbeutung denke. Jetzt aber sind wir am andern Extrem angelangt, wo wir vereinzelt sind, in Einsamkeit gefangen.
Und darum ist es heutzutage sehr wichtig, sich in einer Gemeinschaft einzubinden, die das Beste, was die Eigenständigkeit beinhaltet, einschließt.
[Siehe auch Bruder David im Gespräch mit Egbert Amman-Ölz: Vom Ich zum Wir: Wege aus einer gespaltenen Gesellschaft (2021), 2f.]
(06:26) Gerald Hüter weist mit drastischen Beispielen auf den Verlust der Würde in unserer Zivilisation.[2] Schon dass das Wort Würde bei uns sehr selten verwendet wird, ist ja auch schon sehr kennzeichnend.
Vor hundert Jahren war Würde ein Wort, das jeder ständig im Mund gehabt hat. Und damit hängt zusammen: Scham. Also «unwürdig» und «unverschämt» gehören da zusammen. Und wir haben das Gefühl der Scham völlig verloren.
Ein erster Hinweis auf den Verlust der Würde fand Bruder David schon vor über 30 Jahren in einem kurzen Artikel ‒ er vermutet im Time Magazine ‒ mit dem Titel: «Whatever happened to shame?»:
Wenn man früher ein Auto in die Reparatur gegeben hat, war man sicher, dass man es repariert zurückbekommt, oder der Automechaniker sagt einem, ich konnte es nicht reparieren, aber er hätte sich geschämt, irgendetwas anderes zu tun. Heute schämt sich keiner mehr, der Mann verlangt Geld und hat überhaupt nichts gemacht.
Und nicht nur das: Menschen, die schamlos handeln und sich schamlos bereichern auf Kosten der Armen, sind für die jungen Leute Vorbilder.[3]
Wladimir Solowjow, der große russische Denker des späten 19. Jahrhunderts, schrieb: Was uns als Menschen charakterisiert, was uns vom Tier unterscheidet, ist Ehrfurcht vor dem großen Geheimnis, Mitgefühl ‒ mit allen Menschen, Tieren, Pflanzen, mit dem ganzen Universum ‒, und Scham. Scham, unsere Würde nicht zu verletzen.[4]
Mitgefühl ist in aller Munde und Ehrfurcht ist spirituellen Menschen recht verständlich, aber Scham muss heute wieder sehr unterstrichen werden: davon möchte ich von euch etwas hören. Unsere eigene Würde verlangt sehr viel von uns: zum Beispiel, sich für geistliche Begleitung auszubilden, und offensichtlich: die Würde des andern immer im Auge zu behalten in der Haltung: wir gehören zusammen, aber du bist frei.
Die Themen im Gruppengespräch
(10:20) Aussperrung von Flüchtlingen: für Bruder David der offensichtlichste Verstoß gegen die Menschenwürde und zunächst gegen unsere eigene Würde:
Bruder David: Wenn jemand in seinem Haus sitzt und das Haus wohlbestellt ist, und jemand der völlig unbemittelt ist, ans Tor klopft, kann man sich ja kaum vorstellen, dass jemand so unverschämt handelt, dass er einfach die Tür zumacht und fest zuriegelt. Aber dass ein ganzer Erdteil, der wohlbestellt ist, einfach die Türe zuriegelt ‒ unverschämt ‒, und niemand sagt, das ist doch gegen u n s e- r e Würde.[5]
Bruder David erwähnt die zahmen Fürbittgebete im Gottesdienst zum Thema Europa, die Proteste des Papstes gegen die Flüchtlingspolitik und den Hungerstreik eines italienischen Bischofs und spricht vom offensichtlichsten Verstoß gegen die Menschenwürde. Und zunächst einmal gegen unsere eigene.
(12:54) Etwas vom Allerwichtigsten im Schulunterricht ist, den Kindern vom Kindergarten an ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde zu vermitteln.
Gerald Hüter sagt, das ganze Schulsystem ist so eingerichtet, dass es gegen die Würde der Kinder verstößt. Die Kinder werden als Gegenstände betrachtet, aus denen man jetzt etwas machen muss.[6]
Also man müsste schon einmal bei den Lehrern anfangen und ihnen wieder ein Bewusstsein der Würde geben. Dann geht es auch zu den Kindern. Vor hundert Jahren waren die Lehrer arm und nicht so gebildet wie heute, aber sehr geachtet als Lehrer.
Andreas Salcher hat Schulen und Erziehungssysteme der ganzen Welt untersucht, um herauszufinden, was ein gutes Schulsystem auszeichnet, und was fehlt, wenn es schlecht ist. Er kommt zum Schluss, dass es notwendig ist, die Würde der Lehrer zu heben durch eine strenge Auswahl, eine sehr gute Ausbildung und eine gute Bezahlung.
[Siehe auch Andreas Salcher im Gespräch mit Bruder David (2021) und die Übersicht über die Themen des Gesprächs]
(14:41) Weitere Themen: Das Spannungsfeld, das die Lehrer zermürbt. / Bei sich selber anfangen und nicht auf Systemänderungen warten. / Der Zerfall von Gemeinschaft und unsere Vereinzelung.
Bruder David vergleicht unsere Situation mit den Familienbanden in Argentinien und erwähnt eine Studie in Bhutan mit der Rundfrage: Wenn sie in eine Notsituation kommen, auf wie viele Menschen können sie zählen?
In Bhutan haben die meisten Leute gesagt: Unzählige, ich kann auf jeden zählen. Und ähnlich in Argentinien: Die Familien versuchen nicht weit auseinander zu wohnen, sie treffen sich jeden Sonntag zum gemeinsamen Essen; manchmal kommen alle, manchmal nur ein Teil der erwachsenen Kinder und deren Kinder. Mein Cousin trifft sich jeden Donnerstag mit seiner Volksschulklasse und ist fast so alt wie ich.
Ist der Zerfall von Gemeinschaften eine Folge des Wohlstands?
Bruder David: Ich glaube, da ist etwas anderes dahinter: einfach ein stärkeres Gemeinschaftsbewusstsein, andere Werte. In manchen Gesellschaften wird dieses Gemeinschaftsleben als sehr hohen Wert angesehen und bei uns weniger. Wenn man fragt: Was ist dir im Leben wichtig, werden sicher viele Leute auch sagen: Gemeinschaft oder Familie. Aber viele werden sagen: Im Beruf vorankommen …
Eltern haben Angst um die Zukunft ihrer Kinder und sind dankbar für jedes Angebot, das in den Schulen und auch in den Kindergärten gemacht wird, um die Kinder möglichst schnell erfolgreich zu machen, und da werden die Kinder auch verzweckt.
Bruder David: Was heißt schon erfolgreich? Wir müssen uns fragen, was heißt Erfolg? Was ist ein erfolgreiches Leben?
(21:45) Bruder David im Gespräch mit der Gruppe: Wie fühlt sich das an, wenn man sich seiner Würde bewusst ist?
Wenn ich mir meiner Würde bewusst bin, dann lasse ich nicht alles mit mir machen und mache nicht alles mit.[7]
Bruder David: Und woher nehme ich den Maßstab, was ich mitmache und was ich nicht mitmache?
Das ist eine Frage des Gewissens.
Bruder David: Beim Thema Würde kommt sehr viel das Gewissen herein. Aber das ist halt auch ein sehr vager Begriff geworden.
Eine Teilnehmerin spricht von einem Gefühl, das uns sagt, was für uns stimmig ist: Was ist für mich das Richtige? ‒ was fühle ich? Und dann, was ich spüre, nicht anzweifle, mich nicht beeinflussen lasse, vielleicht von dem Gewissen, das anerzogen worden ist, sondern wirklich auf mein Inneres höre und versuche, zu mir zu stehen.[8]
Iwan Hofer: Wir verzwecken alles.
[Dazu ergänzend in Muße:
«Gar zu leicht neigen wir zu der Vorstellung, dass Gott diese Welt aus einem bestimmten Zweck erschuf. Wir sind dermaßen im Zweckdenken verfangen, dass wir uns sogar Gott als zweckgebunden vorstellen. Gott aber spielt. Die Vögel eines einzigen Baumes sind Beweis genug, dass Gott sich nicht mit einer göttlichen No-Nonsense-Haltung daran machte, eine Kreatur zu schaffen, die auf perfekte Weise den Zweck eines Vogels erfüllt. Was könnte dieser Zweck auch sein, frage ich mich. Es gibt Kohlmeisen, Schneefinken und Amseln, Spechte, Rotkehlchen, Stare und Krähen. Der einzige Vogel, den Gott nie geschaffen hat, ist der No-Nonsense-Vogel.»]
Iwan weist auf übertriebene Vorsicht und unnötige Verbote in seiner Schule hin.
(25:02) Bruder David: Wir sind von Furcht beherrscht ‒ die Eltern sind heutzutage so furchtsam ‒, das schadet der Würde, und das andere: Die Kinder sind ja so verschieden, und unsere Verschiedenheit, unsere Einzigartigkeit zu erkennen, das gehört auch, glaube ich, zu unserer Würde dazu.
Und ich glaube, es gehört auch dazu zu wissen, dass man einen Beitrag leistet. Aus heutiger Sicht wurden Hausangestellte und Knechte und Mägde in einem Dorf regelrecht ausgebeutet, aber sehr häufig haben sie eine echte Würde gelebt aus dem Bewusstsein heraus: ich leiste meinen Teil. Es war ganz klar, was man als Herr oder als Frau So und So macht, und das war eine Lebensaufgabe, und die zu erkennen und freudig anzunehmen gehört zur Würde dazu, und das hängt nicht davon ab, ob ‒ objektiv betrachtet ‒, man gewürdigt wird. Darum sagt Gerald Hüter auch richtig: Wer Würde hat, das kann einem niemand nehmen.[9]
(27:18) Teilnehmerin: Für mich gehört zur Würde, dass wir auf einer Ebene sind in dem, was wir gut können ‒ unabhängig von unserer Stellung in der Gesellschaft ‒, dass nicht einer darüber steht.
Bruder David: Wichtig ist, einen Maßstab zu haben für das, was man macht: es muss gut sein. Ich weiß, dass ich’s auch schlampig machen könnte, Schlamperei ist würdelos. Auf Augenhöhe zu sein miteinander, das gehört eigentlich dazu. Der andere macht’s auf andere Weise gut; ob der jetzt ein Arzt ist und ich ein Straßenkehrer: wenn ich Würde habe, bin ich auf Augenhöhe, weil wir eben beide nur versuchen, unser Leben gut zu gestalten.
Iwan: Die Würde darf nicht davon abhängen, was einer kann. Würde muss einen unverfügbaren Grund haben und der verschwindet in unserer Gesellschaft.
Bruder David: Da kommt die Menschenwürde herein: einfach Mensch zu sein, das gibt uns die Würde.[10]
(28:56) Eine Teilnehmerin sieht in den Stufen der Demut in RB 7 einen Weg, die eigene Würde zu entdecken, die unabhängig ist von Leistung und Ansehen und uns von Furcht befreit.
[Siehe dazu Dem Welthaushalt freudig dienen ‒ Spiritualität 2011, das Audio Vertiefungsseminar mit den 12 Stufen (1-12) der Demut in der Regel des hl. Benedikt (RB 7) ab (34:17).]
Freiheit liegt nicht nur darin, dass wir unsere Talente entfalten können, sondern, dass wir uns auch befreien von unseren eigenen Begrenzungen.
Ein Teilnehmer mit Blick auf das Biophilie-Konzept von Erich Fromm: Würde will leben mehren im Gegensatz zu unserer Gesellschaft, die den Tod verdrängt.
Gerald Hüther sagt: Wir alle wollen mit Würde sterben. Sollten wir nicht vielleicht versuchen, zunächst einmal mit Würde zu leben?[11]
(31:26) Bruder David fasst zusammen: Die Würde darf nicht abhängen davon, ob ich etwas kann oder nicht. Sondern nur davon, ob ich das, was ich kann, wirklich so gut mache, wie ich kann.
Sich dessen bewusst sein, wieviel mir geschenkt ist: da hängt dankbar leben mit Würde zusammen. Und das heißt nicht, dass dies nur denen leichtfällt, denen alles geschenkt wird: jedem Menschen, auch dem Ärmsten und Verstossensten wird immer noch so viel geschenkt, wenn man es von innen her betrachtet, und das kann die Würde ausmachen, auch wenn man sehr vernachlässigt ist.
Iwan spricht vom Raum für Kreativität (Beispiel Waldkindergärten) und föderalen Strukturen im Sinne des Subsidiaritätsprinzips.
[Ergänzend in Dankbarkeit ist ein Erfolgsprinzip (2018): Interview von Antje Luz mit Bruder David:
«Was besagt das Prinzip der Subsidiarität?
Jede Entscheidung soll auf der niedrigsten Ebene getroffen werden, die dazu fähig ist. Also eine Strukturierung der Organisation von unten nach oben. Das erlaubt Selbstbestimmung und war wirklich ein ganz wichtiger Impuls, den Papst Leo XIII. da gesetzt hat. Die Tragik ist, dass es weder in der Kirche noch in der Gesellschaft richtig aufgegriffen wurde. Also wenn die Kirche das seit 1891, seit über hundert Jahren, verwirklicht hätte, dann wären wir in der Entwicklung weit voraus.»]
(35:56) Wir hören Beispiele zu Verantwortung und Freiheit / in Würde Sterben / Verlust der Würde aus Mangel an Bewusstsein, wieso ich lebe und arbeite.
Bruder David: Ein gutes Beispiel geben: Vielleicht ist es, was Würde betrifft überhaupt das einzige, das man machen kann: Seine eigene Würde leben, den anderen würdigen, und das kann sich verbreiten.
(41:14) Josef beendet das Gespräch mit Worten von Bruder Thomas:
«Unsere Hände zu einer Schale formen und uns bewusst machen, dass wir eine Aufgabe haben, dass vieles Hingabe ist, dass alles geschenkt ist und alles der Vergänglichkeit unterworfen ist.»
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[1] Gerald Hüther nennt Würde in seinem Buch Würde einen inneren Kompass, etwas, das in uns wach wird und von innen heraus kräftiger und verhaltensbestimmender wirkt als die von außen auf uns einstürmenden Verlockungen, Angebote und scheinbaren Notwendigkeiten:
«Aus neurobiologischer Sicht handelt es sich dabei um ein inneres Bild, also um ein in dieser Situation aktiv werdendes neuronales Verschaltungsmuster, das sehr eng an die Vorstellungen der eigenen Identität gekoppelt und damit zwangsläufig auch sehr stark mit emotionalen Netzwerken verknüpft ist. Es geht dabei um eine innere Vorstellung davon, was für ein Mensch jemand sein will. Für diese Orientierung bietende, vor jeder Art von Durcheinander im Hirn schützende und deshalb den Energieverbrauch dauerhaft reduzierende Vorstellung gibt es im Deutschen einen wunderbaren, wenngleich fast schon vergessenen Namen: Würde.» (19f.)
«… Und dabei bin ich auf diesen inneren Kompass gestoßen, der uns dabei hilft, nicht nur so zu handeln, dass andere dadurch nicht verletzt werden, sondern wir uns dabei nicht selbst verletzten: unsere Würde.» (44)
«Wer die Vorstellung von einem würdevollen Leben in sein Bewusstsein gehoben hat, kann nicht mehr anders als würdevoll leben.» (45)
«In unserer eigenen Beschaffenheit, oder präziser: in der inneren Organisation muss es also eine Besonderheit geben, die es nicht nur möglich, sondern irgendwann sogar zwingend erforderlich macht, dass wir als Menschen eine Vorstellung unserer eigenen Würde entwickeln … Sie hat etwas mit der enormen Offenheit und der sich daraus ergebenden lebenslangen Formbarkeit des menschlichen Gehirns zu tun.» (68)
[2] Ebd. ausführlich im zweiten Kapitel des Buches: ‹Geht es noch würdeloser?› (23-45)
[3] «In unserer heutigen globalisierten und digitalisierten Welt kann jeder, der sich lautstark genug bemerkbar macht und eine clevere Idee hat, um andere auszutricksen und über den Tisch zu ziehen, zu Ansehen, Macht und Einfluss gelangen. Und diejenigen, die damit besonders erfolgreich sind, werden dafür auch noch bewundert und erlangen eine unwürdige Vorbildfunktion, insbesondere für Heranwachsende, die noch gar keine Gelegenheit hatten, ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde herauszubilden.» (159f.)
[4] Siehe Jean-Claude Wolf: Humanismus oder warum wir keine Tiere sind: Überlegungen im Ausgang von Wladimir Solowjew
[5] Siehe das Leitwort in Gerald Hüthers Buch Würde, 5:
«Verletzt nicht jeder, der die Würde eines anderen Menschen verletzt, in Wirklichkeit seine eigene Würde?»
[6] Ebd.: «Aber auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wir feststellen: Viel zu viele Schulen sind noch immer militärisch organisiert. Sie sind Dressurstätten und dienen der Selektion. Schüler haben sich zu fügen, haben zu gehorchen, es geht hier nicht um ihren Willen. Andere über ihnen haben beschlossen, was sie wann zu lernen haben und in welcher Reihenfolge. Aus einem der schönsten Wörter der deutschen Sprache ist eine Pflicht geworden: Lernen.
Das, was jeder Mensch aus sich heraus gerne tut, sich und die Welt zu begreifen, Fragen zu stellen und wirklich nach einer Antwort zu suchen, hat hier wenig Bedeutung.» (41)
«Vielleicht beginnen Sie jetzt zu ahnen, was mich beim Anschauen der beiden Dokumentarfilme [des österreichischen Filmemacher Erwin Wagenhofer: ‹Lets make money› und ‹We feed the world›] so betroffen gemacht hat. Mir wurde damals schlagartig klar, dass unser Bildungssystem gar nicht darauf ausgerichtet ist, Heranwachsenden dabei zu helfen, ihr Empfinden für das zu stärken, was ihre Würde ausmacht, geschweige denn eine eigene Vorstellung oder gar ein Bewusstsein ihrer Würde zu entwickeln. Noch weitaus irritierender war für mich die sich daraus zwangsläufig ergebende Frage, ob es die für Kitas, Schulen, Berufsschulen und Hochschulen Verantwortlichen überhaupt wichtig finden, Heranwachsenden dabei zu helfen, sich ihrer Würde bewusst zu werden. War das jemals ihr Anliegen? Hat das ihre Herzen bewegt? Weshalb haben sie sich dann nicht auch darum gekümmert? Das hieße ja, dass sie selbst sich ihrer eigenen Würde noch gar nicht bewusst geworden sind. Sonst hätten sie andere Vorschriften erlassen, andere Lehrpläne entwickelt und andere Bedingungen in den Bildungseinrichtungen geschaffen.» (154)
«Noch etwas zynischer formuliert: Heranwachsende können unter diesen Bedingungen nur genauso würdelos werden wie diejenigen, die maßgeblich für das sind, was in diesen Bildungseinrichtungen geschieht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie später, als Erwachsene, den so entstandenen Mangel eines Bewusstseins ihrer Würde in ihrem Denken und Handeln zum Ausdruck bringen, auch dann, wenn sie ihre Ausbildung mit Bestnoten abgeschlossen haben und in Führungspositionen gelandet sind.» (156)
[7] Ebd.: «Die Kernthese dieses Buches lautet: Wer sich seiner eigenen Würde bewusst wird, ist nicht mehr verführbar.» (21)
«Ein Mensch, der sich seiner Würde bewusst geworden ist, braucht weder den Erfolg beim Kampf um begrenzte Ressourcen noch irgendwelche Ersatzbefriedigungen, die ihm von Werbestrategen angeboten werden. Eine solche Person leidet nicht an einem Mangel an Bedeutsamkeit. Sie ist sich ihrer Bedeutung bewusst. Deshalb ist sie nicht mehr verführbar. Weder hat sie einen Gewinn davon noch ein Interesse daran, andere Personen zu Objekten ihrer Absichten und Erwartungen, ihrer Ziele und Maßnahmen oder gar ihrer Verführungskünste und Versprechungen zu machen.
Weil sie sich ihrer eigenen Würde bewusst ist, kann sie die Würde anderer Menschen nicht verletzen. Das wäre unter ihrer Würde.» (130)
«Beispielsweise sind Menschen, die sich ihrer Würde bewusst werden, nicht mehr verführbar. Sie verfügen dann ja über einen inneren Kompass, der ihr Denken und Handeln leitet, und sie passen auf, dass er ihnen nicht abhandenkommt. Solche Personen lassen sich von niemandem einreden, dass sie dies oder das noch brauchen, um glücklich zu sein. Plakate, Werbespots, Ratgeber und Angebote für ein besseres Leben empfinden sie als unwürdige Versuche, sie so zu behandeln, als könnten sie nicht selbst denken und eigene Entscheidungen treffen.» (174)
[8] Ebd. der Schluss des zweiten Kapitels: ‹Geht es noch würdeloser?›:
«Was also müsste einem Menschen widerfahren, der dabei ist, die Vielfalt des Lebens auf dieser Erde zu zerstören oder das im Lebendigen, also auch in jedem Menschen angelegte Entwicklungspotential zu unterdrücken? Er müsste Gelegenheit bekommen, sich zu fragen, ob das, was er tut und wie er lebt, dem entspricht, was er als seine Würde betrachtet. Nicht auf der Ebene ihres Denkens und Handelns müsste sich eine solche Person in Frage gestellt sehen, sondern auf der Ebene ihres Fühlens. Wenn das eigene Handeln in einen Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis gerät, kommt es zu einer inneren Berührung. Nur so kann ihr die Würdelosigkeit ihres Handelns bewusst werden. Wer die Vorstellung von einem würdevollen Leben in sein Bewusstsein gehoben hat, kann nicht mehr anders als würdevoll leben.» (44f.)
[9] Ebd.: «Ich wusste», sagt der Auschwitz-Überlebende Jehuda Bacon, «man kann mich zu Asche machen. Aber ich wusste auch, dass es etwas in mir gibt, das nicht sterben kann» (58)
«Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.» (Grundgesetz Art. 1) (62)
«Wenn also jemand, der sich seiner eigenen Würde bewusst ist, durch das würdelose Verhalten anderer Personen in seiner eigenen Würde gar nicht mehr verletzt werden kann, so ergibt sich daraus eine sehr bemerkenswerte Schlussfolgerung: Seine Würde als Mensch kann man nur selbst verletzen. Oder wie es im ersten Artikel des Grundgesetzes formuliert ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber, so wäre nun noch zu ergänzen, diese Aussage gilt nur für alle jene Menschen, die sich ihrer eigenen Würde auch bewusst geworden sind.» (141)
«Die Vorstellung von der Würde, die jeder Mensch besitzt, ist die entscheidende Voraussetzung jeder demokratischen Gesellschaft.» (65)
[10] WÜRDE, in: Das ABC der Schlüsselworte, im Buch: Orientierung finden (2021), 164f.:
«‹Würde› ist mit dem Wort ‹Wert› wurzelverwandt. Dingen, die nur vereinzelt vorkommen, messen wir Seltenheitswert bei. Wer erkennt, dass jedes Ding, jedes Lebewesen, jedes Ereignis nicht nur selten, sondern einzigartig ist, wird sich der Würde bewusst, die allem, was es gibt, zukommt und wird ehrfürchtig durch das Leben gehen. Auch jedem Menschen steht diese Grundwürde zu. Wer dies erst einmal entdeckt, wird sich seiner eigenen Würde bewusst und weiß, dass sie nicht von der Anerkennung anderer abhängt. Ein solcher Mensch hat Rückgrat, geht aufrecht und weiß, was unter seiner Würde ist.»
[11] Ebd. die Überschrift des letzten Kapitels: ‹Wie wäre es, in Würde zu leben, bevor wir in Würde sterben?› (179)