AUDIO Vorträge

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Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht (2011)
Vortrag von Bruder David,
zusammengestellt von Hans Businger

(00:00) Wir alle kennen Menschen, die alles haben, alles Glück, das es brauchen würde, um wirklich Lebensfreude zu haben und die trotzdem keine Lebensfreude haben. Und wir alle kennen auch Menschen, die viele Sorgen haben, viel Unglück, von dem wir selber verschont sind, und die trotzdem von einer tiefen inneren Lebensfreude erfüllt sind.

Und so können wir gleich damit beginnen, uns zu fragen:

Was bedeutet Gesundheit?

Was bedeutet Gesundheit für mich? Nicht nur, was bedeutet sie, sozusagen in der dritten Person Einzahl, sondern in der ersten Person Einzahl: Wie erlebe ich Gesundheit? Was erleben wir, wenn wir Gesundheit erleben und erfahren? Es geht darum, diese Dinge aus eigener Erfahrung zu erleben und zu bewerten. Also ich werde immer wieder auf Ihre eigene Erfahrung zurückgreifen müssen.

Und da kommt mir persönlich ‒ und ich muss eben auch aus meiner eigenen Erfahrung sprechen ‒, kommt mir zunächst zu Bewusstsein: Freudige Lebendigkeit ‒ freudige Lebendigkeit.

Ich erlebe Gesundheit als freudige Lebendigkeit. Und zwar als einen hohen Grad freudiger Lebendigkeit. Es gibt ja viele Grade von Lebendigkeit. Am Morgen sind die meisten von uns nicht ganz so lebendig wie dann später am Tag. Unsere Lebendigkeit wächst. Und die meisten von uns sind dann gegen Abend so besonders lebendig. Aber es gibt immer wieder Menschen, die gerade am Morgen besonders lebendig sind und dann manchmal die anderen auf die Wände treiben, weil sie so lebendig sind, wenn die anderen noch ganz verschlafen sind.

Es gibt also Grade, Grade unserer Lebendigkeit. Und Gesundheit ist für die meisten von uns, nehme ich an, das Erlebnis einer hochgradigen Lebendigkeit. Und da kommt gleich Spiritualität herein ‒ ich werde dann eigens noch über Spiritualität sprechen ‒, aber Lebendigkeit ist schon Spiritualität. Denn das Wort Spiritualität kommt von dem lateinischen Wort spiritus und das bedeutet zunächst Lebensatem oder Atem überhaupt: spiritus ist Atem, Wind, Atem. Was lebendig ist, atmet.

Spiritualität ist also Lebendigkeit.
Und zwar wieder hochgradige Lebendigkeit,
die Erfahrung höherer Grade von Lebendigkeit.

Zum Beispiel, ein gutes Mittagessen macht uns lebendig. Es macht uns in einem höheren Grad lebendig als ein weniger schmackhaftes Mittagessen. Das kennen wir. Das wissen wir aus Erfahrung. Aber ein gutes Mittagessen, das wir noch teilen mit anderen, in Gesellschaft von anderen, macht uns mehr lebendig. Und es gibt andere Erfahrungen, die uns auf einer anderen Ebene lebendig machen, z.B. gute Musik. Das macht uns lebendig, aber auf einer anderen Ebene als ein gutes Mittagessen.

Für andere Leute ist es Dichtung, für andere ein guter Film, Theater, für viele Menschen ist Naturbegegnung, in der Natur zu sein. Jede, jeder von uns muss sich fragen:

Wie erlebe ich Lebendigkeit?

Wo bin ich persönlich am lebendigsten? Und wenn wir eine Antwort darauf geben können, dann kann man sagen: Dort beginnt für dich Spiritualität. Das ist für dich Spiritualität in der ersten Person, nicht in der dritten Person, nicht was irgendjemand anderer darüber sagt, sondern: Wie erlebe ich es? Wo werde ich lebendig? Das ist mein Ansatzpunkt für Spiritualität.

Lebendig sein, vernetzt und in Beziehung

Und da werden wir dann erleben ‒ und wieder ersuche ich Sie, aus Ihrer eigenen Erfahrung zu bestätigen, dass wir umso lebendiger werden, je vernetzter unser Leben ist. Und je mehr wir allein sind und vereinzelt, umso mehr sinkt unsere Lebendigkeit ab. Je mehr wir vernetzt sind, umso lebendiger werden wir.

Oder wir können es auch umdrehen: Wenn wir uns richtig lebendig fühlen, also richtig gesund, dann merken wir auch, dass das immer mit Vernetzung zu tun hat. Zunächst, wie wir schon gehört haben, ganz wichtig: Vernetzung mit anderen Menschen, gegenseitige Beziehung, aber auch weit über menschliche Beziehung hinaus, mit der Umwelt, die ja nicht nur Umwelt, sondern Mitwelt ist, wenn wir sie richtig verstehen.[1]

Gesundes Leben ist vernetztes Leben. Im weitesten Sinne vernetztes Leben. Und daher geht unsere Gesundheit weit über persönliches Wohlbefinden hinaus und hat immer zu tun mit unserem Verhalten zur Umwelt, zur Mitwelt, mit unserer weitesten Vernetzung im Lebensbereich.

Liebe, das gelebte Ja zur Zugehörigkeit

Und mit dem Ja zur Zugehörigkeit: Mit unserem bewussten Ja zur Zugehörigkeit.

Und Ja zur Zugehörigkeit im weitesten Sinne, ein gelebtes Ja zur Zugehörigkeit, das ist meine Definition von Liebe. Und Sie können das ausprobieren, denn wo immer Sie Liebe erleben, und wir haben ja so viele Bereiche und so viele Grade von Liebeserfahrung: Liebeserlebnis mit unseren Haustieren, zu unserem Vaterland, zu unseren Eltern, zu unseren Kindern, zu unseren Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, unzählige verschiedene Bereiche und Grade von Liebe ‒ immer wird es passen: die Liebe ist ein Ja zur Zugehörigkeit.

Heil und Heilen

Und das scheint mir unerhört wichtig in diesem Zusammenhang von gesundem Leben, von vernetztem Leben, von heilem Leben. Heil heißt ja ganz. Etwas ist heil, wenn es ungebrochen ist, wenn es ganz ist. Heilen heißt wieder ganz werden von Gebrochenheit.

Heiles Leben hat also mit Gesellschaft zu tun und ein heiler Mensch, ein gesunder Mensch wirkt auch heilend. Denn es ist ja nicht nur Krankheit ansteckend, sondern weit wichtiger für uns ist zu bedenken, dass Gesundheit ansteckend ist. Gesundheit ist ansteckend. Mit einem gesunden Menschen zu leben, in Beziehung zu stehen, das heilt. Und das heilt, auch wenn unser Zustand nicht kuriert werden kann.

Da muss man unterscheiden zwischen Heilen und Kurieren. Kurieren hängt nicht immer von uns ab, wir tun unser Bestes, es ist uns nicht immer möglich. Heilung ist immer möglich! Denn sie hängt von der Beziehung, von der ganzheitlichen Lebendigkeit ab.

Heiliger Geist ‒ Lebensatem Gottes

(07:29) Ich könnte auch Sätze aus anderen Traditionen zitieren: Für die meisten von uns ist es die biblische Tradition, die am geläufigsten ist, und da wird vom Geist Gottes, vom Heiligen Geist gesprochen.

Also die Spiritualität hat jedenfalls etwas mit Geist ‒ spiritus ‒ zu tun, und da heißt es, dass der Geist Gottes, der Heilige Geist das Weltall erfüllt. Der Geist Gottes erfüllt das Weltall, hält alles zusammen und spricht jede Sprache.

Wenn der Heilige Geist, der Geist Gottes das Weltall erfüllt, dann können wir das ja umdrehen, das ist ja nur eine dichterische Weise, in der jemand versucht hat auszusprechen, was wir alle erleben können, wir können es umdrehen und sagen:

Ah! Was ich da erlebe als diese Lebendigkeit, das ist, was jene, die das Wort richtig verwenden, Geist Gottes nennen, der in mir lebt, der alles zusammenhält ‒ daher die Beziehung zu allem ‒, und jede Sprache spricht, also die Umwelt, Mitwelt und die sozialen Beziehungen beinhaltet.

Und das gibt uns dann schon einen Einstieg zu unserer zweiten Frage:

Was ist Spiritualität?

Und da könnte man es ganz einfach sagen: Spiritualität ist aus der Ganzheit leben. Das ist dann diese Lebendigkeit, die aus der Ganzheit kommt, aus der Verbundenheit mit allen und allem.

Und da muss ich eben wieder auf ein persönliches Erlebnis zurückgreifen, denn wir wollen ja nicht etwas über die Sache sagen, sondern Ihr Erlebnis wecken: Wo haben Sie diese Einheit mit allen erlebt? Wo haben Sie diesen Geist, Lebensatem, diese Lebendigkeit, die alles verbindet, wo haben Sie die erlebt?

Gipfelerlebnisse (Alexander Maslow)

(09:36) Und da können wir auf ein Erlebnis zurückgreifen, das in der Psychologie sehr gut erforscht wurde von Abraham Maslow, einem sehr großen Psychiater aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, der von Gipfelerlebnissen gesprochen hat. Und da ist es ganz interessant, sich daran zu erinnern, wie Maslow überhaupt dazu gekommen ist, dieses Gebiet zu erforschen. Und zwar hat er einige Lehrer gehabt, die er sehr bewundert hat an der Universität. Und er hat sich gefragt: Wieso sind das so große Menschen? Und dann hat er begonnen, sich zu fragen: Was macht eigentlich Menschen zu so gesunden, großen Menschen?

Was macht Menschen so gesund?

Da kommt wieder die Gesundheit herein. Er ist ein junger Psychiater und sagt sich plötzlich: Also ich bin schon Doktor der Psychologie, aber nichts hat mich darauf vorbereitet, die Frage zu beantworten, was Menschen so gesund macht. Wir haben immer nur gelernt, was sie krank macht.

Und das war ein Wendepunkt in der Geschichte der Psychologie. Maslow hat sich jetzt die Aufgabe gestellt zu fragen: Was macht Menschen so gesund?

Von Gipfelerlebnissen und mystischen Erfahrungen[2]

Und das Erste, worauf er gestoßen ist, hat ihn völlig überrascht. Und er hat es so ausgedrückt: Die Menschen, die ich so bewundere, haben eines gemeinsam: Mystische Erfahrungen!

Mystische Erfahrungen! Und er hat dann damit angefangen, über mystische Erlebnisse zu schreiben. Das ist in der Psychologie gar nicht gut angekommen. Das war viel zu mysteriös für die Wissenschaft der Psychologie. Und da hat er dann schnell den Ausdruck geändert und hat es Gipfelerlebnisse genannt. Ein sehr guter Ausdruck, denn dieses Erlebnis ist ja wirklich ein Gipfel unseres Bewusstseins. Aber er hat zeitlebens darauf bestanden, dass man psychologisch die Gipfelerlebnisse nicht unterscheiden kann von dem, was in der Literatur als mystische Erlebnisse dargestellt wird. Das ist die Erfahrung des All-eins-seins, wirkliche tiefe Erfahrung des All-eins-seins mit allem: Umwelt, Mitwelt, mit sich selbst, mit der letzten Wirklichkeit.

Und die zweite Einsicht, die er gefunden hat in langen Jahren der Forschung, war, dass man sagen muss ‒ soweit man in der Psychologie verallgemeinern kann ‒, dass alle Menschen diese Erlebnisse haben. Also nicht nur menschlich herausragende Menschen und die großen Mystiker, sondern jeder Mensch.

Und Maslow ist zur Einsicht gekommen,
dass die
Mystiker nicht besondere Menschen sind,
sondern dass jeder Mensch ein ganz besonderer Mystiker ist.

Und dass der Unterschied zwischen uns so gewöhnlichen Menschen und den großen, ganz gesunden Menschen darin besteht, dass sie aus ihrer mystischen Erfahrung heraus die Konsequenzen ziehen für ihr weiteres Leben. Und wir, wie die meisten Menschen, diese Erlebnisse entweder vergessen oder sogar zurückdrängen.

Wir haben alle Augenblicke, in denen wir erfahren,
dass wir eins sind mit allem.

Da bitte ich Sie, an irgendein solches Erlebnis zu denken. Und weil es Gipfelerlebnis heißt, müssen Sie nicht glauben, das muss jetzt ein Mount Everest sein, das Matterhorn, sondern es kann ja auch ein Ameisenhaufen sein, der auch ein Gipfel ist. Alles, das zu einem Gipfel kommt, ist ein Gipfel. Man kann die nicht vergleichen.

Was war mein Erlebnis des All-eins-seins?[3]

Das ist das einzig wichtige: In diesem Erlebnis des All-eins-seins war ich wirklich eins mit allem. Das muss nicht bei Gelegenheiten kommen, in denen man es erwartet, sondern das kommt oft in den unerwartetsten Gelegenheiten:

Man hat ein nettes Fest gefeiert, viele Freunde waren hier, die ganze Wohnung war voll mit Freunden, es war ein schöner Abend, jetzt sind sie alle weg, man steht allein da, furchtbar viel ungewaschenes Geschirr, eine Unordnung in der ganzen Wohnung, und plötzlich ist man eins mit allem: in diesem Augenblick nachher.

Oder viele Menschen erleben dies in der Natur ‒ vielleicht erlebt man es da sehr häufig: bei einem Wasserfall oder bei einem Regenbogen. Frauen erleben es sehr häufig bei der Geburt eines Kindes, von Eltern hören wir es immer wieder.

Es müssen auch nicht unbedingt freudige Erlebnisse sein. Es kann der Tod eines Menschen sein, ein friedlicher Tod eines Menschen, bei dem man gegenwärtig ist.

(15:02) Worauf es ankommt, ist, wir erleben dieses Einssein mit allem, und zwar mit uns selbst, mit allen und allem und mit dem Grund des Lebens, dem Lebensgrund. Und in diesen Augenblicken sind wir über ‒ da müssen Sie wirklich genau aufpassen, war das auch wirklich so bei mir? ‒ da sind wir irgendwie über die Zeit erhaben.

Es kann ein Augenblick sein, in dem sich so viel ereignet, als ob es Stunden gewesen wären, fast ein Leben lang. Es kann aber auch sein, dass eine ganze Stunde plötzlich vorüber ist, wie wenn es nur ein Augenblick gewesen wäre.

Also die Zeit verschiebt sich in diesen Gipfelerlebnissen:

Wir sind im Jetzt

Das ist das Entscheidende: wir sind wirklich im Jetzt. Und meistens sind wir nicht im Jetzt. Meistens sind unsere Gedanken 49% schon in der Zukunft und wir können es nicht erwarten oder befürchten, was sich ereignen wird, und 49% hängen wir noch an der Vergangenheit und bedauern, dass wir nicht mehr dort sind, oder wir beweinen die Umstände und sehen uns als Opfer. Wir hängen an der Vergangenheit, wir strecken uns aus in die Zukunft. Und nur ungefähr 2% sind da für unser Bewusstsein im Augenblick zu leben, im Jetzt zu leben. Und in diesen Augenblicken der Gipfelerlebnisse ‒ das ist für Maslow auch so bedeutsam ‒, sind wir im Jetzt, vollkommen, 100% im Jetzt. Und darum erleben wir diese große Befreiung:

Es ist eine Befreiung von der Zeit.
Wir sind in diesem Augenblick im Jetzt:
wir sind wirklich Wir-selbst.

Ich und Selbst und unsere Aufgabe «gut zu spielen»[4]

Wie unterscheiden wir unser kleines Ich vom Selbst?

Wieder appelliere ich an Ihr Erleben. Versuchen Sie einen Augenblick jetzt zurückzutreten und sich zu beobachten. Sie können sich beobachten.

Ich kann mich beobachten, wie ich hier stehe und zu Ihnen spreche. Sie können sich beobachten, wie Sie dort sitzen und mir zuhören. Wir können uns beobachten. Sind wir gar zwei: wer beobachtet wen? Das Selbst beobachtet das Ich.

Wenn ich Ich selbst sage, ist das mehr, als wenn ich Ich sage. Ich selbst kann mich beobachten. Und wenn ich so weit zurücktrete, bis ich der Beobachter bin, den niemand mehr beobachten kann ‒ das kann ich nur im Jetzt tun ‒, dann bin ich wirklich Ich selbst.

Und dieses Selbst gibt es nur einmal.
Dieses Selbst verbindet mich mit allem.
Das wird von selbst einsichtig,
wenn wir diesen Punkt erreichen.

Aber wie ist dieses Selbst, dieses eine Selbst, das uns alle verbindet, nicht nur mit allen Menschen, sondern mit allen Tieren, mit dem ganzen Universum, mit der göttlichen Wirklichkeit ‒ davon haben die Mystiker jahrtausendelang gesprochen ‒, wie ist dieses Ich-selbst meiner eigenen Erfahrung mit meinem Ich verbunden?

Denn mein Ich ist ganz einzigartig, ganz ungleich von jedem anderen. Mich hat es noch nie gegeben und wird es nie wieder geben. Nicht einmal meine Fingerabdrücke hat jemals ein anderer Mensch gehabt, noch wird jemals ein anderer Mensch haben.

Also wie ist das Selbst mit dem Ich verbunden?

Und da kann man erleben
und sich auf dieses Erlebnis einlassen,
dass mein Ich das Selbst einmalig ausdrückt.

Das Selbst ist so unerschöpflich,
dass es sich in unzähligen Ichs ausdrücken will und muss.
Und ich bin einer der vielen Ausdrücke meines Selbst.

Und so kann ich auch die anderen anschauen als einen Ausdruck, einen ganz anderen Ausdruck meines Selbst, dieses einen Selbst, das wir alle gemeinsam haben.

Und das können wir erleben in unseren Gipfelerlebnissen. Und jetzt reflektieren wir darüber. Das ist etwas anderes als von einem Gipfelerlebnis ergriffen sein. Jetzt spekulieren wir nur darüber.

Und es kommt noch etwas dazu:

Das Selbst, die große Schauspielerin und das Ich, die Rolle

Da ist zunächst unser Selbst, das uns alle verbindet, dann das Ich, diese unzähligen Ichs, in denen das Selbst sich ausdrückt, die ungeheuer wichtig sind, die einzigartig sind.

«Im Laufe meines Lebens wurde mir mehrmals die Freude zuteil,
Menschen kennenzulernen,
deren Ich das Selbst mit großer Klarheit durchscheinen ließ.
In ihrer Gegenwart fiel es mir leichter,
‹ich selbst› zu sein.
Sie machten mir bewusst,
dass auch ich ein einzigartiger Ausdruck
des einen großen Selbst bin.»
Orientierung finden (2021), 21

Wenn ich meine Rolle als dieses Ich, das ich bin, nicht spiele, gibt es keinen anderen Menschen und wird es nie geben, der diese Rolle so spielen kann wie ich. Nur ich kann diese Rolle in der Welt spielen.

Das Selbst will durch mich diese Rolle spielen.
Das Selbst ist sozusagen die große Schauspielerin,
die durch das Ich eine Rolle spielt.

Und es ergibt sich die Frage:

«Woran kann ich erkennen, dass ich meine Rolle gut spiele?
Was heißt hier ‹gut›?
Die Antwort ergibt sich aus dem,
was wir über das Selbst gesagt haben:
Sie lautet: Du musst als ‹Du selbst› spielen.»
 
Ebd. 22

«Unsere Rolle im Leben ist kein festes Drehbuch,
und sie zu spielen, bedeutet zu improvisieren ‒
wie Schauspieler bei Improvisationsaufführungen
oder wie Jazzmusiker.
Jazz entfaltet und verändert sich ständig
auf unvorhersehbare Weise,
weil die Spieler aufeinander hinhorchen
und jeder von allen andren beeinflusst wird.»
Ebd. 21f.

«Was ein Einzelner beitragen kann, wird von seinem Instrument in all dessen Möglichkeiten und Grenzen bestimmt. Das Instrument, das wir von Geburt an mitbekommen, ist weitgehend durch Faktoren bestimmt, die nicht unter unsrer Kontrolle stehen. Die Erfüllung unserer Aufgabe, ‹gut zu spielen›, kann also nicht vom Instrument abhängen, auf das wir ja keinen Einfluss haben.» Ebd. 22

«Wie gut wir ‹unsere Rolle im Leben spielen›,
hängt nicht von unserer Veranlagung ab,
sondern davon,
dass unser Ich immer transparenter wird
für das Selbst.»
Ebd. 22

«Letztendlich ist das  e i n e  Selbst
die große Schauspielerin,
die  a l l e  Rollen spielt.»
Ebd. 23

Und jetzt kann es sehr leicht geschehen und geschieht immer wieder, dass das Ich sich irgendwie irrt und  i d e n t i f i z i e r t  mit dieser Rolle. Das ist etwas ganz anderes als die Rolle gut zu spielen:

Wenn eine Schauspielerin die Minna von Barnhelm oder das Gretchen im «Faust» gut spielt, verkörpert sie völlig diese Rolle, vergisst aber keinen Augenblick, dass sie ja doch eine Schauspielerin ist, die diese Rolle spielt. Im Augenblick, wo sie dies vergisst und glaubt, sie sei jetzt die Minna von Barnhelm, ist sie verrückt geworden.

Und so sind wir alle verrückt. Meistens! Außer in unseren Gipfelerlebnissen. Denn wir glauben immer, wir seien diese Rolle. Wir sind sie nicht. Wir spielen sie nur.

Und die große Aufgabe jetzt, und die wird von allen Spiritualitäten der Welt ganz klar gesehen, immer wieder so ausgedrückt:

Die große Aufgabe ist es,
unser Gewicht zu verlegen auf das Selbst.

Aus dem Selbst zu leben, das uns alle vereinigt, dann unsere Rolle wirklich gut zu spielen, aber eben zu spielen und nicht drinnen gefangen zu sein. Das ist die große Aufgabe.

Dankbar leben ‒ eine leicht zugängliche Methode

(21:56) Und daher kommt jetzt unsere dritte Frage: Wie können wir dankbar leben?

Und warum springe ich jetzt zum dankbaren Leben über?

Weil es für uns, für die meisten Menschen eine leicht zugängliche Methode der Spiritualität ist.

Ich könnte auch über Zen sprechen, ich könnte über Yoga sprechen, all die vielen, vielen verschiedenen Formen von Yoga usw.. Jede spirituelle Praxis, die Sie je einmal kennengelernt haben und geübt haben, passt hier herein, ist auch völlig vereinbar mit der Dankbarkeit. Aber die Dankbarkeit ist etwas, das so viel einfacher ist, weil jeder Mensch weiß, worum es geht:

So wie wenn man Kindern ein Geschenk bringt ‒ wir besuchen die Eltern und bringen den Kindern also ein Geschenk mit, und die Kinder sagen «Dankeschön», legen es weg und spielen mit etwas anderem, dann werden wir sagen: ja die waren gut erzogen, aber wir werden nicht sagen, die waren sehr dankbar dafür.

Aber wenn sie gar nicht «Danke sagen», sondern nur das Geschenk nehmen und den ganzen Nachmittag damit spielen, sagen wir: Die haben sich aber wirklich gefreut, die waren sehr dankbar dafür.

Die Dankbarkeit zeigt sich nicht im Danke sagen:

«Die Vögel danken, indem sie singen,
und die Blumen, indem sie blühen,
und die Menschen, indem sie tun, was immer sie tun:
Eine Mutter dadurch, dass sie mütterlich ist für ihre Kinder,
und ein Wissenschaftler dadurch, dass er Wissenschaft betreibt,
und ein Lehrer dadurch, dass er lehrt,
und ein Schuster dadurch, dass er Schuhe macht.
Dadurch, was wir tun, zeigen wir unsere Dankbarkeit.»
Credo ‒ Vortrag ‒ Freiburg (20. Oktober 2010)

Und, wenn wir dankbar leben als spirituelle Übung praktizieren, dann verwirklichen wir das, was jede spirituelle Praxis zu verwirklichen versucht.

Denn in dem Augenblick, wo wir dankbar sind ‒ wieder, erinnern Sie sich an einen Augenblick, in dem Sie wirklich dankbar waren ‒, sind wir im Jetzt. Man kann für die Vergangenheit dankbar sein, man kann für die Zukunft dankbar sein, dankbar sein kann man immer nur im Jetzt.

Sind wir im Jetzt, sind wir Wir-selbst.[5]

Wir sehen den Wert von etwas, wofür wir dankbar sind: eine Begegnung, einen Menschen, ein Ding, eine Situation, eine Blume, ein Tag ‒ was immer Ihnen einfällt, wofür Sie gerne dankbar sind:

Sie sehen den Wert und den Selbstwert dessen, wofür Sie dankbar sind. Also nicht Wert in dem Sinne von: wieviel kostet es? Das verschiebt ja nur den Wert, wir wollen es gar nicht, wir wollen etwas anderes dafür, wir wollen es verkaufen sozusagen. Nein, der Selbstwert, der Wert, die Einzigartigkeit: das sollte zu Ihrem Erlebnis passen, den Wert dessen, wofür wir dankbar sind.

Und das zweite ist der Geschenkcharakter: Wir sehen, dass es völlig geschenkt ist. Und dass es völlig geschenkt ist, ist so offensichtlich, wir leben ja in einer gegebenen Welt, wie wir sagen, in einem gegebenen Augenblick.

Es ist gegeben, es ist uns gegeben: Es gibt das, es gibt das, es gibt alles. Alles, was es gibt, ist gegeben.

Augustinus sagt: «Alles ist Geschenk, alles ist Gnade.»

Das ist eine ganz tiefe Einsicht.

Und wenn diese beiden zusammenkommen:

Wertschätzung und zu sehen: das ist ein Geschenk, dann sind wir dankbar. Und wenn wir dankbar sind, werden wir lebendig.

Lebendigkeit ist eine Funktion der Dankbarkeit.

Thomas von Aquin sagt irgendwo:

«Gesundheit ist kein Zustand,
Gesundheit ist eine Haltung»,
eine dankbare Haltung dem Leben gegenüber:
Das ist Gesundheit.
Wenn wir dankbar sind, werden wir gesund.
Dankbarkeit macht uns gesund.
Wir werden dadurch gesund.

Einladung zur Dankbarkeit

Wir können also jederzeit dankbar sein, denn

jeder Augenblick ist ein gegebener Augenblick

Da stellt sich aber in uns sofort die Frage:

Kann ich wirklich für alles dankbar sein?

Und die Antwort ist: Nein. Wir können alle vieles aufzählen, wofür man nicht dankbar sein kann: Man kann nicht dankbar sein für Krieg, für Gewalttat, für Ausbeutung, für Armut ‒ schreckliche Armut ‒, Hunger, Not. Unsere Welt ist erfüllt von Dingen, für die man nicht dankbar sein kann.

Aber man kann in jedem Augenblick dankbar sein, auch wenn man in diesem Augenblick mit etwas konfrontiert ist, wofür man nicht dankbar sein kann. Wieso?

Weil das Geschenk innerhalb jedes Geschenkes Gelegenheit ist.

Dieses Wort Gelegenheit ist unerhört wichtig in diesem Zusammenhang. Das ist das wichtigste Wort im Bereich der Dankbarkeit.

Denn wenn wir dankbar sind für etwas, worüber wir uns freuen können, dann sind wir nicht dankbar für die Blume als solche, sondern für die Gelegenheit, uns an der Blume zu freuen, für die Gelegenheit, diesem Menschen zu begegnen. Denn die Blume könnte es ja auch woanders geben: die Gelegenheit, mich daran zu freuen, wäre mir nicht geschenkt. Das Geschenk, wofür ich dankbar sein kann, ist die Gelegenheit, mich daran zu freuen.

Und wenn wir dafür aufwachen, wenn uns das einmal bewusst wird, dann sehen wir erst, dass das größte Prozent, das größte Ausmaß der Zeit, Gelegenheit ist, uns zu freuen.

Und wenn wir das jetzt als spirituelle Übung verwenden wollen, dann müssen wir uns fragen:

Wie können wir Dankbarkeit im Alltag üben?[6]

Wie kann man sie praktizieren? Wie können wir es methodisch tun? Und wie können wir uns methodisch immer wieder an die Gelegenheit erinnern, die uns da geboten wird, und diese Gelegenheit verwenden im Jetzt?

Wie können wir immer wieder ins Jetzt kommen?

Denn das ist das Ziel jeder spirituellen Übung.

(28:23) Ich möchte noch schnell zum Abschluss ein paar Punkte erwähnen, die mir besonders wichtig erscheinen in der heutigen Zeit, warum es so wichtig ist, diesen Schlüssel zur Dankbarkeit auch zu verwenden.

Zunächst einmal:

Wir leben in schwierigen Zeiten

Nicht nur viele von uns persönlich in Schwierigkeiten ‒ die Weltzeit, in der wir leben, ist eine schwierige Zeit.

Wir brauchen Schöpferkraft. Wir brauchen schöpferische Einsicht.

Dankbarkeit als Achtsamkeit im Dialog

Und was könnte uns schöpferischer machen, als immer wieder auf die Gelegenheit zu achten?

Und Dankbarkeit macht uns achtsam für die Gelegenheit:

Wozu ist das jetzt die Gelegenheit, die Gelegenheit, dankbar zu sein?

Das Leben feiern

Meistens die Gelegenheit, uns zu freuen, das Leben zu feiern!

Stellen Sie sich einmal vor, wie anders das Leben aussehen würde in einer Familie, in einer Gemeinschaft, in einem Staat, in der Welt, wenn die Menschen das Leben feiern würden! Immer wieder Gelegenheiten, das Leben zu feiern! Ganz eine andere Gesellschaft!

Und die Gelegenheit auch zu ergreifen, wenn wir etwas nicht feiern können, das macht uns schöpferisch. Denn diese Schöpferkraft brauchen wir.

Wozu ist das jetzt die Gelegenheit?

Also nicht deprimiert werden, überwältigt werden von dem Schlimmen, das uns da widerfährt, sondern gleich fragen ‒ okay, dafür kann ich nicht dankbar sein, aber diese Situation bietet mir die Gelegenheit, mich dankbar zu erweisen, indem ich auf sie eingehe und etwas aus ihr mache. Das wirkt ungeheuer schöpferisch. Das wäre der erste Punkt.

Der wissenschaftliche Beitrag von Robert A. Emmons[7]

(30:12) Der zweite Punkt ist, dass es wissenschaftlich erwiesen wurde, dass Dankbarkeit gesünder macht. Robert A. Emmons an der Universität von California (Davis), hat mehrere Bücher veröffentlicht und eines heißt: «The psychology of Graditude», Oxford University Press (2004). [Siehe auch: Das kleine Buch der Dankbarkeit (2016)]

Und darin beschreibt er Experimente, viele Experimente, die mit den Studenten gemacht wurden, sehr wissenschaftlich mit Vergleichsgruppen usw., blinde Versuche, alles, was dazugehört. Und die dankbaren Studenten, die zum Beispiel jeden Abend irgendein Ding aufgeschrieben haben, wofür sie dankbar sind, so ein kleines Tagebuch geführt haben, die haben plötzlich bessere Noten bekommen, die waren gesünder, sportlich waren sie besser.

Weil wir eben mit dem gegebenen Leben in Einklang sind, muss das ja dazu führen, dass wir auch gesünder leben, denn Gesundheit hängt damit zusammen, dass wir mit dem Leben im Einklang sind.

Leben ist ein Gegebenes. Die realistische Haltung zur Welt und zur Umwelt macht uns gesund.

Wenn die Schale überfließt

(31:24) Ein dritter Punkt, der in unserer Konsumgesellschaft ungeheuer wichtig ist, ist, dass Dankbarkeit uns genügsamer macht.

Erinnern Sie sich an das Erlebnis des Dankbarseins. Und da kann man darauf reflektieren und sehen, dass da eigentlich zwei Phasen sind:

In dem Erleben des Dankbarseins ist eine erste Phase, in der es sich irgendwie so anfühlt, als ob unser Herz voller und voller wäre von Wertschätzung. Und dann fließt es über in Danksagung.

Das sind zwei verschiedene Phasen. Und erst, wenn es in Danksagung überfließt oder in Dank-tun, in der Verwirklichung des Dankes, erst dann kommt die Freude wirklich so zum vollen Ausdruck.

Es ist wie ein Brunnen, wo die Schale sich langsam anfüllt und dann, wenn sie überfließt, dann bricht sich das Licht und glitzert und dann wird es freudig. Das sind diese beiden Phasen.

Und in unserer Gesellschaft, gerade in dem Augenblick, wo wir überfließen wollen von Freude und Wertschätzung, kommt die Reklame herein und sagt uns, nein, nein, da gibt es noch ein viel besseres Modell, ein neueres Modell, ein größeres, der Nachbar hat ein viel Größeres usw.. Also machen wir jetzt diese Schale größer und sie fließt noch nicht über. Und gerade, wenn sie wieder überfließen will, wird uns wieder gesagt, dass sie eigentlich nicht überfließen sollte.

Und wir kommen in dieser Konsumgesellschaft nie zum Überfließen und daher sind wir nicht freudig! Wir haben keine Freude! Und dann kommen wir auf Reisen in Länder, wo wir sehen, die Menschen sind furchtbar arm. Und wieso sind die so freudig? Ja ihr Gefäß ist so klein, dass es viel früher überfließt! Es fließt sofort über! Das können wir an uns selber ausprobieren:

Verkleinere dein Gefäß, 72f.

Wir machen an einem Tag unser Gefäß etwas kleiner: Wir fasten zum Beispiel. Plötzlich schmeckt das Brot so gut. Vorher haben wir das Brot gar nicht bemerkt, wir waren nur an dem interessiert, was drauf liegt, an der Auflage. Plötzlich sind keine Auflagen da, da wird das Brot wunderbar, weil das Gefäß kleiner wird.

Und so können wir das üben. Und wenn Sie es sich eine wirklich dankbare Gesellschaft vorstellen, das wäre keine solche Konsumgesellschaft, sondern eine genügsame, freudig genügsame Gesellschaft.

(33:56) Noch ein Punkt:

Ich-Selbst werden

Durch die Dankbarkeit lernen wir im Jetzt zu leben.

Und jedes Mal, wo wir dankbar sind, verschieben wir unser Gewicht vom Ich auf das Selbst.

Ich habe da immer das Bild von den klassischen Statuen im Sinn, zum Beispiel den David von Michelangelo: Er steht auf einem Standbein und das andere ist sein Spielbein, wie es in der Kunstgeschichte heißt. Weil er fest auf dem einen Bein steht, kann er mit dem anderen spielen. Das Bein, auf dem wir gewöhnlich feststehen, ist unser kleines Ego. Und hie und da gehen wir so auf eine Einkehrwoche oder so etwas, oder zu einem Vortrag, und dann spielen wir ein bisschen mit dem Selbst. Und dann vergessen wir es und stehen wieder fest auf dem Ego.[8]

Diese Gewichtverschiebung ist entscheidend.

Jedes Mal, wenn wir dankbar sind, auch nur einen kleinen Augenblick lang, verschiebt sich das Gewicht und unser Standbein wird jetzt das Selbst. Und dann können wir ganz leicht mit dem Ego spielen ‒ nicht mehr so verfangen drinnen, wir spielen damit.

Das zu lernen, diese Gewichtsverschiebung zu lernen, das ist etwas ungeheuer Wichtiges. Es kommt beides zusammen:

Wenn wir wirklich unser Leben zum Ausdruck unseres Selbst, unseres wahren Selbst machen, dann dienen wir zugleich auch der Welt. Und dazu Mut zu haben, das ist das innerste Geheimnis von Demut, die ja ursprünglich Dienmut heißt, diesen Mut zum Dienen, unserem Selbst zu dienen, dadurch dass wir es durchscheinen lassen und der Welt dadurch dienen in einer einzigartigen Weise.

Über den Tod erhaben

(35:52) Und wenn wir im Selbst sind und im Jetzt sind, dann sind wir über den Tod erhaben. Dann brauchen wir keine Furcht mehr vor dem Tod haben.

Denn der Tod kommt, wenn meine Zeit um ist, aber das heißt gar nicht, dass mein Selbst davon betroffen wird.

Das Jetzt ist nicht in der Zeit.
Die Zeit ist im Jetzt!

Das wird Sie vielleicht überraschen, wenn ich sage, das Jetzt ist nicht in der Zeit. Aber unsere westliche Philosophie hat das schon sehr lange gewusst:

Wir stellen uns das meistens so vor, dass die Zeit eine lange, lange Linie ist: Auf der einen Seite ist die Vergangenheit, auf der anderen Seite ist die Zukunft. Wo ist jetzt das Jetzt? Es ist der kleine Abschnitt zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Wenn es ein kleiner Abschnitt ist, lade ich Sie dazu ein, diesen kleinen Abschnitt in die Hälfte zu schneiden und die eine Hälfte ist nicht, weil sie nicht mehr ist, und die andere Hälfte ist nicht, weil sie noch nicht ist: Wo ist das Jetzt? Das ist Haarspalten. Gut ‒, solang es ein Haar ist, können wir es spalten.

Wir können es spalten, bis wir finden, dass das Jetzt, das wir erleben, zu unserem Leben gehört, nicht in der Zeit ist: In der Zeit frisst die Vergangenheit nahtlos die Zukunft auf.

«Wir reichen heraus aus der Zeit ins Sein, ins Ewige.
Ewig heißt ja nicht: lange, lange Zeit;
Ewigkeit ist das ‹nunc stans›,
das Jetzt, das niemals vergeht.
‹Ich bin› gehört also zur Ewigkeit,
zum ‹Jetzt, das bleibt›.
Dieses bleibende Jetzt kennt schon jedes Kind,
wenn es nur versteht, was ‹ich bin› heißt.
Jeder Mensch reicht eben existenziell über die Zeit
in die Ewigkeit hinein,
in das Sein.
Ich muss mit dieser Spannung leben,
dass ich der bin,
der dieses ‹bin› nie in der Zeit findet
und es doch in der Zeit verwirklichen muss.»
Jetzt im Doppelbereich[9]

(37:18) Noch ganz kurz:

Ein anderes GottesbildWie das Göttliche in uns wächst.

Eine letzte und vielleicht für mich die wichtigste und schönste und tiefgehendste Frucht von Dankbarkeit ist, dass sie uns unser Gottesverständnis neu erfahren lässt, dass sie uns ein neues Gottesverständnis gibt.

Ein Gottesverständnis, das allen Menschen zugänglich ist, nicht nur denen, die es schon gewohnt sind, von Gott zu sprechen, den «religiösen» Menschen, sondern allen Menschen. Die letzte Wirklichkeit und die große Schwierigkeit, die wir heutzutage haben mit diesem Begriff von Gott, ist, dass wir uns immer getrennt fühlen.

Die Bildersprache, in der den meisten von uns durch die verschiedenen Religionen die Gottwirklichkeit nahegebracht wird, ist immer: Wir sind irgendwie getrennt ‒, Gott ist der ganz andere. Und wir sind auf dieser Seite. Und da ist diese große Kluft.

Und heutzutage fällt dies zunehmend mehr Menschen schwieriger und schwieriger.

Wenn wir uns auf das dankbare Leben einlassen,
dann haben wir uns auf die göttliche Wirklichkeit eingelassen.
Denn die letzte Wirklichkeit ist die Quelle aller Gaben:

Es gibt mich

Dieser Satz ist unwiderlegbar. Es ist einer der wenigen Sätze, ich kenne kaum einen anderen, in dem alle Menschen übereinstimmen.

Jeder von uns muss sagen: Es gibt mich. Darin können wir alle übereinstimmen. ES ‒ Was ist dieses ES? ‒ Das große Geheimnis, aus dem alles hervorfließt.

Nicht in dem engen Sinn von Schöpfung mit einem Schöpfer irgendwo anders, der … ‒ das war eine Bildersprache.

Wem das hilft: fein. Wem das nicht hilft: Bilder sind Bilder!

Die Dreieinheit von Quelle ‒ Gabe ‒ Dankbarkeit

Dieses ES, das ist das Geheimnis, mit dem wir alle als Menschen konfrontiert sind. Das ist die göttliche Quelle.

Und ES gibt  m i c h. Mein innerstes Selbst ist das eine Selbst, das göttliche Selbst, das mich mit allen Menschen, mit allem, was  ES
g i b t  und mit der göttlichen Wirklichkeit verbindet, vereint:

ES  g i b t: Was kann ES geben?
Diese göttliche Wirklichkeit kann nur  s i c h  s e l b s t  geben.
Und alles, was gegeben ist, ist Ausdruck dieser göttlichen Wirklichkeit.
Und das ist Glaube: sich darauf einzulassen.

«Unter Glauben können wir verstehen das uns Verlassen
auf die Verlässlichkeit des Urgrundes,
wir können es verstehen als die ehrfürchtige Begegnung
mit allem, was ES gibt,
und als dynamische Dankbarkeit.
Und Dankbarkeit nicht als Danke sagen,
sondern als Danke leben, als Dank werden.»
Credo ‒ Vortrag ‒ Freiburg (20. Oktober 2010)

Und wenn wir uns darauf einlassen, verwirklichen wir die tiefste Möglichkeit des dankbaren Lebens und sind völlig eingebettet in die göttliche Wirklichkeit als die Quelle, das ES, das alles gibt, als die Fülle von allem, die aus dem Nichts hervorkommt ‒, und die Liebe, durch die alles wieder zurückkehrt zu dem Ursprung.

Wir sind ein großer Reigentanz, in dem wir da eingebettet sind.

Und das ist die tiefste und schönste Wurzel unseres gesunden Lebens.

Denn Leben kann erst wirklich gesund genannt werden, wenn es diese Intensität der Lebendigkeit erlangt hat.

Danke!

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[1] Siehe die Schlüsselworte «Umwelt» und «Mitwelt» im Buch Orientierung finden (2021), 159f. und 150, ebenso in Anm. 3f. in Es gibt mich

[2] Siehe auch die deutsche Erstveröffentlichung des Beitrags von Abraham H. Maslow in Jeder Mensch ist ein Mystiker (2014)

[3] Siehe auch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2015): «Ich glaube an Gott»: «Persönliche Erwägungen», 31-36, ebenso in Sehnsucht:

«Darauf kommt es also an: Ob wir jene allumfassende Zugehörigkeit kennen, die den Gegenpol darstellt zu Verlassenheit und Verzweiflung.

Wir dürfen sicher sein, dass wir schon irgendwann einmal dieses All-eins-sein gefühlt haben ‒ in einem Gipfelerlebnis, würde Maslow sagen.

Wir dürfen uns nur nicht irreführen lassen durch diesen Ausdruck und gleich ans Matterhorn denken oder an einen Gipfel im Himalaya. Vielleicht war unser persönlicher Gipfel im Vergleich dazu ein Ameisenhaufen; das spielt keine Rolle.

Es genügt jedenfalls, dass wir uns schon einmal so recht daheim gefühlt haben im All, wenn auch nur einen Augenblick lang. Wir hörten etwa eine Melodie (Händels Alleluja ist für mich so eine) und waren plötzlich so ganz da; alles war recht so, wie es war, und wir waren Teil des Ganzen, waren irgendwie das Ganze. Einmal wenigstens, das genügt ‒ oder es sollte genügen. Wir dürfen das Geschenk eines solchen Augenblickes nur nicht vergessen.

Sooft wir uns dankbar daran erinnern, wissen wir, dass wir ‹dazugehören› und sind vor der Verzweiflung gerettet.

Das ist aber eine Haltung, die wir täglich neu erringen; täglich auf neue Art beweisen müssen. Das Leben verändert uns ja ständig, ob wir es wollen oder nicht. Es fordert uns heraus, sicher zu sein, dass der Anker hält, auch in Stürmen.»

[4] Siehe auch Audio Fragen, denen wir uns stellen müssen (2016)
Tag 2
Nachmittag: Im Jetzt sein und im Selbst sein ist identisch (Bruder David)
(29:08) Was verbindet das Ich mit dem Selbst? Warum das Ich? Das eine unteilbare Selbst in den Weltreligionen und das richtige Verständnis des Liebesgebotes / (34:10) Jedes Ich ist ein einmaliger Ausdruck des Selbst ‒ der Begriff ‹Seele› in diesem Zusammenhang ‒ das Selbst umfasst alles Lebendige und sehr wahrscheinlich auch die unbelebte Natur / (38:11) Das Selbst spielt in jedem Ich eine einzigartige Rolle ‒ der Vergleich mit dem Kasperltheater ‒ Unsere Rollen sind uns weit mehr aufgegeben als wir meinen ‒ Mir ist eine Rolle aufgegeben: Wie kann ich sie gut spielen? ‒ Freiheit ist ein Wesenszug von allem, was es gibt / (42:00) Wir sind zu einem gewissen Grad frei, uns dem Leben hinzugeben oder uns gegen das Leben zu sträuben: Immer wieder ins Jetzt kommen und das Leben durch uns fließen lassen. Im Jetzt sein heißt, sich der Frage, der Aufgabe stellen, die das Leben uns jetzt stellt: ‹Es gibt nichts Gutes, außer man tut es› / (45:19) ‹To live in tune with the world› ‒ ‹Alles ist Schwingung, alles ist Klang›: Im Einklang mit dem Leben tanzen ‒ Tanzend arbeiten

[5] Siehe den Titel des Audios in Anm. 4: ‹Im Jetzt sein und im Selbst sein ist identisch›

[6] Siehe auch Bedeutung und Glück der Dankbarkeit: Blog-Beitrag von Alexandra Hildebrandt (25. Juli 2023) ‒ Warum Dankbarkeit glücklicher macht: Blog-Beitrag von Valeria Gadde (18. Juli 2023) ‒ Dankbarkeit aufschreiben ‒ deine «Drei guten Dinge» des Tages: Blog-Beitrag vom 09. Mai 2023 ‒ Durch Dankbarkeit die eigene Resilienz steigern und Stress senken: Blog-Beitrag vom 03. April 2023 ‒ Dankbar zu sein hält uns geistig fit: Blog-Beitrag von Mag. Roswitha Jauk (13. Februar 2021)

[7] Vier Übungen zur Vertiefung der Dankbarkeit: Blog-Beitrag von Juliana Breines (28. Dezember 2019)

[8] Siehe auch Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II (2014): 109f.

[9] Der Text ist dem Vortrag ‹Im Paradoxen Sinn finden› entnommen, abgedruckt im Buch Aufwachsen in Widersprüchen (1990), 62. Der ganze Vortrag ist zu hören im Audio unter dem Titel ‹Im Paradoxen Sinn finden: Teil 1› in der Reihe Aufwachsen in Widersprüchen (1989)

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