+Liebe Freunde,

vor einigen Tagen bin ich von einer Studienreise nach Bhutan zurückgekommen, zu der mich mein Freund Vanja großzügig eingeladen hatte. Hier möchte ich Euch kurz über meine Eindrücke berichten. Was ich erleben durfte, freute mich; ich hoffe, es wird auch Euch freuen. Diese Reise war mir vor allem deshalb wichtig, weil ich das Prizip von Grundrecht auf Glück (GNH), für das Bhutan berühmt ist, besser kennenlernen und seine Anwendung an Ort und Stelle in Augenschein nehmen wollte. Die meisten Länder messen ihren Fortschritt im Geiste kapitalistischer Wirtschaft am Wachstum ihres Bruttoinlandsproduktes (GNP). In Anspielung darauf erklärte ein weiser König Bhutans schon vor 40 Jahren, dass für sein Volk das Bruttonationalglück wichtiger sei. Damit machte er das Grundrecht auf Glück im Sinne bleibender Werte zur Richtschnur für Bhutans Weiterentwicklung. Dadurch verschob sich der Schwerpunkt des Begriffes «Entwicklung» von Quantität auf Qualität: Nicht unbegrenztes Wachstum auf einem begrenzten Planeten, sondern immer reichere Entfaltung kultureller Werte und ihrer Verwirklichung. (Schon 1968 hatte Robert F. Kennedy dem GNP sein Vertrauen abgesprochen: «Zu oft und zu lange haben wir Persönlichkeitsbildung und Gemeinschaftswerte zugunsten bloßer Anhäufung materieller Dinge vernachlässigt.»)

butan 1 butan 2Da wir mit Vanjas Cousine Lisi und ihrem Mann, Dr. Ha Vinh Tho, dem Programmdirektor des Institutes für Bruttonationalglück, reisten, konnten wir nach Herzenslust Fragen stellen butan 3und bekamen Antworten nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Das Endergebnis: Das Prizip bewährt sich; die Sache funktioniert. Nichts ist perfekt in dieser Welt, aber dadurch, dass Bhutan seinen Fortschritt nicht an Wirtschaftswachstum sondern an Wohlstand misst, überholt es andere Länder in dem, worauf es letztlich ankommt. Schulung ist kostenlos vom Kindergarten bis zur Universität. Alle Gesunheitsdienste sind kostenlos. (Wir besuchten das Nationalinstitiut für traditionelle Heilkunde in Thimphu und waren beeindruckt. Nach einer Ausbildung, die zehn Semester dauert, können Studenten den Magistertitel erlangen. Über 40,000 Patient/innenen werden jedes Jahr im Institutsspital behandelt. Kleinere Zentren sind über das ganze Land verteilt und dienen jährlich weiteren 60,000 Patient/innen. Auch medizinische Behandlung nach dem Modell westlicher Schulmedizin ist allgemein zugänglich.) Rauchen ist in der Öffentlichkeit nirgends gestattet. Die Einfuhr von Zigaretten ist verboten. Für Junk-food darf keine Reklame gemacht werden; in Schulen ist es nicht erlaubt und Schulkinder lernen es zu meiden. Korruption wird erfolgreich ausgeschaltet, besonders durch die prompte Bestrafung weitbekanner Personen, die sich etwas zuschulden kommen lassen (z.B. kürzlich ein Innenminister). Es gibt keine Bettler, keine Obdachlosen; das Sicherheitsnetz gesellschaftlicher Eingebundenheit funktioniert.
Umwandlung ist das Stichwort für das, was sich in Bhutan ereignet. Verkäufer/innen in den Geschäften oder Angestellte im Hotel gehören der ersten Generation an, die für Geld arbeitet. Handies sind allerdings bereits allgegenwärtig. Eine so rasche und weitreichende Umwandlung birgt offensichtlich Gefahren — Druck von außen, Versuchungen von innen — aber GNH als Maßtab hilft diesem Land, inmitten aller Umwandlung traditionelle Werte zu bewahren. In dieser Hinsicht könnten anderen Länder, die ich kenne, viel lernen von Bhutan.

butan 4 butan 52005 bis 2007 drängte der König die jetzige Demokratie dem Volke mehr oder minder auf. Die meisten Bürger Bhutans würden immer noch die Monarchie vorziehen, weil politische Parteien die so hoch geschätzte Harmonie der gesellschaft gefährden. Der junge König sowie sein Vater, der mit sechzig abdankte, werden im ganzen Land geliebt und geehrt. Die meisten Bhutanesen haben ihren König irgend wann einmal persönlich kennengelernt und sind stolz darauf. Wie sein Vater vor ihm, reis butan 6t auch der junge König im Land herum, das ungefähr so groß ist wie Österreich, und besucht die entlegensten Dörfer um die 750,000 Einwohner persönlich zu grüßen und zu ermutigen. Dabei muss er oft zufuß gehen, denn es führt nur eine einzig größere Straße im Himalayavorgebirge quer durch Bhutan. Diese Hauptverkehrsader muss wegen Erdrutschen und notwendigen Verbesserungen beständig repariert werden, ist nicht ungefährlich, und erlaubt nur eine Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 25 km/h. In einem Geschäft in der Haupstadt trafen wir einen Nomaden aus einem abgelegenen Teil des Landes, der acht Tage zufuß unterwegs war, um zur Bushaltestelle zu kommen. Jetzt hatte er offenbar hausgewobenen Stoff verkauft und trug stolz ein Paar neuer Schuhe. Alle von uns, die ihm begegneten, waren tief bewegt von seiner strahlenden Präsenz. Er sprach nur den Dialekt seines Stammes, aber die Unterrichtssprache in allen Schulen ist Englisch. Mit allen jungen Menschen und Kindern kann man sich also in Englisch unterhalten, und sie sind meist gar nicht scheu, wenn man sie anspricht. Das hat mir sehr geholfen, mich in Bhutan mehr zuhause zu fühlen. Auch die Liebenswürdigkeit unseres Reiseführers Sonam und unseres Busfahrers Ganesch haben dazu viel beigetragen.

Mit dem Wetter hatten wir Glück. Die durchnittliche Seehöhe von fast 3,000 m konnte ich recht gut vertragen. Wir fuhren durch herrliche Wälder (80% von Bhutan ist bewaldet), sassen an reißenden Flüssen, deren klares Wildwasser von den Himalayagletschern kommt, kletterten zu Klöstern hinauf, die wie Schwalbennester an Bergwänden kleben und träumten hochgebauschten Wolkensegeln nach. Immer wieder freute ich mich am heimischen Baustil. Nicht nur Klöster, Tempel und Burgen, sondern auch die Bauernhäuser sind bis in die kleinste Einzelheit mit Liebe gestaltet und drücken Selbstsicherheit und künstlerisches Feingefühl aus. Zum Glück stellt die allgemeingültige Bauordnung sicher, dass Neubauten sich gut dem traditionellen Stil einfügen; sogar in den Städten konnte ich das mit Freude feststellen. (Wie leicht wir doch Österreichs Schönheit so behüten könnten, wenn auch bei uns Kulturbewusstsein statt Gewinnsucht maßgebend wäre.)

Mönche sieht man überall in Bhutan. Die Hälfte jedes Regierungsgebäudes wird gewöhnlich von Beamten benützt, die andere Hälfte von Mönchen. Sie sind nicht butan 7 butan 8 butan 9wahlberechtigt, scheinen aber die öffentliche Meinung stark zu beeinflussen. Der Schulunterricht beginnt jeden Morgen mit Meditation. Klöster und Tempel sind voll von Menschen aller Altersstufen, die Niederwerfungen verrichten und Gebetsmühlen drehen. Die Niederwerfungen bei unseren vielen Tempelbesuchen wurden mir nach und nach beschwerlich, lohnten sich aber, da sie wirklich das Bewusstsein klären und (in mehr als einem Sinn) das Herz erwärmen. Das Drehen unzähliger Gebetsmühlen war mir eine reine Freude – schon der Gedanke an die Scharen andächtiger Menschen, die sie vor mir drehten seit Jahrhunderten. Auch an Pujas (Opfern) durften wir teilnehmen und Sakraltänze sehen. Eine ganz besonders festliche Tanzzeremonie fand gleich am Abend unserer Ankunft statt im Haupttempel der Hauptstatt Thimphu. Andere schöne Tänze sahen wir bei der Eröffnung des GNH Zentrums in Chokhor, dem Höhepunkt und Abschluß unserer Reise. Dieses neue Zentrum liegt hoch in einem Talschluß des Himalayas, von wo aus nur noch Bergpfade zur Grenze Tibets hinaufführen. Wir verbrachten dort die Nacht in einem Bauernhof und hörten, dass Leute aus dem Dorf jedes Jahr auf Pilgerfahrt gehen zur Höhle Milarepas in Tibet. Dabei müssen sie (illegal) die 6,000 m hohen Grenzpässe überschreiten. Im neuen GNH Zentrum werden Kurse und andere Veranstaltungen für Gruppen aus allen Teilen des Landes stattfinden. Es liegt nahe der geographischen Mitte Bhutans. Diese zentrale Lage ist natürlich praktisch, unterstreicht aber zugleich die Bedeutung des Grundrechts auf Glück und seiner Verwirklichung.

Also hoffentlich hab’ ich Euch in meiner Begeisterung jetzt nicht mehr erzählt, als Euch interessiert. Da es mir aber kaum mehr möglich ist E-mail zu beantworten, freut es mich, wenigstens manchmal so einen Bericht senden zu können. Diesem gebe ich viele herzliche Segenswünsche für Euch mit.

Euer Bruder David

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