Interview mit David Steindl-Rast OSB in EVOLVE 41 von Dr. Thomas Steininger

unserer_zeit_fehlt_der_titel.jpgCopyright © - Norbert Kopf

evolve: Viele Menschen haben heute das Gefühl, dass etwas zu Ende geht, dass unsere Zivilisation stirbt, und beschäftigen sich deshalb mit den Fragen von Ende und Tod. Wie können wir als Einzelne, als Gemeinschaft, als Gesellschaft eine Antwort finden, die der Ernsthaftigkeit unserer gegenwärtigen Krise gerecht wird? Und auch dem gerecht wird, dass der Tod ein Phänomen ist, das für uns alle sehr real ist und dem wir uns alle stellen müssen — auf persönlicher Ebene, auf kultureller Ebene, auf globaler Ebene?

David Steindl-Rast: Zunächst sollten wir klären, worüber wir genau sprechen. Sprechen wir über Leben und Sterben oder Leben und Tod? Das sind zwei verschiedene Fragestellungen. Der Tod ist das Gegenteil von Leben, Sterben ist ein Teil eines Prozesses, der Leben und Tod zusammenhält. Das Ende unseres Lebens ist nicht der Tod. Das Ende ist das Sterben.

Teilhabe am Unsterblichen

Kannst du mehr zu diesem Unterschied sagen?

Wenn Vögel ein Nest aus Lehm, Zweigen und Steinen bauen, dann sind die Vögel lebendig, die Steine sind tote Materie. Ein Briefkasten ist etwas Totes. Die Liebe im Menschen, die den Brief schreibt, der dort eingeworfen wird, ist etwas Lebendiges. Hier können wir also zwischen Leben und Tod unterscheiden.
Wenn wir aber davon sprechen, dass ein Mensch gestorben ist, dann ist er nicht tot, sondern verstorben. Das macht einen großen Unterschied, denn es beinhaltet eine Überzeugung, die nicht auf Wunschdenken, sondern auf klarem Denken basiert:
Unser Leben als Menschen kann nicht tot sein. Wir haben in uns Elemente, die offensichtlich in sich selbst tot sind. Wir enthalten Salze in unserem Körper, die tote Materie sind und ohne die wir nicht weiterleben können. Unser Körper besteht auch aus lebendiger Materie, die aus toten Elementen aufgebaut ist. Aber durch die lebendige Materie unseres Körpers kommen wir in ein Erleben von etwas Lebendigem, das über die biologischen Prozesse hinausgeht und unsterblich ist.
Menschen haben seit undenklichen Zeiten in dem Bewusstsein gelebt, dass ihr Leib sterblich ist, sie aber zugleich an der Unsterblichkeit teilhaben. Denn Erfahrungen wie Treue, Liebe und Verantwortung sind nicht sterblich, weil sie nicht materiell sind. Alles, was materiell ist, kann geteilt werden, und das heißt, es kann tot sein. Aber alles, was unteilbar und immateriell ist, unterliegt dem Tod nicht. Es macht keinen Sinn, in diesem Zusammenhang von Tod zu sprechen.
Hast du in deinem Leben etwas erlebt, was überhaupt nichts mit Tod zu tun hat? Zum Beispiel Liebe. Liebe ist ein sehr missverständliches Wort. Ich definiere Liebe als das bedingungslose Ja zur Zugehörigkeit. Hast du diese Art von Liebe erlebt?

Eine schwere Krankheit veranlasst mich gerade dazu, auch über das Sterben nachzudenken. Das ist natürlich eine Konfrontation mit dem Nichtwissen, mit der Begrenztheit des Lebens, und gleichzeitig ist darin auch eine Erfahrung von Unvergänglichkeit. Was mir am unmittelbarsten dazu einfällt, ist die Liebe zwischen meiner Partnerin und mir. Gerade wenn das Sterben eine realere Möglichkeit wird, wird die Liebe und Beziehung zu meiner Partnerin eigentlich intensiver. Sie wird in ihrer Unbedingtheit sichtbar.

Das ist wunderschön ausgedrückt. Und das ist die entscheidende Botschaft, wenn es um Leben und Sterben geht.

Vertrauen in das Leben     

Einerseits ist es eine persönliche Fragestellung, die ich existenziell gerade habe, aber andererseits machen wir auch kulturell gemeinsam die Erfahrung, dass wahrscheinlich etwas stirbt und wir nicht wissen, was bleibt. Und dieser Ungewissheit des kulturellen oder zivilisatorischen Sterbens müssen wir uns aussetzen, um zu verstehen, dass wir in einer Situation sind, die uns alle gemeinsam fordert.

Auf persönlicher Ebene sterben wir nicht nur einmal im Leben, es ist ein Prozess, den wir immer wieder vollziehen müssen. Je älter man wird, umso öfter ist man schon gestorben. Und das ist keine blumige Formulierung, sondern schmerzliche Wirklichkeit. Du bist sicher auch schon oft gestorben.

«Alles, was unteilbar und immateriell ist, unterliegt dem Tod nicht.»

Durch diese vielen Prozesse des Sterbens lernen wir etwas sehr Wichtiges, um eine richtige Haltung zum allgemeinen Sterben zu finden. Jedes Mal, wenn solch ein Sterben bevorsteht, sträuben wir uns dagegen. Wenn ich in meinem Leben mit dem Sterben konfrontiert bin, stoße ich zunächst auf einen Widerstand. Ich erfahre aber auch, dass ich diesen Widerstand lösen kann, indem ich dem Leben in mir vertraue — zu dem auch das Sterben gehört. Es hat sich unzählige Male in meinem Leben erwiesen, dass dieses Sterben zu einer Neugeburt führt. Erst sieht es aus, als ob es das Ende wäre. Wenn ich aber dem Leben vertraue und mitgehe mit diesem Prozess des Sterbens, dann habe ich immer wieder eine Neugeburt erlebt. Etwas ganz Neues ist entstanden, das besser und lebendiger war als das Alte.

Das Sterben ist also ein integraler Bestandteil des Lebens. Jeder von uns kennt die Sorge, die aufbricht, wenn man mit dem Sterben konfrontiert ist, egal ob das ein kleines oder ein großes Sterben ist. Die Angst des Nichtwissens ist ein Teil dieser Erfahrung. Aber wenn das Sterben in einem Vertrauen dem Leben gegenüber gehalten ist, bekommt das Sterben sogar seine eigene Kraft. Denn dadurch ist es möglich, dass neues Leben entstehen kann, und das, was enden musste, enden darf.

Wunderschön ausgedrückt. Deshalb können wir im Verhältnis zu unserem eigenen endgültigen Tod von den vielen kleinen Sterbeerlebnissen unseres Lebens lernen, dass immer wieder eine Neugeburt daraus wird. Darum dürfen wir hoffen. Das ist eine kräftige Hoffnung. Nicht nur ein Wunsch, sondern eine tiefe Überzeugung, dass mit dem eigenen Tod auch eine neue Geburt Hand in Hand geht. Denn so haben wir das ja immer wieder erlebt — auch wenn ich nicht weiß, wie diese Neugeburt aussehen könnte. Aber auch bei den kleineren Sterbeerlebnissen im Leben wussten wir nicht, was neuwerden kann.

«Unser Leben als Menschen kann nicht tot sein.»

Diese Erfahrung können wir auf die Sterbeprozesse übertragen, die wir um uns herum sehen. Daraus können wir Hoffnung schöpfen. In manchen Bereichen kann man noch darauf hoffen, dass etwas gerettet wird. Aber in anderen Bereichen sind wir schon zu weit über die Klippe gegangen, befinden uns im freien Fall, es lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Aber trotzdem dürfen wir hoffen, ohne dass wir uns vorstellen können, wie eine Neugeburt aussehen könnte. Aber die Hoffnung kommt aus der Erfahrung, dass in meinem Leben jedes Sterben zu einer Neugeburt geführt hat.

Die Schleusen öffnen

Eigentlich ist es das Leben selber, das uns zeigt, dass im Sterben immer auch ein Grund des Hoffens liegt. Vielleicht ist das ja genau das, was wir als spirituelle Kraft in unserer Zeit brauchen, in der wir nicht nur individuell angefragt sind, sondern die ganzen gesellschaftlichen Verunsicherungen, die wir gerade erleben, haben damit zu tun, dass wir individuell und gemeinsam in Panik verfallen. Deshalb ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass es Grund zur Hoffnung gibt.

Ja. Diese Hoffnung ist keine vage Hoffnung, sondern ein fester Grund, auf dem man stehen kann. Dort entsteht die Kraft, voranzugehen. Die wirkliche Kraft der Hoffnung müssen wir nicht in uns zusammenkratzen, sondern sie kommt aus der Kraft des Lebens. Hoffnung ist Vertrauen auf das Leben, das Öffnen der Schleusen des Lebens, damit die Kraft des Lebens durchfließen kann. Das ist die größte Kraft, die es überhaupt gibt.
Das Leben ist einerseits das biologische Leben, das im Laufe des Lebens auch immer wieder gestärkt wird. Das sieht man bei Menschen, die durch Krisen hindurchgehen, dadurch wird oft auch das biologische Leben gekräftigt. Aber das Leben umfasst für uns als Menschen zusätzlich zum Biologischen auch das Transzendente als etwas, das über Zeit und Raum hinausgeht. In unserem Sterben wird die Schleuse zu dieser Kraft geöffnet.

Es ist keine vage Hoffnung, sondern kommt aus unserer direkten Erfahrung des Lebens. Das heißt, wenn wir uns dem Leben wirklich stellen, dann öffnet sich auch die Vertrauenswürdigkeit des Lebens. Sich das zu vergegenwärtigen, ist unheimlich belebend.

Das ist die eigentliche Lebendigkeit — die einzige, die zählt.

Spiritualität ist Lebendigkeit

Wir müssen uns nicht an irgendwelchen anderen Überzeugungen orientieren, sondern können eigentlich unseren eigenen Erfahrungen vertrauen. Wenn wir uns diesen Erfahrungen stellen, können wir in der Krise dem Leben treu bleiben.

Letztlich sind wir ja von etwas immer nur dann überzeugt, wenn wir es auch aus eigener Erfahrung bejahen können: Auch wenn der Gedanke von jemand anderem stammt oder von außen an uns herangebracht wird, sind wir davon nur dann überzeugt, wenn wir es selber erfahren haben.

Und es ist auch überhaupt nicht notwendig, das spirituell zu nennen. Es ist einfach das Einlassen auf die existenzielle Wirklichkeit unseres Lebens, egal wie wir es verstehen wollen.

Da stimme ich dir völlig zu. Aber man kann es auch spirituell nennen, denn Spiritualität ist ja eigentlich dem Wortsinn nach schon Lebendigkeit. Spiritus ist der Lebensodem, der Atem. Spiritualität ist Lebendigkeit.

Wunderbar. Da schließt sich der Kreis.



Quelle: EVOLVE  Ausgabe 41 / 2024: Leben, Tod und Transformation

logo bibliothek

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.